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Nur eine Illusion
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Effektive Schulsteuerung

Nur eine Illusion?

Interview: Sebastian Paul | Redaktion
12.10.2021
Unsere Aufgabe ist nicht im sozialtechnologischen Sinn das Herausfinden effektiver Schulsteuerung, sondern die soziologische Aufklärung darüber, wie und warum sich ein bestimmtes Steuerungsparadigma weltweit verbreitet hat und wie weit es sich bei der Leistungssteigerung und Verringerung von Leistungsdifferenzen in der Bildung bewährt oder gar als eine Illusion erweist.

Prof. Dr. Richard Münch
Seniorprofessur für Gesellschaftstheorie und komparative Makrosoziologie
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Richard Münch

    Richard Münch, Jahrgang 1945, studierte von 1965 bis 1970 Soziologie, Philosophie und Psychologie an der Universität Heidelberg und erwarb dort 1969 den Grad des Magister Artium und 1971 den Grad des Dr. phil. Die Habilitation für das Fachgebiet Soziologie erfolgte 1972 an der Universität Augsburg, wo er von 1970 bis 1974 am Lehrstuhl für Soziologie und Kommunikationswissenschaft als wissenschaftlicher Assistent beschäftigt war. Von 1974 bis 1976 lehrte er als Professor für Soziologie an der Universität zu Köln, von 1976 bis 1995 an der Universität Düsseldorf, von 1995 bis 2013 an der Universität Bamberg, wo er 2013 zum Emeritus of Excellence ernannt wurde.

    Seit 2015 ist er Seniorprofessor für Gesellschaftstheorie und komparative Makrosoziologie an der Zeppelin Universität. Er war mehrfach als Gastprofessor an der University of California in Los Angeles tätig und gehörte zur Herausgeberschaft des American Journal of Sociology, der Annual Review of Social Theory, von Sociological Theory, Zeitschrift für Soziologie und Soziologische Revue. Von 2002 bis 2012 war er Sprecher des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten interdisziplinären Graduiertenkollegs „Märkte und Sozialräume in Europa“ an der Universität Bamberg. Er war Mitglied und zuletzt Vorsitzender des Fachbeirats am Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

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Vor Jahren sorgten die PISA-Studienergebnisse in Deutschland für einen Aufschrei. Seitdem haben sich die durchschnittlichen Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler wenig verändert, doch die Bildungspanik ist verschwunden. Wie steht es um Deutschlands Bildungsniveau?

Prof. Dr. Reinhard Münch: Zunächst muss man feststellen, dass der seit 2000 alle drei Jahre von der OECD durchgeführte internationale Vergleich von Bildungsleistungen namens PISA nur Basiskompetenzen fünfzehnjähriger Schülerinnen und Schüler im Leseverständnis der Landessprache, in Mathematik und Naturwissenschaften misst. Das ist schon einmal ein sehr eingeschränkter Blick auf das Leistungsvermögen eines Bildungssystems, von dem sich nicht direkt ableiten lässt, wie sich die in der Schule vermittelte Bildung insgesamt darstellt. Beispielsweise sehen wir nicht, wie breit ausgefächert und tiefgehend die Bildungsvermittlung in einem Land stattfindet. Hier kann durchaus gesagt werden, dass das Bildungsangebot in Deutschland, insbesondere im Gymnasium, breiter ausdifferenziert ist als in vielen anderen unmittelbar konkurrierenden Ländern.


Bei der Rezeption der alle drei Jahre berichteten PISA-Ergebnisse wird leider nicht registriert, dass die festgestellten Unterschiede im Vergleich zu vergangenen Messzeitpunkten und zu anderen Ländern über weite Strecken statistisch nicht signifikant sind. Es wird auch nicht beachtet, dass der Prozentsatz der Schülerinnen und Schüler, die am PISA-Test teilnehmen, so stark variiert, dass schon allein dadurch Unterschiede im erreichten Leistungsniveau zu erklären sind. So fällt das immer gut abschneidende Kanada mit einer ungewöhnlich niedrigen Beteiligungsquote von zum Beispiel nur 83,5 Prozent im Jahr 2015 auf, während es in diesem Testjahr in Deutschland 96,1 Prozent waren.


Ernsthaft über „Verbesserungen“ oder „Verschlechterungen“ von ein paar PISA-Punkten zu debattieren, ist schlicht Nonsens. Genauso großer Nonsens ist die beliebte Rückbeziehung der erzielten Punktwerte auf irgendwelche politischen Maßnahmen. Ein solcher Zusammenhang lässt sich wissenschaftlich fundiert nicht nachweisen. Die politisch-medialen PISA-Debatten finden insofern in der Regel in einem Wolkenkuckucksheim statt.


Mit Ausnahme des ersten Testjahres bewegen sich die Testergebnisse der deutschen Schülerinnen und Schüler ohne wirklich signifikante Unterschiede im Bereich des oberen Mittelfeldes – und dies genauso wie diejenigen der unmittelbaren westlichen Konkurrenten in Wissenschaft, Technologie und Wirtschaft. Eine Besonderheit bilden allein die ostasiatischen Länder beziehungsweise in China ausschließlich die Metropolregionen an der Spitze der PISA-Tabelle, die aber – abgesehen vom Sonderfall Singapur – im globalen Kreativitätsindex unterhalb der wissenschaftlich und technologisch führenden westlichen Länder rangieren, woraus geschlossen werden kann, dass der Rang im PISA-Test nicht direkt aussagekräftig in Bezug auf die generelle Leistungsfähigkeit eines Landes ist.

Schule in Pandemiezeiten? Das hat die Vergleichbarkeit und Steuerung der weltweiten Schulsysteme ordentlich durcheinander gebracht. Auch in Deutschland. Im März 2020 wurde im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie in allen Bundesländern der reguläre Schulbetrieb eingestellt. Für die Studie „Kontinuität und Wandel der Schule in Krisenzeiten“ wurden im Sommer und Frühherbst 2020 zunächst rund 800 Schulleiterinnen und Schulleiter von Grund- und Sekundarschulen in sieben Bundesländern zum Unterricht in Zeiten der Corona-Pandemie und zu ihren Erfahrungen und Lösungsansätzen in der Praxis befragt. Die Kommunikation während der Schulschließung im Frühjahr 2020 – sowohl innerhalb des Kollegiums als auch mit der Elternschaft und den Schülerinnen und Schülern – hat nach Einschätzung der Befragten weitgehend reibungslos funktioniert. Knapp 40 Prozent der Schulleiterinnen und Schulleiter geben an, dass alle Schülerinnen und Schüler erreicht wurden, knapp die Hälfte der Befragten gibt an, dass 90 Prozent erreicht werden konnten. Nur 3,6 Prozent der Schulleitungen berichten, dass weniger als 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler erreicht werden konnten. Die Angaben der befragten Schulleiterinnen und Schulleiter können optimistisch stimmen, weisen aber auch Probleme aus. So schätzt rund die Hälfte der Befragten, dass die Mehrzahl der Eltern ihre Kinder beim häuslichen Lernen am digitalen Gerät unterstützen können. Auf der anderen Seite aber geben fast zwei Drittel an, dass nach ihrem Eindruck bis zu 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler zuhause nicht über die nötige digitale Ausrüstung für das Distanzlernen verfügen. Vor allem Schülerinnen und Schüler aus ohnehin benachteiligten Familien sind nach Einschätzung der Schulleitungen davon betroffen.
Schule in Pandemiezeiten? Das hat die Vergleichbarkeit und Steuerung der weltweiten Schulsysteme ordentlich durcheinander gebracht. Auch in Deutschland. Im März 2020 wurde im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie in allen Bundesländern der reguläre Schulbetrieb eingestellt. Für die Studie „Kontinuität und Wandel der Schule in Krisenzeiten“ wurden im Sommer und Frühherbst 2020 zunächst rund 800 Schulleiterinnen und Schulleiter von Grund- und Sekundarschulen in sieben Bundesländern zum Unterricht in Zeiten der Corona-Pandemie und zu ihren Erfahrungen und Lösungsansätzen in der Praxis befragt. Die Kommunikation während der Schulschließung im Frühjahr 2020 – sowohl innerhalb des Kollegiums als auch mit der Elternschaft und den Schülerinnen und Schülern – hat nach Einschätzung der Befragten weitgehend reibungslos funktioniert. Knapp 40 Prozent der Schulleiterinnen und Schulleiter geben an, dass alle Schülerinnen und Schüler erreicht wurden, knapp die Hälfte der Befragten gibt an, dass 90 Prozent erreicht werden konnten. Nur 3,6 Prozent der Schulleitungen berichten, dass weniger als 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler erreicht werden konnten. Die Angaben der befragten Schulleiterinnen und Schulleiter können optimistisch stimmen, weisen aber auch Probleme aus. So schätzt rund die Hälfte der Befragten, dass die Mehrzahl der Eltern ihre Kinder beim häuslichen Lernen am digitalen Gerät unterstützen können. Auf der anderen Seite aber geben fast zwei Drittel an, dass nach ihrem Eindruck bis zu 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler zuhause nicht über die nötige digitale Ausrüstung für das Distanzlernen verfügen. Vor allem Schülerinnen und Schüler aus ohnehin benachteiligten Familien sind nach Einschätzung der Schulleitungen davon betroffen.

Auch das Schulsystem hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten kaum verändert. Sie nennen es „bürokratisch-professionell“, andere nennen es starr und veraltet. Wie würden Sie Deutschlands Schulsystem als Wissenschaftler beschreiben?

Münch: „Bürokratisch-professionell“ heißt, dass wir in Deutschland im internationalen Vergleich einerseits eine umfassend ausgebaute Kultusbürokratie und eine hohe Professionalität der Lehrerschaft – basierend auf einer umfangreichen und tiefgehenden akademischen Bildung – haben. Das ist im internationalen Vergleich keine Selbstverständlichkeit. In der Kultusbürokratie sind außerdem viele ehemalige Lehrkräfte beschäftigt. In diesem Sinne beherrscht ein „pädagogisches Establishment“ den Schulbetrieb. Bürokratie und Professionalität sorgen im Zusammenspiel für ein einerseits hohes Maß der bürokratischen Berechenbarkeit des Schulbetriebs, andererseits für einen Unterricht, der hohe professionelle Standards erfüllt. Was immer daran kritikwürdig sein mag – und das ist gewiss der Fall –, ist im internationalen Vergleich ein hoher Standard.


Jetzt wollen Sie untersuchen, wie Schulen effektiv gesteuert werden können. Was bedeutet „Schulsteuerung“ eigentlich genau?


Münch: So ist unsere Forschungsfrage nicht zu verstehen. Man muss „effektive Schulsteuerung“ tatsächlich in Anführungszeichen setzen. Wir untersuchen, was Experten unter „effektiver Schulsteuerung“ verstehen und was sie sich davon versprechen und Politikern empfehlen. Unser spezieller Untersuchungsgegenstand ist ein Steuerungsparadigma, das weltweit zur Vorherrschaft gelangt ist und von dem Experten behaupten, dass es „effektiv“ sei und an das sich Politiker angesichts des Legitimitätsverlustes bloßer Traditionen festklammern, damit sie überhaupt etwas in der Hand haben, um Verantwortung für die Leistungsfähigkeit von Schulsystemen übernehmen zu können.


Unsere Aufgabe ist nicht im sozialtechnologischen Sinn das Herausfinden effektiver Schulsteuerung, sondern die soziologische Aufklärung darüber, wie und warum sich ein bestimmtes Steuerungsparadigma weltweit verbreitet hat, welche Steuerungsinstrumente es charakterisieren, wie diese in ausgewählten Ländern mit einer je eigenen Bildungs- und Schultradition auf ihrem jeweiligen Entwicklungspfad implementiert werden und welche intendierten und nicht-intendierten Effekte auf Schule, Unterricht, Leistungsniveau, Ungleichheit der Leistungen und Einfluss der sozialen Herkunft auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler sich dabei ergeben. Wir begreifen Soziologie nicht als Sozialtechnologie, sondern als Reflexionswissenschaft.


Im Kontext der internationalen Leistungsvergleiche wie PISA und im Kielwasser einer weltweiten Umstellung öffentlicher Institutionen auf das mit betriebswirtschaftlichen Instrumenten arbeitende New Public Management (NPM) hat sich ein sogenanntes Global Education Reform Movement (GERM) herausgebildet, das erwartet, dass eine verbesserte Steuerung des Schulsystems und der einzelnen Schulen zu einer Verbesserung der durchschnittlichen Schülerleistungen und einer Verringerung des Einflusses der sozialen Herkunft auf die Leistungen führt. Dabei haben sich die folgenden Instrumente als maßgeblich herausgeschält: 

  1. Freie Schulwahl und Portfolio-Schuldistrikte mit unterschiedlichen Bildungsangeboten
  2. intensivierter Wettbewerb zwischen in die Autonomie entlassenen Schulen auf einem Bildungsmarkt von herkömmlichen öffentlichen Schulen und privat gemanagten, aber öffentlich finanzierten sogenannten Charter Schools
  3. starkes Schulmanagement im Sinne einer betriebswirtschaftlichen Unternehmensführung, die regelmäßig in die Organisation des Unterrichts eingreift, um die Leistungen zu verbessern
  4. strikte Selektion der Lehrkräfte auf Basis einer professionellen Ausbildung, 
  5. regelmäßige Evaluation des Managements und der Lehrkräfte mit direkten Konsequenzen für deren Entlohnung und weitere Beschäftigung
  6. regelmäßige landesweite Lernstandserhebungen mit Konsequenzen für das Management, die Lehrerschaft und den weiteren Bestand oder die Schließung der Schulen.

Die Elemente dieses Steuerungsparadigmas und dessen Implementation in den Vereinigten Staaten haben wir in einem ebenso von der DFG geförderten Vorgängerprojekt untersucht. In dem neuen Projekt stehen gezielt die Effekte dieses Steuerungsparadigmas auf das Leistungsniveau und auf den Einfluss der sozialen Herkunft auf die Schülerleistungen in fünf weiteren Ländern mit einer je eigenen Bildungs- und Schultradition im Vordergrund.

Wie genau wollen Sie in Ihrem Forschungsprojekt vorgehen?

Münch: Wir wollen überprüfen, wie weit die vom GERM favorisierten Instrumente der Schulsteuerung im Zeitverlauf eines Landes und im Vergleich zwischen Ländern die intendierten Effekte der Steigerung der Leistungen und der Verringerung des Einflusses der sozialen Herkunft auf die Schülerleistungen ausüben. Weil das nicht anders geht, müssen wir – bei aller schon genannten Beschränkung der Aussagekraft – zu diesem Zweck auf Datensätze internationaler Bildungsvergleiche zurückgreifen. Wir arbeiten mit dem PISA-Datensatz der OECD und untersuchen fünf Länder im Zeitverlauf von 2000 bis 2018.


Welche fünf Länder wollen Sie sich anschauen – und können Sie deutlich machen, wie sich die Schulsysteme jeweils unterscheiden?

Münch: Wir haben fünf Länder ausgewählt, die jeweils einem spezifischen Bildungsregime mit einer eigenen Tradition zugeordnet werden können und die alle auf ihrem eigenen Entwicklungspfad Elemente von NPM im Allgemeinen und GERM im Besonderen umgesetzt haben:


  • Großbritannien steht für ein Bildungsregime, das eine Pionierrolle innehat, indem es die genannten Steuerungsinstrumente von NPM und GERM schon seit Anfang der 1980er-Jahre eingesetzt hat.
  • Schweden und Finnland repräsentieren die sozialdemokratische Tradition eines stark staatlich kontrollierten egalitären Bildungssystems, das besonderen Wert auf gleiche und hohe Bildungsqualität in einem Gesamtschulsystem legt. Schweden hat aber seit Anfang der 1990er-Jahre viele Elemente von GERM implementiert und hat unter anderem privat gemanagte, aber öffentlich finanzierte Schulen zugelassen, die in Konkurrenz zu den herkömmlichen öffentlichen Schulen getreten sind. Finnland hat Ende der 1990er-Jahre auch Reformen der Dezentralisierung und der freien Schul- und Curriculumwahl durchgeführt, ist aber nicht so weit in die Richtung der Schaffung von Bildungsmärkten wie Schweden gegangen.
  • Deutschland hat auf den PISA-Schock von 2000 in der ihm eigenen bürokratisch-professionellen Tradition mit der Einrichtung eines umfassenden bundesweiten Systems des Monitorings mit regelmäßigen Lernstandserhebungen in den zentralen Fächern Deutsch, Englisch, Französisch, Mathematik, Physik, Chemie und Biologie unter der Ägide des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) reagiert.
  • Südkorea gehört der Gruppe der ostasiatischen Länder an, die ein im konfuzianischen Bildungs- und Prüfungswesen verwurzeltes Schulsystem haben. Die Schülerinnen und Schüler dort sind immer schon gewohnt, unablässig im Prüfungsmodus zu lernen, was sie zwangsläufig für Spitzenplätze in hochstandardisierten internationalen Leistungstests prädestiniert. Diese Art des Lernens ist kulturell so tief in den Familien verwurzelt, dass Schülerinnen und Schüler aus Ostasien in jedem Land der Welt die besten Testleistungen erbringen, unabhängig davon, welche Art der Schulsteuerung praktiziert wird.


Welche Rolle spielt Deutschlands föderales Bildungssystem, wenn es um effektive Schulsteuerung geht? Wäre es aus Ihrer Sicht sinnvoll, den Bildungsföderalismus zu überwinden?

Münch: Neben der schon genannten bürokratisch-professionellen Schulsteuerung kennzeichnen zwei weitere Spezifika das deutsche Schulsystem. Das sind der Föderalismus und die Gliederung in verschiedene Schulzweige. Nicht nur im Interesse einer zentralen Steuerung, sondern auch im Interesse einheitlicher Standards bei der Abiturprüfung und wegen der Bedeutung der Abiturnoten bei der Zulassung zu Studiengängen wird gern für einen Abbau des Föderalismus und ein Zentralabitur plädiert. Das ist aber sehr kurzsichtig, weil dabei das im Föderalismus steckende Potential an Vielfalt und Wettbewerb nicht ausreichend gewürdigt wird. Was Zentralismus im Schulwesen bedeutet, können wir unmittelbar an unserem Nachbarn Frankreich beobachten. Er schränkt massiv die Vielfalt ein und hilft nicht im Geringsten, bei internationalen Leistungsvergleichen besser abzuschneiden – und das, obwohl auch dort der Prüfungsmodus das Lernen beherrscht.


Das gegliederte Schulsystem trägt in der Tat dazu bei, dass der Abstand zwischen der Spitze und den leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern und der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Leistungen in Deutschland besonders groß sind. Das liegt aber auch daran, dass die Spitzenleistungen nicht weit entfernt sind von der internationalen, von den ostasiatischen Schulsystemen besetzten Spitze. Es gibt auch genügend Gesamtschulsysteme, bei denen ebenso ein großer Einfluss der sozialen Herkunft auf die Schülerleistungen zu beobachten ist. Das gilt inzwischen sogar verstärkt für die egalitären skandinavischen Schulsysteme. Das heißt die Umstellung auf ein einheitliches Gesamtschulsystem in Deutschland muss nicht zwangsläufig den Einfluss der sozialen Herkunft auf die Schülerleistungen reduzieren. Die globale Tendenz zur Einrichtung von Bildungsmärkten sortiert die Schulen und ihre Schülerinnen und Schüler auch ohne formelle Gliederung automatisch nach sozialer Herkunft und Leistungsniveau.

Auch 20 Jahre nach dem PISA-Schock gilt: Die soziale Spaltung bleibt die offene Wunde unseres Bildungssystems. Eine aktuelle Studie aus dem September 2021, die der Bildungsforscher Klaus Klemm für den DGB erarbeitet hat, zeigt: In fast keinem anderen Land hängt Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft ab. Und die Corona-Krise verschärft die Entwicklung noch zusätzlich. Unter 31 OECD-Staaten, die 2000 an der PISA-Untersuchung teilnahmen, belegte Deutschland mit Platz 31 den letzten Platz. Fast 20 Jahre danach, 2018, hat sich die Situation immer noch nicht verbessert: Deutschland gehört immer noch zu den Schlusslichtern und rangiert unter den inzwischen 36 OECD-Staaten, die in diesem Jahr an der PISA-Untersuchung teilnahmen, auf Platz 33. Insgesamt bietet sich so für den Bereich der Grundschule das Bild einer Stagnation, teils aber auch das einer tendenziellen Verschärfung sozialer Ungleichheit in der Mathematik und beim Lesen. Lediglich bei den zuletzt genannten Naturwissenschaften ist zwischen 2007 und 2019 eine leichtere Abschwächung der sozialen Disparität zu beobachten. 2001 lag die Chance eines Grundschulkindes der vierten Jahrgangsstufe, aus der „service class“ (einer Zusammenfassung der EGP-Klassen I und II) seitens seiner Lehrkraft eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, um 4,18 mal höher als die eines Kindes aus der „working class“ (einer Zusammenfassung der EGP-Klassen V bis VII). Bei Kontrolle der kognitiven Fähigkeiten und der Lesekompetenz war die Chance für eine gymnasiale Empfehlung immer noch 2,63 mal höher für Kinder aus den sozial starken Familien im Vergleich zu denen aus sozial schwächeren Familien. Dieser Indikator sozialer Benachteiligung auch bei gleich guten Schulleistungen hat sich zwischen 2001 und 2016 kontinuierlich verstärkt: von 2,63 auf 3,37.
Auch 20 Jahre nach dem PISA-Schock gilt: Die soziale Spaltung bleibt die offene Wunde unseres Bildungssystems. Eine aktuelle Studie aus dem September 2021, die der Bildungsforscher Klaus Klemm für den DGB erarbeitet hat, zeigt: In fast keinem anderen Land hängt Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft ab. Und die Corona-Krise verschärft die Entwicklung noch zusätzlich. Unter 31 OECD-Staaten, die 2000 an der PISA-Untersuchung teilnahmen, belegte Deutschland mit Platz 31 den letzten Platz. Fast 20 Jahre danach, 2018, hat sich die Situation immer noch nicht verbessert: Deutschland gehört immer noch zu den Schlusslichtern und rangiert unter den inzwischen 36 OECD-Staaten, die in diesem Jahr an der PISA-Untersuchung teilnahmen, auf Platz 33. Insgesamt bietet sich so für den Bereich der Grundschule das Bild einer Stagnation, teils aber auch das einer tendenziellen Verschärfung sozialer Ungleichheit in der Mathematik und beim Lesen. Lediglich bei den zuletzt genannten Naturwissenschaften ist zwischen 2007 und 2019 eine leichtere Abschwächung der sozialen Disparität zu beobachten. 2001 lag die Chance eines Grundschulkindes der vierten Jahrgangsstufe, aus der „service class“ (einer Zusammenfassung der EGP-Klassen I und II) seitens seiner Lehrkraft eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, um 4,18 mal höher als die eines Kindes aus der „working class“ (einer Zusammenfassung der EGP-Klassen V bis VII). Bei Kontrolle der kognitiven Fähigkeiten und der Lesekompetenz war die Chance für eine gymnasiale Empfehlung immer noch 2,63 mal höher für Kinder aus den sozial starken Familien im Vergleich zu denen aus sozial schwächeren Familien. Dieser Indikator sozialer Benachteiligung auch bei gleich guten Schulleistungen hat sich zwischen 2001 und 2016 kontinuierlich verstärkt: von 2,63 auf 3,37.

Welche Alternativen zur aktuellen Schulsteuerung gibt es?

Münch: Auf Basis des Forschungsstandes und unserer Vorarbeiten können wir Folgendes feststellen: Grundsätzlich gilt, dass in der ganzen Welt strukturelle Faktoren wie das Bruttoinlandsprodukt, die Bildungsausgaben, das Ausmaß der Ungleichheit der Haushaltseinkommen, der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund mit einem bildungsfernen Elternhaus und kulturelle Faktoren wie der Wert, den Bildung hat, und das Maß der Schuldisziplin die ganz überragenden Faktoren sind, die darüber entscheiden, wie hoch die durchschnittlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler in einem Land sind und in welchem Maße die soziale Herkunft über die Schülerleistungen entscheidet. Instrumente der Schulsteuerung, so auch die Instrumente von GERM, richten dagegen nur sehr wenig bis überhaupt nichts aus.


Schule ist ein hochkomplexes System: Jeder soll, unabhängig von Herkunft, Geld und Elternhaus, die Chance bekommen, sich bis zum Akademiker zu bilden. Wie stellen wir Chancengleichheit sicher, wenn wir unsere aktuellen Methoden der Schulsteuerung ändern würden?

Münch: Aktuelle, die vergangenen 50 Jahre abdeckende Langzeitstudien sagen uns, dass in dieser Hinsicht weltweit trotz größter Anstrengungen nicht viel erreicht wurde. Die Beteiligung an der höheren Bildung einschließlich Hochschulbildung hat zwar überall enorm zugenommen, trotzdem ist in derselben Zeit die Ungleichheit der Haushaltseinkommen nahezu überall gewachsen und der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungsleistungen ebenso. Dazu kommt noch, dass die erzielten Einkommen nicht nur zwischen den Bildungsklassen, sondern gerade auch in der höheren Bildungsklasse selbst weiter auseinandergedriftet sind als jemals zuvor. Das heißt die Inflation der Bildungstitel hat eine zunehmende Ungleichheit der sogenannten Bildungsrenditen zur Folge gehabt. Die Bildungstitel führen in Abhängigkeit vom Prestige der Hochschule und weiteren, den Habitus prägenden Faktoren zu ungleichen Erträgen in Gestalt des erzielten Einkommens. Ein Hochschulabschluss garantiert längst nicht mehr ein hohes und gesichertes Einkommen.


An welchen Hebeln jenseits der Schulsteuerung könnten wir noch ansetzen, um unser Bildungsniveau zu verbessern?

Münch: Unsere Forschungsfrage ist nicht darauf angelegt, dass wir die wirklich effektive Schulsteuerung benennen wollen. Vielmehr geht es darum, kritisch zu prüfen, ob die in GERM gesetzten Hoffnungen auch realisiert wurden. Was dabei nach drei Jahren Projektlaufzeit am Ende herauskommen wird, können wir jetzt noch nicht wissen, da wir gerade erst mit dem Projekt beginnen. Das Ergebnis kann auch von Land zu Land unterschiedlich sein. Wir können dazu nur vorläufige Vermutungen auf der Basis unserer Vorstudien äußern. Diese unter Vorbehalt stehenden Vermutungen sagen uns Folgendes: Nach den obigen Feststellungen zur vorrangigen Wirkung struktureller und kultureller Faktoren auf die Bildungsleistungen ist es möglicherweise eine Illusion, von GERM allein zu erwarten, dass die Wirkung dieser Faktoren entscheidend unterbunden wird, wenn nicht zusätzliche sozialpolitische Maßnahmen die Ungleichheit der familiären Lernbedingungen reduzieren. Das könnte heißen, dass durch Bildungspolitik allein nicht die Ungleichheiten ausgeglichen werden können, die durch den global entfesselten Marktwettbewerb und die mangelnde Korrektur dieser Effekte durch Lohn-, Sozial-, Familien- und Regionalpolitik erzeugt werden. Wer also soziale Ungleichheit in engeren Grenzen halten möchte als es gegenwärtig gegeben ist, muss sich vermutlich mehr einfallen lassen als nur auf das Steuerungsparadigma von GERM zu setzen.


Wir zielen damit nicht auf Bildungspolitik und Schulsteuerung im engeren Sinn, sondern auf Gesellschaftspolitik im weiteren Sinn, die Lohn-, Sozial-, Familien- und Regionalpolitik miteinschließt. Das liegt daran, dass wir soziologische Aufklärung und nicht Schulpädagogik betreiben. Hier geht es um die Aufklärung darüber, wie weit sich ein weltweit herrschendes Paradigma der Schulsteuerung bei genauerer Prüfung tatsächlich so bewährt wie beansprucht wird. Wenn es sich nicht bewähren sollte, dann wäre das für Politiker und Administratoren, die an etwas glauben müssen, um handeln zu können, eine Enttäuschung. Aber unser Projekt wird ja nicht vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert, sondern von der für Grundlagenforschung dieser Art zuständigen Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Titelbild: 
| Kelli Tungay / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

| Mira Kireeva / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link

Feliphe Schiarolli / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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