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Seit 2009 leitete Prof. Dr. Marcel Tyrell das Buchanan Institut für Unternehmer- und Finanzwissenschaften an der Zeppelin Universität. Vorher lehrte er unter anderem an der Universität Frankfurt, der University of Pennsylvania und der European Business School. Schwerpunktmäßig forscht er zu Veränderungen von Finanzsystemstrukturen, mikro- und makroökonomischen Auswirkungen von Finanzkrisen und der Verschuldungsdynamik von Volkswirtschaften. 2017 übernahm er den Lehrstuhl Banking and Finance an der Universität Witten/Herdecke und blieb der Zeppelin Universität als Gastprofessor für Economics of Financial Institutions erhalten.
Blicken wir zunächst zurück: Was waren die wesentlichen Auslöser für die im Jahre 2007 ausgebrochene Finanzkrise?
Prof. Dr. Marcel Tyrell: Hier kann man unterscheiden zwischen direkten und indirekten Auslösern: Als direkter Auslöser können das Platzen der Immobilienblase auf breiter Front in den USA und die damit zusammenhängenden Wertverluste auf Wertpapiere, die in irgendeiner Form mit den eben genannten Immobilien abgesichert waren. Indirekt haben die Verfassung und Struktur des Finanzsektors dann diese negativen Effekte verstärkt. Manche Beobachter nannten das ganz treffend „Brandbeschleuniger“, und diese Brandbeschleuniger waren vielfältiger Natur: Dazu gehörten die hohe Verschuldung vieler globaler Institutionen im Finanzsektor, die Art ihrer Refinanzierung, die Struktur der internationalen Kapitalströme, politische Maßnahmen in den USA im Vorfeld der Krise zur Verbreiterung des Immobilienbesitzes, die Strukturierung der mit Immobilien abgesicherten Wertpapiere, die immens hohe internationale Nachfrage nach in Dollar denominierten Wertpapieren mit vermeintlich hoher Qualität, Fehlanreize setzende und teilweise nicht vorhandene Regulierungen im Finanzsektor, um nur einige zu nennen.
Warum gilt der Untergang der Investmentbank Lehman Brothers ein Jahr später als Höhepunkt der Finanzkrise?
Tyrell: Lehman Brothers war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es gab ja schon vorher Probleme mit einigen, nicht ganz so bedeutenden Finanzinstitutionen wie Bear Stearns. Dort gab es immer wieder Rettungsmaßnahmen, die zur Übernahme dieser Institutionen durch andere Marktteilnehmer führten. Mit Lehman Brothers war das anders: Hier wurde eine Institution bewusst nicht gerettet – und danach brachen fast alle Dämme, weil man dies in der Finanzbranche letztlich nicht erwartet hatte.
Der US-amerikanische Ökonom Gary Gorton sagt: „Finanzkrisen sind Runs auf kurzfristige Schulden.“ Was ist damit gemeint?
Tyrell: Was Gary Gorton damit meint, ist die extrem hohe Fristentransformation, die im Finanzsektor damals vorherrschte. Banken und auch andere Finanzinstitutionen hatten ihre Refinanzierung von langfristigen Engagements – zum Beispiel im Immobilienmarkt – sehr kurzfristig strukturiert. Damit konnten sie die relativ niedrigen Zinsen auf kurzfristige Wertpapiere oder Wertpapierbeleihungen gewinnbringend nutzen und an der Zinsmarge, die sich aus einer preiswerten Refinanzierung und relativ hohen Zinsen auf vermeintlich sicheren Anlagen speist, gutes Geld verdienen. Das geht natürlich nur so lange gut, wie diese Art der Refinanzierung funktioniert.
In der Krise wurde aber kein kurzfristiges Geld mehr ausgeliehen, und wenn doch, dann nur gegen hohe Zinsen beziehungsweise Gebühren, da sich die Finanzinstitutionen gegenseitig nicht mehr vertrauen konnten. Keiner wusste, ob die betreffenden Finanzinstitutionen nicht am nächsten Tag ebenfalls in ernsthaften Schwierigkeiten stecken. Jeder versuchte also, Geld aus diesen kurzfristigen Finanzierungen abzuziehen – mit desaströsen Folgen für den Gesamtmarkt. Dies ist mit „Runs auf kurzfristige Schulden“ gemeint. Das ist so, wie wenn jemand im vollbesetzten Kino „Feuer“ schreit und dann eine Panik ausbrecht, bei der jeder zu einem Ausgang stürmt, der dann aber blockiert ist.
Wie erklärt sich der internationale Charakter der Krise?
Tyrell: International wurde die Krise auch deshalb, weil viele international tätige Finanzinstitutionen in diesen Finanzierungsstrukturen involviert waren. Damit konnte sich die Krise schnell gerade in Europa ausbreiten. Zudem waren insbesondere die betroffenen europäischen Finanzinstitutionen hoch verschuldet, was wiederum zu den Rettungsaktionen geführt hat.
Wieso waren führende Ökonomen damals nicht in der Lage, die Finanzkrise vorauszusehen?
Tyrell: Es gab schon einige Ökonomen – wie Raghuram Rajan von der Chicago Business School, der kurz zuvor noch Chefökonom des International Währungsfonds war –, die auf den Aufbau gefährlicher Strukturen im Finanzsektor hinwiesen und vor einer Finanzkrise warnten. Aber viele Ökonomen haben sich ähnlich wie die Top-Manager der Finanzinstitutionen in falscher Sicherheit gewähnt. Man glaubte, dass, falls es zu einer Krise bei einzelnen Institutionen kommt, man diese schon schnell in den Griff bekommt. Es fehlte einfach das Wissen, wie die Risikostrukturen zwischen den Finanzinstitutionen genau verfasst sind.
Wer hätte schon gedacht, dass einen Tag nach Lehman Brothers das damals weltweit zu den größten Versicherungsunternehmen zählende AIG gerettet werden musste, weil es der größte Player auf dem Markt für Ausfallabsicherungen von Institutionen, die mit Immobilien unterlegte Wertpapiere verkauft haben, war. Zur Ehrenrettung der Ökonomen kann man aber auch konstatieren, dass die Finanzinstitutionen fast alles getan haben, um diese Risikostrukturen zu verschleiern.
Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um die Finanzkrise und die darauffolgende Rezession zu bekämpfen und die Finanzbranche zu stabilisieren?
Tyrell: Zuerst einmal hat man versucht, den Finanzsektor zu stabilisieren. Rettungspakete wurden geknüpft, teilweise wurden Banken verstaatlicht. Man hat versucht, die sogenannten toxischen, mit Immobilien unterlegten Wertpapiere aus den Bilanzen der Banken zu entfernen, indem man Bad Banks gegründet hat, die diese Wertpapiere aufnehmen sollten. Mittelfristig hat man die Banken durch strengere Kapitalregulierungen etwas stärker mit Eigenkapital ausgestattet. Auch bestimmte Geschäftsaktivitäten der Banken, die als risikoreich angesehen wurden, sollten durch Regulierungen unattraktiv gemacht werden oder gegebenenfalls verboten werden. Das hat jedoch nur einigermaßen funktioniert. Das Ziel all dieser Maßnahmen war, die Banken zu stabilisieren und damit eine ausreichende Kreditversorgung der Wirtschaft zu gewährleisten. Man hat aber schnell gemerkt, dass dies nicht langt und dann zu geldpolitischen Maßnahmen gegriffen, die immer stärker in der Dosis wurden. Die Zinspolitik geriet schnell an eine Grenze, was dazu führte, dass auf unorthodoxe quantitative Instrumente zurückgegriffen werden musste. All dies sollte die Stabilisierung des Finanzsystems bewirken und die negativen Auswirkungen sowie die Länge der Rezession eingrenzen. Umgekehrt haben aber auch viele Staaten durch eine wenig restriktive Fiskalpolitik versucht, positive Impulse in die Realwirtschaft zu senden.
Was ist das Erbe dieser Geld- und Finanzpolitik?
Tyrell: Das Erbe sind gesamtwirtschaftlich sehr niedrige Zinsen – gerade in Europa – und eine hohe Verschuldung vieler Staaten. Nach vielen Jahren der Stagnation der Wirtschaft auf gesamteuropäischer Ebene läuft es wieder einigermaßen, wenn man den Konjunkturprognosen glauben kann. Aber die Unterschiede zwischen den Ländern besonders in Europa hat zugenommen. Deutschland hat die Rezession relativ schnell überwunden und auch den Staatsschuldenstand jetzt wieder auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts reduziert, aber einige andere kleine und große Länder wie Griechenland oder auch Italien sind wirtschaftlich abgehängt worden. Dies hängt natürlich nicht nur mit der ursprünglichen Finanzkrise von vor zehn Jahren zusammen, sondern auch mit der Eurokrise, die drei bis vier Jahre später einsetzte und ihr Übriges dazu getan hat. Zudem haben diese Länder ohnehin schon langanhaltende tiefgreifende strukturelle Probleme, die durch die Krise noch verstärkt und zum Vorschein kamen.
Welche Folgen hat die Nachkrisenpolitik für die Banken bis heute?
Tyrell: Die Banken leiden unter der Geldpolitik. Sicherlich hat auch die Regulierungsdichte zugenommen, aber die schon langanhaltende Niedrigzinspolitik hat die Ertragsmöglichkeiten der Banken fundamental verringert. Dies trifft insbesondere die Finanzinstitutionen, die klassisches Bankengeschäft, Einlagenentgegennahme und Kreditvergabe betreiben. Auch Spezialinstitute wie Bausparkassen – etwa in Deutschland – und Versicherungen haben mit der Zinspolitik zu kämpfen. Niedrige Erträge können aber die Risiken im Bankensektor wieder erhöhen, denn sie können zu Fehlanreizen in der Risikoübernahme führen, um Ertragschancen zu steigern. Zudem sind viele Banken in Europa – große wie kleine – immer noch nicht gut aufgestellt. Ein hohes Volumen von notleidenden Krediten in der Bilanz und immer noch nicht ausreichende Eigenkapitalquoten sind hier zusätzliche Risikofaktoren. Eine Reihe von Banken hat zusätzlich hausgemachte Probleme. An der gesamteuropäisch schlechten Verfassung des Bankensektors ist eben nicht nur und vielleicht auch noch nicht mal entscheidend die Nachkrisenpolitik Schuld, sondern die Banken selbst haben sich nicht an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst.
In letzter Zeit erheben sich unter den Ökonomen immer mehr Stimmen, die eine Begrenzung nationaler Staatsanleihen in den Bankbilanzen fordern: Was ist darunter zu verstehen und für wie sinnvoll halten Sie diese Forderung?
Tyrell: Ich halte die Forderung für sehr sinnvoll. Es gibt für Banken momentan einen hohen Anreiz, Staatsanleihen – nationale wie internationale – in ihrer Bilanz zu halten. Sie müssen im Unterschied zu vielen anderen Aktiva regulatorisch nicht mit Eigenkapital unterlegt sein, weil sie als wenig risikogefährdet gelten. Dies macht diese Anlagen sehr attraktiv – denn die Eigenkapitalunterlegung gilt für die Banken als begrenzender Faktor – und damit ist umgangssprachlich Eigenkapital freigesetzt, welches dann als Unterlegung für andere Aktivitäten der Banken genutzt werden kann. Ich halte diese Entwicklung für gefährlich. Denn insbesondere große, international tätige Banken haben nun Anreize, in Staatsanleihen zu investieren, die jeweiligen Zinsen auf diese Anleihen, die auch Risikoprämien der jeweiligen Staaten reflektieren, mitzunehmen und damit ihre Bilanzen aufzublähen. Zudem können sie darauf spekulieren, dass sie gerettet werden, wenn die Staaten in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Hier entsteht ein Risikoverbund von Staaten und Banken, der eingeschränkt werden muss. Ansonsten mach sich die Politik gerade in Europa unglaubwürdig.
Wie wahrscheinlich ist der Ausbruch einer neuen Finanzkrise desselben Ausmaßes?
Tyrell: Das ist schwer zu beantworten. Es wird immer wieder Finanzkrisen geben. Insgesamt sind die Risikostrukturen vielleicht etwas gesunken, aber Ansteckungseffekte sind weiterhin gegeben, sodass die Wahrscheinlichkeit sicherlich nicht bei null liegt. Aktuell erkenne ich große ökonomische Risiken, die sich aus der wirtschaftlichen Situation in einigen südeuropäischen Ländern wie Italien aber auch noch Griechenland ergeben. Auch die hohe Dollarverschuldung vieler Unternehmen aus dem asiatischen Raum bereitet mir Sorgen. Eine neue Finanzkrise globalen Ausmaßes ist jedenfalls nicht ausgeschlossen.
Welche Rolle könnte dabei die seit Jahren zu beobachtende politische Radikalisierung spielen?
Tyrell: Die politische Radikalisierung kann diese negativen Entwicklungen beschleunigen. Wenn wir eines aus der Finanzkrise gelernt haben sollten, dann dies: dass nationale Maßnahmen zur Bekämpfung nicht ausreichen. Dazu sind die Wirtschafts- und Finanzsysteme heutzutage viel zu vernetzt. Ein zunehmender Nationalismus wirkt also kontraproduktiv. Abschottung – wirtschaftlich, politisch und finanziell – kann nicht die Lösung sein. Sie würde uns nur unglaublich viel Wohlstand kosten, den wir vielleicht nur gerechter verteilen müssten. Das bedeutet nicht einfach Umverteilung. Wir müssen den Bürgern insgesamt mehr Chancen geben, am Wohlstand zu partizipieren und Eigeninitiative zu entwickeln.
Titelbild:
| David Shankbone / David Shankbone (CC BY-SA 3.0) | Link
Bilder im Text:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm