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Carmen Tanner ist Inhaberin des Lehrstuhls für Wirtschaftspsychologie und Führungsethik am Leadership Excellence Institute Zeppelin | LEIZ an der Zeppelin Universität. Sie ist zudem Professorin für Wirtschaftspsychologie am Department of Banking and Finance an der Universität Zürich und Leiterin des Centers for Responsibility in Finance. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind unter anderem Behavioral Business Ethics, Personal Integrity, Compliance und Integrity Management, Organisationskultur & Leaderhship, Digital Ethics.
Stellen Sie sich ein Spiel vor, in dem Sie als Ermittler herausfinden müssen, warum eine Tochtergesellschaft einer Bank finanziell nicht vorankommt. Um die Probleme zu lösen – müssen sie folgenschwere und manchmal fragwürdige Entscheidungen treffen. Mit „uFin: The Challenge“ hat ein Forscherteam um ZU-Professorin Carmen Tanner genau so ein Spiel entwickelt – mit einem ernsten Ziel.
Warum lügen Menschen im Job, Frau Tanner?
Prof. Dr. Carmen Tanner: In der Praxis werden oft Wettbewerbsdruck und ungünstige Anreizstrukturen als Ursachen für die Genese von Lügen wie Betrügen, Täuschen, Bilanzen manipulieren oder Bestechung in Unternehmen herangezogen. Auch wenn diese Faktoren zweifellos eine Rolle spielen, sind es sehr viel mehr Faktoren, die das Schummeln begünstigen. Darunter fallen auch individuelle Faktoren wie egoistische Motive (wie Gier oder das Bedürfnis nach Status), soziale Faktoren (wie Gruppennormen, die Lügen sozial billigen) oder auch andere unternehmensbezogene Merkmale (wie zu hohe, aggressive Leistungsziele). Um nur einige Beispiele zu bringen.
Welche Folgen kann Unehrlichkeit bei der Arbeit im Extremfall haben – nicht für den Mitarbeitenden selbst, sondern für das Unternehmen oder, wie im Falle der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008, für die gesamte Gesellschaft?
Tanner: Wenn allgemein illegale oder unethische Praktiken von Unternehmen aufgedeckt werden, können daraus für das Unternehmen enorme Kosten entstehen wie Gerichtsprozesse, Aktienwert- und Arbeitsplatzverluste. Im Falle des amerikanischen Energiekonzerns Enron beispielsweise, der eine der größten Unternehmenspleiten darstellt, verloren sehr viele Angestellte ihren Job und ihre Betriebsrenten wurden auf einen Schlag vernichtet. Oder denken wir an den VW-Abgasskandal. Die Folgen dieses Skandals werden den Automobilhersteller vermutlich noch lange beschäftigen. So laufen bis heute immer noch zahlreiche Klagen gegen den Konzern.
Aber nicht zu vergessen ist auch der Imageschaden und Vertrauensverlust, der durch die Aufdeckung von fragwürdigen Geschäftspraktiken entstehen kann. Gerade dieser Vertrauensverlust bereitet mir Sorgen, denn er gefährdet längerfristig den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Darauf bauen zu können, dass mein Gegenüber mich nicht über den Tisch zieht, reduziert nicht nur Transaktionskosten, sondern ist allgemein ganz wichtig für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von effizienten Kooperationen und stabilen Institutionen.
Leider wird meines Erachtens zu wenig von den zahlreichen Unternehmen gesprochen, die korrekt und ethisch vorbildlich agieren. Tatsächlich sind die meisten Firmen ehrlich. Aber in den Medien wird halt in erster Linie über die „schwarzen Schafe“ berichtet. Das vermittelt den um Redlichkeit und Ehrlichkeit bemühten Menschen den Eindruck, dass sie die „Dummen“ sind, wenn sie sich an ethische Standards halten – und das begünstigt eine Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhaltes.
Wie sind Unternehmen bisher vorgegangen, um unehrliches Verhalten von Mitarbeitenden „abzustellen“?
Tanner: Naja, es ist immer noch zu beobachten, dass in erster Linie auf „Sündenböcke“ fokussiert wird, das heißt auf einzelne Mitarbeitende. Diese werden dann oft freigestellt und durch andere Personen ersetzt. Solche Maßnahmen greifen aber viel zu kurz. Sie kratzen nur an der Oberfläche und thematisieren unzureichend, warum es zu diesem Verhalten überhaupt kommen konnte.
Sie setzen nun auf das Gegenteil und wollen untersuchen, wie ehrliches Verhalten mit positiven Instrumenten gefördert werden kann. Wie kann das funktionieren?
Tanner: Tatsächlich unterscheiden wir uns in unserem Forschungsprojekt von anderen Projekten darin, dass wir uns weniger für die Ursachen von Unehrlichkeit interessieren als vielmehr mit der Frage: Was können wir beitragen, um Ehrlichkeit aktiv zu fördern? Dazu gibt es bislang kaum empirische Forschung.
Welche unterschiedlichen Ansätze von positiven Instrumenten gibt es?
Tanner: Lob, finanzielle Anreize oder Mitarbeitervergünstigungen sind Beispiele von positiven Instrumenten, aber ich denke – wie bereits oben angedeutet – diese Strategien werden ebenfalls zu kurz greifen. Diese Maßnahmen setzen an unternehmensbezogenen, strukturellen Bedingungen an. Worauf wir aber konkret setzen wollen, ist die Förderung von Eigenverantwortung und selbstregulatorischen Fähigkeiten. Mit anderen Worten: Es geht uns darum, individuelle Kompetenzen zu unterstützen und zu trainieren. Wir hatten in der Vergangenheit schon ein Forschungsprojekt, in welchem wir erfolgreich versucht haben, anhand eines Videospiels alltagsnahe ethische Kompetenzen spielerisch zu üben. Das aktuelle Projekt wird ebenfalls daran ansetzen.
Können positive Instrumente bei jedem Mitarbeitenden gleichermaßen wirken – oder gibt es Menschen, die von sich aus „durchtriebener“ sind?
Tanner: Das ist eine gute Frage. Es gibt mittlerweile in der Tat in der empirischen Forschung viele spannende Hinweise, dass die Maßnahmen, die ein Unternehmen ergreift und durchführt, unterschiedliche Effekte auf Personen haben. Programme, die etwa auf Kontrolle, Monitoring und Bestrafung setzen, um Fehlverhalten zu minimieren, sind nicht bei allen Menschen gleichermaßen wirksam. Gerade bei Menschen, die sich an Regeln und ethische Prinzipien halten, können solche Maßnahmen auf Unverständnis stoßen und sogar Bumerang-Effekte auslösen. Es ist ebenso plausibel davon auszugehen, dass auch positive Instrumente nicht überall gleich wirken. Meines Wissens gibt es dazu aber noch nicht viel Forschung.
Um „Selbstregulierung“ anzustoßen, wollen Sie der Idee nachgehen, dass sich Menschen mit einfachen, aber smarten Fragen konfrontieren. Können Sie das anhand eines Beispiels erklären?
Tanner: Uns geht es in unserem Forschungsprojekt darum, Führungs- und Fachkräfte in ihrer Entscheidungsfähigkeit zu unterstützen. Dies schließt auch die Berücksichtigung von ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen von Entscheidungen mit ein. Angesichts der Komplexität und dynamischen Entwicklung in der Wirtschaft ist es oft nicht einfach, „richtig“ zu entscheiden beziehungsweise vor einem ethischen, rechtlichen und sozialen Hintergrund zu eruieren, was das Angemessene wäre. In unserem Projekt knüpfen wir an die aktuellere Entscheidungsforschung an, die gezeigt hat, dass zum „besseren“ Entscheiden nicht komplizierte Entscheidungsregeln notwendig sind: Simple Heuristiken – bestehend aus einfachen, aber smarten Fragen – können ausreichen, „richtiges“ Entscheiden zu unterstützen.
Interessanterweise haben verschiedene Unternehmen diese Idee auch schon aufgegriffen und Kataloge von Reflexionsfragen entworfen, die den Mitarbeitenden als Entscheidungshilfe zur Verfügung stehen sollen. Zwei klassische Fragen sind beispielsweise die Spiegelfrage („Würde ich die Person mögen, die ich im Spiegel sehe, nachdem ich diese Entscheidung getroffen habe?“) oder die Pressefrage („Wäre es Ihnen recht, wenn diese Entscheidung in der Lokalzeitung veröffentlicht würde?“). Zentrale Fragen bleiben hier aber unbeantwortet, die wir in unserem Projekt angehen werden: Welche sind denn überhaupt die wichtigsten Fragen? Und bewirken diese Fragen auch, was sie bewirken sollen? Das heißt sind sie auch wirksam?
Welche Ziele wollen Sie mit ihrem Forschungsprojekt erreichen – und wie werden Sie dabei methodisch vorgehen?
Tanner: Das allgemeine Ziel unseres Forschungsprojektes ist es, eine Strategie zu entwickeln und zu erproben, die Menschen in Organisationen helfen, kompetente und verantwortungsvolle Entscheidungen zu fällen. In einem ersten Schritt wollen wir anhand von Interviews gemeinsam mit Praktikern relevante ethische Konfliktsituationen im Businesskontext identifizieren. In einem zweiten Schritt soll anhand experimenteller Designs die Relevanz von verschiedenen Reflexionsfragen untersucht werden. Schließlich soll es darum gehen, in Kooperation mit Unternehmen in einer Interventionsstudie und anhand eines zu entwickelnden gamebasierten Tools den Umgang mit den wichtigsten Reflexionsfragen zu üben.
Was können Unternehmen ganz praktisch aus Ihrer Forschung ableiten?
Tanner: Wir wissen aus der Praxis und der Forschung, dass sich Mitarbeitende im Berufsalltag oft als verunsichert und entscheidungsunfähig betrachten. Dies wird oft als belastend empfunden und kann mit Angst und Frustration einhergehen, ja bis zu Burnout führen. Mit anderen Worten: Es fehlt an Vertrauen in die eigene Fähigkeit, schwierige Entscheidungssituationen zu meistern. In der Fachsprache heißt dies: Es mangelt an positiven Selbstwirksamkeitserwartungen. Andere Mitarbeitende wiederum überschätzen ihr eigenes Wissen und Urteilsvermögen (sie sind „overconfident“), während sie gleichzeitig „blind“ sind für wichtige Aspekte wie ethische Risiken oder Reputationsrisiken. Unser Forschungsprojekt soll die Entscheidungsfähigkeit von Führungs- und Fachkräften unterstützen, das Bewusstsein für „blinde Flecken“ erhöhen und nicht zuletzt auch zu einer Steigerung von Selbstwirksamkeit, Zufriedenheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz beitragen.
Titelbild:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm