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Carmen Tanner ist Inhaberin des Lehrstuhls für Wirtschaftspsychologie und Führungsethik am Leadership Excellence Institute Zeppelin | LEIZ an der Zeppelin Universität. Sie ist zudem Professorin für Wirtschaftspsychologie am Department of Banking and Finance an der Universität Zürich und Leiterin des Centers for Responsibility in Finance. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind unter anderem Behavioral Business Ethics, Personal Integrity, Compliance und Integrity Management, Organisationskultur & Leaderhship, Digital Ethics.
Bei einer Professorin für Wirtschaftspsychologie und Führungsethik denkt man nicht unbedingt an eine leidenschaftliche „Zockerin“. Spielen Sie eigentlich Computer- und Videospiele?
Prof. Dr. Carmen Tanner: Nein, eigentlich spiele ich selbst ganz selten Computer- und Videospiele. Lust und Interesse hätte ich schon, vor vielen Jahren habe ich ganz gerne das eine oder andere Krimi- oder Detektivspiel gespielt – das hat großen Spaß gemacht. Aber heutzutage fehlt mir dafür schlicht die Zeit.
Trotzdem: Jetzt haben Sie ein Videospiel mitentwickelt, das integres Verhalten in Unternehmen stärken soll. Bei Videogames denken viele an Autorennen oder Ballerspiele. Warum ist das offenbar ein falsches Vorurteil?
Tanner: In der Tat dominieren auf dem Markt Spiele, die in erster Linie unterhalten sollen. Aber dann hat man entdeckt, dass man Computer- und Videospiele auch für pädagogische Zwecke einsetzen kann – um Informationen oder Bildung zu vermitteln oder individuelle Fähigkeiten zu trainieren. Vor einigen Jahren etablierte sich für solche digitalen Lernspiele der Begriff „Serious Games“. Solche Spiele sollen nicht nur unterhalten, sondern ein Üben von Kompetenzen in realitätsnahen Kontexten durch wiederholte Erfahrungen und Rückmeldungen ermöglichen.
Wir selbst haben ein „Serious Moral Game“ entwickelt, bei dem es um die Vermittlung und Förderung von alltagsnahen moralischen Kompetenzen geht. Es verfolgt das Ziel, neben der Erfüllung unternehmerischer Aufgaben auch integres, werteorientiertes Verhalten von Führungskräften und Mitarbeitenden zu stärken.
Worum geht es genau in „uFin: The Challenge“?
Tanner: In unserem Spiel geht es um eine Schlüsselkompetenz von persönlicher Integrität – nämlich die Förderung moralischer Sensitivität im Business- und Finanzkontext. Es geht darum, das Sensorium für potenzielle Regel- und Wertverletzungen, das Bewusstsein für „blinde Flecken“ in der eigenen Wahrnehmung sowie das Verständnis für die Bedürfnisse und Interessen anderer zu schärfen.
Inhaltlich dreht sich das Spiel um ein interplanetares Bankensystem. Die erste Szene beginnt im Mutterunternehmen auf der Erde. Sie als Akteur oder Akteurin in diesem Spiel nehmen die Rolle eines/einer Organisationsentwickler/in ein. Ihre Anstellung steht auf der Kippe, Sie erhalten aber die Gelegenheit, sich nochmals zu beweisen. Dazu müssen Sie eine Tochterfiliale auf dem Planeten Keppler besuchen, denn verschiedene Beschwerden sind dem Mutterkonzern zugetragen worden. Sie sollen dort nach dem Rechten sehen und dem Mutterkonzern auf der Erde möglichst bald Bescheid geben, was genau los ist. In der Filiale angekommen, bestimmen Sie selbst, welche Räume und Firmenmitglieder Sie aufsuchen, welche Fragen Sie stellen und welche Antworten Sie geben wollen. Was Sie jedoch nicht wissen: In der Filiale werden illegale und unethische Aktivitäten praktiziert. Die Herausforderung ist: Finden Sie es heraus? Wie in der Realität liegen fragwürdige Verhaltensweisen nicht auf dem Serviertablett vor.
Warum setzen Unternehmen das Spiel ein und was genau können Mitarbeitende damit lernen?
Tanner: Unternehmen stehen heute in der Regel vor der Herausforderung, neben unternehmensspezifischen Aufgaben auch die Einhaltung von Ethikkodizes zu gewährleisten und eine wertebasierte Unternehmenskultur zu stärken. Das Spiel eignet sich für Unternehmen, welche daran interessiert sind, integres, werteorientiertes Verhalten von Führungskräften und Mitarbeitenden zu stärken.
Integres Verhalten im Berufsalltag setzt wahrnehmungs-, motivationale, entscheidungs- und handlungsbezogene psychologische Kompetenzen voraus. Oft liegt der erste Schritt in der Wahrnehmung, das heißt in der Fähigkeit überhaupt zu realisieren, dass die eigenen Tätigkeiten oder die anderer im Widerspruch zu den Unternehmenswerten stehen, dass Schaden für das Unternehmen, die Gesellschaft oder die Umwelt resultieren könnte. Wird kein Widerspruch erkannt, so liegt aus Sicht der betroffenen Person auch kein Problem vor. Unerwünschtes Fehlverhalten kann die Folge sein.
In unserem Spiel geht es um die Förderung ebendieser Wahrnehmung. Wir planen Weiterentwicklungen des Spiels, welche auch die weiteren Komponenten persönlicher Integrität fördern sollen.
Es gibt in vielen Unternehmen bereits unzählige Compliance-Maßnahmen – Kodizes, Workshops, Schulungen. Warum wird der Stellenwert solcher Maßnahmen immer größer? Und was funktioniert mit ihrem Videospiel besser als mit bisherigen Maßnahmen?
Tanner: In der Tat, Unternehmen unternehmen viel, um die Einhaltung von Regeln und Werten zu gewährleisten. Zu den dominanten Strategien gehören Schulungen, Regulierungen und Investitionen in Compliance. Auch wenn ein gewisses Maß an Kontrolle sicher wichtig ist, belegen Studien, dass Kontrolle und Überwachung eine Reihe von unerwünschten Nebenwirkungen mit sich bringen können wie der Verlust an Eigendenken und Eigenverantwortung, Unzufriedenheit, Frustration und Demotivation am Arbeitsplatz. Es erscheint deshalb wichtig, neben regelbasierten Strategien auch auf die Stärkung individueller, selbstregulatorischer Kompetenzen zu setzen, die integres, werteorientiertes Verhalten von Führungskräften und Mitarbeitenden überhaupt erst ermöglichen. „Serious Moral Games“ bieten dazu eine Chance.
Digitale Lernspiele, wie das unsrige, haben gegenüber traditionellen Maßnahmen und Schulungen einige fundamentale Vorteile: Sie erlauben ein Training durch wiederholte Erfahrungen und Rückmeldungen. Das ist für das Lernen von Fähigkeiten enorm wichtig, denn für das Erlernen jeder Kompetenz gilt: Es setzt Üben voraus. Im Spiel lassen sich reale Businesssituationen sowie typische Merkmale des Arbeitsalltags, wie Leistungs- oder Zeitdruck, simulieren, das heißt es wird in alltagsnahen Kontexten geübt. Und ganz wichtig: Im Spiel darf man Fehler machen und aus Fehlern lernen. Es besteht kein Risiko, wie in der Realität, realen Schaden anzurichten.
Sie haben die Wirkung des Spiels auch empirisch überprüft. Wie sind sie dabei vorgegangen und was waren die Ergebnisse?
Tanner: Im Rahmen eines Forschungsprojektes haben wir zuerst ein Instrument zur Messung der moralischen Sensitivität entwickelt und ausführlich getestet. Daraufhin wurde eine umfangreiche experimentelle Studie mit 345 Studierenden verschiedener Fachdisziplinen durchgeführt. Gruppe 1 spielte zweimal „uFin: The Challenge“, während Gruppe 2 ein anderes Spiel zweimal spielte. Einige Zeit vor und nach dem Spielen wurde die moralische Sensitivität aller Teilnehmenden mit dem soeben erwähnten Instrument gemessen. Ein Vergleich zwischen den beiden Gruppen ergab, dass „uFin: The Challenge“ das Sensorium für Regel- und Wertverletzungen tatsächlich verbesserte. Es gibt aber sicher noch Luft nach oben. Um die Wirksamkeit des digitalen Lernspiels weiter zu verbessern und ein Transfer in den Berufsalltag zu unterstützen, empfehlen wir, das Spiel mit weiteren Lehrmethoden, zum Beispiel Nachbesprechungen, und Sozialformen, etwa das Spiel in Gruppen zu spielen, zu kombinieren.
Wenn sogenannte „Serious Moral Games“ fürs Erlernen von integrem Verhalten eine Lösung sein können, wo wäre ihr Einsatz dann noch denkbar?
Tanner: Das Spiel ist zum einen in Unternehmen wiederholt einsetzbar. Wie erwähnt, ist es ratsam, das Spiel mit Nachbesprechungen und Feedbackgesprächen zu kombinieren. Solche abschließenden Gespräche bieten auch die Möglichkeit zu einer Vertiefung und einem breiten Meinungs- und Erfahrungsaustausch. Zum anderen kann das Spiel jedoch auch in der akademischen und nicht-akademischen Aus- und Weiterbildung eingesetzt werden. Wir setzen das Spiel bislang an der Zeppelin Universität, der Universität Zürich und in EMBA-Programmen ein. Wir hoffen, den Einsatz des digitalen Lernspiels in der Aus- und Weiterbildung noch weiter ausbauen zu können.
Zum Abschluss eine ganz praktische Frage: Kann das Spiel eigentlich jeder einfach ausprobieren?
Tanner: Im Prinzip ja. Das Spiel ist derzeit auf einem Tablet spielbar. Bei Interesse kann man sich bei mir melden. Geplant ist, vom Spiel auch eine web-basierte Version zu erstellen, sobald wir dazu die finanziellen Ressourcen haben.
Titelbild:
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Bild im Text:
| Universität Zürich / zVg (alle Rechte vorbehalten) | Link
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm