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Lucia A. Reisch, 1964 in Stuttgart geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften in Hohenheim und schloss 1988 als Diplomökonomin ab. In Hohenheim promovierte sie 1994 summa cum laude. Nach Tätigkeiten in Stuttgart, Copenhagen oder Ludwigsburg ist sie seit 2011 ständige Gastprofessorin für Konsumforschung und
Verbraucherpolitik an der Zeppelin Universität. Ihre Forschungsschwerpunkte auf den Gebieten Verbraucherschutz, Nachhaltigkeit , Verhaltensökonomik und Gesundheitswissenschaften. Darüber hinaus ist sie unter anderem Vorsitzende des unabhängigen Sachverständigenrats für Verbraucherfragen, Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung und Chefredakteurin des Journal of Consumer Policy.
Wie ist der Begriff der Wegwerfgesellschaft entstanden?
Prof. Dr. Lucia Reisch: Es handelt sich um einen Begriff der Konsumsoziologie, der in den 1970er-Jahren aufkam. Er ist nicht klar definiert und kann nicht mit einem bestimmten Autoren oder einer bestimmten Autorin verbunden werden, bedeutet jedoch in einem kulturkritischen Sinne die Antithese zum sorgsamen Umgang mit Ressourcen, Langlebigkeit, Wiederverwendung und Sparsamkeit: Also Überfluss und Sorglosigkeit, Wegwerfmentalität, billige Produkte und schnelle Obsoleszenz statt Qualität, „fast“ statt „slow“.
Laut den Vereinten Nationen verdoppeln sich bis 2030 die globalen Mittelschichten, die sich durch einen ausgeprägten Konsumbedarf auszeichnet: Wie betrachten Sie diese Entwicklung?
Reisch: Angesichts der bereits jetzt überschrittenen planetarischen Grenzen und der empirischen Evidenz des Umweltverbrauches der globalen Mittelschichten – gemessen unter anderem im ökologischen Fußabdruck pro Einwohner –, ist dies aus ökologischer Sicht natürlich keine gute Nachricht. Schon heute tun wir so, als hätten wir die Ressourcen von knapp drei Planeten Erde zur Verfügung. Aus sozialer Sicht ist es jedoch ein Fortschritt: Denn je mehr Menschen – absolut gerechnet – aus prekären Verhältnissen in sozial sichere, auf Bildung ausgerichtete und gesündere gesellschaftliche Schichten aufsteigen, desto besser – und zwar nicht nur für Individuen, sondern auch für ganze Gesellschaften und sogar die Weltgemeinschaft, denn materieller Wohlstand bedeutet auch mehr Sicherheit und weniger Kriege.
Ob die Entwicklung am Ende ein Fluch oder ein Segen sein wird, wird auch davon abhängen, wie diese neuen globalen Mittelschichten ihren Konsum und Lebensstil gestalten, ob sie alle unsere Fehler wiederholen oder aber kluges „Leapfrogging“ betreiben und so gleich die nachhaltigeren Alternativen einführen und damit die Phase sorgloser Verschwendung überspringen. Zudem wird es darauf ankommen, wie der Wohlstand in den neuen Konsumgesellschaften verteilt sein wird, ob es sich um einen eher demokratischen oder oligarchischen Wohlstand handelt – und darauf, ob nachhaltiger Konsum als ernsthafte Politikgestaltungsaufgabe von den Regierungen weltweit auf die Agenda gesetzt und welche technologischen Lösungen es geben wird. All dies wird den Verbrauch an Ressourcen beeinflussen.
Während einerseits Recycling und Abfallvermeidung seit Jahrzehnten zentrale Umweltschutzthemen sind, treibt die Wegwerfkultur immer neue Blüten: Wie kann dieser unheilvollen Entwicklung Einhalt geboten werden?
Reisch: Da gibt es mehrere Ansatzpunkte: Erstens sollten die Preise die ökologische Wahrheit sagen. Dies bedeutet, dass Einwegprodukte – von Einmalgrills über Plastiktüten bis zu miesen Kugelschreibern – sowie kurzlebige Produkte wie „Fast Fashion“ einen entsprechenden Preis haben müssen. Interessanterweise reagieren Konsumenten besonders im Niedrigpreissektor stark auf relative Preise. Internalisierung externer Kosten wie Ressourcenverschwendung und Vermüllung ist dabei ein bewährtes umweltpolitisches Instrument. Gleichzeitig kann man das Reparieren oder länger (oder auch gemeinsam) Nutzen entsprechend steuerlich begünstigen. Zweitens kann mediale und schulische Aufklärung sowie Ächtung solcher Produkte soziale Normen– Was ist gut? Was ist uncool? Was tun die anderen? – verändern. Auch Wegwerfprodukte können sinnvoll sein, wenn sie gezielt in bestimmten Situationen eingesetzt werden. Häufig wird jedoch gar nicht über langlebigere Alternativen nachgedacht, weil man es so gewohnt ist, es alle machen oder man die anderen Optionen gar nicht kennt. Ein gutes Beispiel sind die to-go-Kaffeebecher – an der US-Ostküste oder in Kalifornien sollte man besser seinen eigenen Becher im Coffee Shop mit dabei haben, will man kein Stirnrunzeln ernten. Drittens kann man an der Regulierungsschraube drehen und beispielsweise die Produkthaftung bei vorzeitigem Verschleiß entsprechend kundenfreundlich gestalten.
In den Medien begegnen einem oft die drei Wörter „weniger, länger, schlauer“ des Vorsitzenden des World Materials Forum Philippe Varin: Was ist darunter zu verstehen?
Reisch: Dieser Dreiklang spiegelt die grundsätzlichen Optionen ressourcenleichten Konsums wieder: Weniger, aber dafür hochwertiger und klug eingesetzt, beispielsweise nutzen, teilen oder mieten statt zu besitzen, „access“ statt „ownership“. Dies reicht heute weit über die klassischen Güter wie Autos oder Rasenmäher hinaus. Bei uns in Kopenhagen gibt es beispielsweise „Kleiderbibliotheken“, und angesagte Fashion Designer entwerfen bewusst Mode, die mehrere Male secondhand verkauft werden kann (und soll). Damit die Qualität bei Mehrfach- und Wiedernutzung noch stimmt, muss das Produkt entsprechend langlebig, reparaturfreundlich und attraktiv gestaltet sein.
Sind derlei Botschaften bei der Industrie inzwischen angekommen bzw. überhaupt erwünscht?
Reisch: Absolut und in vielen Bereichen. Der neue Minimalismus im Design, der Trend zur Wertigkeit und zum Weiter- und gemeinsam Nutzen bei Konsumprodukten, aber auch neue Geschäftsmodelle wie das Teilauto als Part einer digital ermöglichten Intermedialität (siehe beispielsweise die neue „Mu“-Karte in Berlin, aber auch die Zukunftsstudien der Automobilindustrie CASE – connected, autonomous, shared, and electric) sind dafür Anzeichen. Dabei sind insbesondere Geschäftsmodelle interessant, die die Lust der Menschen am Neuen und der Veränderung bedienen und zugleich den Ressourcenverbrauch im Auge behalten. Denn Verschwendung ist letztlich ein Zeichen einer alten Konsumkultur, die es nicht besser wusste und der beispielsweise die Technologien und das Know-how fehlte, Kreisläufe zu schließen. Das ist nicht „smart“, sondern überholt.
Wobei auch das Prinzip „Billig & Ramsch“ immer seine Käufer finden wird. Gerade für Leute mit niedrigem Einkommen und hohen Bedarfen – etwa Großfamilien – sind höherwertige Produkte Investitionen, die schlicht nicht erschwinglich sind. Und auch für das gemeinsame Nutzen oder Teilen bedarf es funktionierender sozialer Netzwerke, die beispielsweise für Neubürger nicht selbstverständlich sind.
Welche Hoffnungen setzen Sie in innovative Technologien und neue Materialien?
Reisch: Eine sehr große Hoffnung. Die Produkt- und Prozessinnovationen, die beispielweise in der Bioökonomie entstehen, sind eindrucksvoll und haben ein enormes Nachhaltigkeitspotential. Stoffe aus Abfallprodukten – denen man dies aber nicht ansieht –, künstliche Photosynthese, die bioökonomische, klimaneutrale und digital vernetzte Stadt – dies sind nur Beispiele für die enormen Potentiale.
In der aktuellen politischen Diskussion spielen Entwicklungen wie die Energiewende oder die Elektromobilität eine gewichtige Rolle. Doch bei diesen Prozessen werden große Mengen an Rohstoffen wie Kobalt, Lithium, Nickel oder Kupfer gebraucht. Wie steht es also um deren Ökobilanz?
Reisch: Das ist im Moment ein echtes Problem. Hinzu kommt, dass nicht nur deren Ökobilanz problematisch, sondern vor allem die Gewinnung seltener Erden und anderer knapper Rohstoffe teilweise sozial und politisch brisant ist. Solange beispielsweise ein Elektroauto mit konventionellem Strom betankt wird, ist es ökologisch nicht besser als ein Verbrenner. Ich halte dies jedoch alles für lösbare, temporäre Übergangsprobleme einer großen Transformation und vertraue hier auf die Ingenieure, IT-Spezialisten und die Naturwissenschaften. Vielversprechend in diesem Sinne sind auch visionäre Unternehmen wie Tesla, die den Wettbewerb aufmischen. Zugleich ist es die Aufgabe einer klugen Industriepolitik, fördernde und fordernde Rahmenbedingungen zu schaffen – dazu gehört auch die Verantwortung für Nachhaltigkeitsstandards in der Lieferkette. So hat der in den USA unter Präsident Obama eingeführte „Dodd-Frank Act“ im Bereich Konfliktmineralien viel bewegt.
Viele Start-ups und bürgerschaftliche Aktivitäten zielen darauf ab, der Wegwerfgesellschaft etwas entgegen zu setzen. Doch wie kann die allgemeine Bevölkerung für das Thema Nachhaltigkeit sensibilisiert werden?
Reisch: Es ist ein langer Weg, ein paar eilen voraus, die meisten zockeln hinterher, wenige schlagen bewusst einen anderen Weg ein und viele bezweifeln bis heute, dass einen menschengemachten Klimawandel gibt. Eine gute Politik für nachhaltigeren Konsum hat viele Facetten und umfasst sowohl Bildung und Information, Förderung attraktiver, nachhaltiger und erschwinglicher Produkte, eine konsequent nachhaltige öffentliche Beschaffung, das Abschaffen kontraproduktiver Subventionen, Steuererleichterungen für ressourcenleichte, energieeffiziente Produkte und Dienstleistungen, aber auch kluge Gesetze wie eine Nachhaltigkeitsdesignrichtlinie und sicherlich auch ein paar Verbote. Wichtig wäre, dass die Infrastruktur beispielsweise einer Stadt qua Design automatisch zu nachhaltigen Verhaltensweisen einlädt – denn der Aufforderungscharakter einer Konsum- und Lebenssituation spielt eine große Rolle für die individuellen Konsumentscheidungen. In den 1960er- und 1970er-Jahren hat man autogerechte Städte gebaut, heute krempelt man Städte um, damit sie fahrradfreundlich und lebenswerter werden, auch „human scale“-Urbanität genannt. In meiner Wahlheimat Kopenhagen wurden in den vergangenen fünf Jahren systematisch die Straßen verengt und die Fahrradwege aufs Doppelte verbreitert. Wer Straßen säht, erntet Verkehr, wer Radwege baut und aktiver Mobilität systematisch den Vorrang einräumt, bekommt eine lebenswerte Stadt.
Welche konkreten Maßnahmen setzen Sie persönlich im Alltag um?
Reisch: In den meisten Bereichen konsumiere ich sehr bewusst und recht konsequent nachhaltig – wie man das ganz einfach machen kann, zeigt zum Beispiel „Der Nachhaltige Warenkorb“ des Rats für Nachhaltige Entwicklung, an dem ich seit vielen Jahren mitarbeite. Mein ökologischer Fußabdruck ist dennoch indiskutabel groß, bedingt durch meine vielen Reisen meistens im Flugzeug. Auch wenn ich versuche, Termine zu bündeln und nie „zum Spaß“ – also in der Freizeit – zu fliegen, ist dies der Umwelt natürlich egal. Da hilft auch das Kompensieren von CO2 bei „atmosfair“ nicht wirklich weiter.
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