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Gabos Moment in der Weltliteratur
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Gegenwartsliteratur

Gabos Moment in der Weltliteratur

von Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht | Zeppelin Universität
10.06.2014
Gabriel García Márquez wurde zum schönen und lebendigen Paradox eines fortgesetzten literarischen Naturereignisses.

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessor für Literaturwissenschaften
 
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    Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.  

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Auf Photographien aus dem Wochen kurz von seinem Tod am 17. April diesen Jahres sieht Gabriel Garcia Márquez aus wie ein unglaublich jung gebliebener, freundlicher Patriarch, und erst jetzt beginnt klar zu werden, wie sehr er zu jenen Figuren gehörte, an deren Tod sich schwer glauben lässt, wenn man sie gekannt oder gelesen hat, weil sie eine Quelle des Lebens waren. Dazu passte und passt der Name „Gabo“, den die Freunde aus seinem Leben und aus seinen Lektüren so gerne benutzen. Kein anderer Autor unserer Gegenwart hat sich derart lebendig an Orte, Zeiten und Menschen erinnert, die es nie gegeben hat, und deshalb wird mir beim Blick auf seine letzten Photos die Vorstellung schwer, dass die Alzheimersche Krankheit Gabos Vorstellungskraft ausgehöhlt und seine Augen, die noch zu funkeln schienen, ganz von der Welt abgetrennt hatte.

Gabriel Garcia Márquez nur Wochen vor seinem Tod am 17. April 2014.
Gabriel Garcia Márquez nur Wochen vor seinem Tod am 17. April 2014.

Viele der wahrhaft großen Schriftsteller, vielleicht alle von ihnen, sind uns als Autoren eines einzigen Buchs präsent, und wenn sie mehr als dieses eine Buch geschrieben haben, dann liegt das nicht unbedingt an der geringeren Qualität ihrer anderen Bücher. Es hat damit zu tun, dass das eine Buch eine jeweils besondere Situation, eine Einstellung, eine Sehnsucht für immer verändert oder gar erfunden hat, so dass man sich „nach“ ihm und mit allen weiteren Büchern, die Literatur und auch die Wirklichkeit von „vorher“ nicht mehr vorstellen kann. Gabos Buch und Gabos Moment war „Hundert Jahre Einsamkeit“, das 1967 in Argentinien erschien, aber erst mit der spanischen Ausgabe von 1969 zum Welterfolg wurde.

Das Exemplar von „Hundert Jahre Einsamkeit“, das ich bis heute immer wieder zu Seminaren mitnehme und in dem ich den Roman nun schon vier Mal Seite für Seite gelesen habe (was mir sonst eher wenig liegt) stammt aus der 1969 in Barcelona gedruckten Ausgabe. Es war das scheue Geschenk einer schönen spanischen Kommilitonin an der Universidad de Salamanca, die ich später geheiratet habe. So wunderbar („maravilloso“, ich kann mich noch gut erinnern, wie ihre Stimme da klang), sagte sie, sei dieses Buch, dass sie es mir einfach schenkte müsse. Achtzehn blaue Quadrate rahmen auf dem Einband emblematische Gegenstände ein: Glocken, Sterne und Totenköpfe zum Beispiel. Noch am selben Tag begann ich mit der Lektüre, zuerst aus Höflichkeit und einer Faszination, die kaum literarisch war — und konnte den Roman nicht mehr weglegen. Dies war das Gefühl von Gabos Moment. Es wirkte mit der unwiderstehlichen Intensität eines Zaubers – und hatte eine lange, ebenfalls nicht bloß literarische Vorgeschichte, die mir damals kaum bewusst war und auch nicht verständlich geworden wäre, wenn jemand von ihr gesprochen hätte. Sie beginnt mit der Geschichte des Wissens und der Philosophie.
Seit dem siebzehnten Jahrhundert, seit Descartes die Wirklichkeit des Menschseins mit dem Denken identifiziert und damit von den Dingen abgeschieden hatte, war in der Philosophie und zunehmend auch im Alltag ein vorher primäres Vertrauen brüchig geworden, die Welt, „so wie sie war“, die Welt als „Objekt“ aus der Perspektive des „Subjekts“ erfassen zu können. David Hume und Immanuel Kant mögen im späten achtzehnten Jahrhundert die letzten Philosophen gewesen sein, welche – mit erheblichem Aufwand der Begriffe und Argumente – sich selbst und ihre Umwelt davon überzeugten, dass diese Möglichkeit noch gegeben war. Während der folgenden hundert Jahre wurde jene Funktion der Wirklichkeits-Sicherung zunehmend von der Literatur und vor allem von Romanen übernommen, was ihren Autoren wohl Grund und Anlass gab, mehr denn je ihren eigenen „Realismus“ zu betonen, das heißt: die besondere Kraft der Literatur, Wirklichkeiten heraufzubeschwören. Doch bald schon, vor allem seit den Romanen von Gustave Flaubert im dritten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts, begann die erkenntnispraktische Skepsis auch die Literatur zu unterlaufen, und diese Bewegung steigerte sich im frühen zwanzigsten Jahrhundert zu den ikonoklastischen Gesten des Surrealismus, des Futurismus oder des Dadaismus, welche die Literatur beinahe gewaltsam von ihrer Bindung an die objektive Wirklichkeit befreien wollten.
Zugleich gelang es Autoren wie Marcel Proust oder James Joyce, diesen Anspruch „ein letztes Mal“, so war der Eindruck, mit grandiosen Texten zu erfüllen – freilich um den Preis einer Komplexität ihrer Prosa, welche als Anforderung die meisten in der Tradition der realistischen Romane gebildeten Leser aus dem neuen Zirkel der Erfahrung ausschloss. Bald wurde es zu einer Konvention und zu einem vermeintlichen Qualitätskriterium „anspruchsvoller moderner“ Literatur, den Beweis der Unmöglichkeit jeglicher Wirklichkeitserfassung durch Texte zu ihrem Anliegen zu machen – mit solcher Leidenschaft und solcher Konvergenz in der ausufernden Selbstreflexion tatsächlich, dass am Ende angesehene Literaturtheoretiker in dieser einen Funktion den einzigen zeitenübergreifenden Beitrag der Literatur zur menschlichen Existenz sehen wollten. Auf der Strecke blieb die Freude am Lesen, seit die Qualität der Texte an ihrem Widerstand gegen Lesefreude und an der dünnen Luft ihrer Abstraktionshöhe gemessen wurde.
Gabriel García Márquez wurde zum schönen und lebendigen Paradox eines fortgesetzten literarischen Naturereignisses. Deswegen ist es so schwer hinzunehmen, dass er kürzlich gestorben ist.
All dies war, wenn ich mich zum Beispiel an meine eigene Lektüre erinnere, die eine Seite und die Voraussetzung von Gabos Moment. So stieß eine ganze Generation von Lesern in „Hundert Jahre Einsamkeit“ auf eine Erzählung, die sich vom ersten Satz an als ein zugleich ironisches und ernstes Epos zeigte, indem sie Macondo, die eben gegründete Stadt, beschrieb, deren Fluss über „glatte, weiße und enorme Steine“ strömte, die aussahen wie „prähistorische Eier“. In Macondo aber ging die Zeit nicht weiter, sie war verwunschen zwischen den immer neuen und immer gleichen Männern und Frauen der Familie Buendía mit den immer gleichen Namen und den immer gleichen Abenteuern, bis endlich „aus echter Liebe“ ein Sohn mit einem „Schwanz in Korkenzieherform“ geboren wurde. Er brachte die Geschichte zuende, die nie zur Geschichte geworden und vorweg von dem „Zigeuner Melquíades in einem Sanskrit-Manuskript“ aufgeschrieben worden war — dieser jüngste Sohn erlöste die Familie von sich selbst. Macondo wurde beim Lesen zu einer konkreten Wirklichkeit. Bald schon verglichen wir tatsächlich existierende Dörfer und Städte mit der Stadt aus der Fiktion, die allerdings keine außertextuelle Wirklichkeit war, welche der Text abbildete, sondern eine Wirklichkeit, die er heraufbeschwor. Und die heraufbeschworene Wirklichkeit von Macondo hat Südamerika verändert, weil sie dem Kontinent und seinen Nationen einen Mythos und mithin ein Bild von der eigenen Identität schenkte, die es vorher nicht gegeben hatte.
So wurde „Hundert Jahre Einsamkeit“ zu einer Quelle und zu einem Fundament des Lebens, auch für jene Lateinamerikaner, die das Buch von García Márquez nie gelesen hatten, sondern Macondo, die Buendías und den Zigeuner Melquíades nur vom Hörensagen kannten. Und selbst außerhalb Lateinamerikas war die anspruchsvolle Literatur der Gegenwart nun erlöst von jenem Zwang zur blaulippigen Selbstreflexion und Weltdistanz, unter denen als Voraussetzung sie meiner Generation zuerst begegnet war. Darin vor allem lag jene profunde Veränderung der Wirklichkeit, die Gabos Moment ausmachte. Einmal geschehen konnte sie von keinem anderen Buch wiederholt werden und machte es für die später Geborenen so schwer, sich die Literatur „vorher“ und ihr Verhältnis zur Welt auch nur vorzustellen. Als ich aus meinem Studienjahr in Salamanca nach Deutschland zurückkam, war eben die Übersetzung von „Cien años de Soledad“ erschienen, und ich ließ nicht viele Wochen vergehen, bevor ich meinem Doktorvater, der damals dabei, akademisch berühmt zu werden, ein Exemplar schenkte – nicht zuletzt, um mich als hispanistischen Insider auszuweisen. Auch er las den ganzen Roman am ersten Tag und mit einer für ihn ungewohnt hellen Begeisterung, von der er mir wortreich und ganz theoriefrei erzählte. Am Tag darauf hatte er es sich allerdings anders überlegt: „Wissen Sie, ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ein Buch, welches dem Leser so wenig Widerstand bietet, doch Trivialliteratur sein muss.“ Auch das war Gabos Moment, der Moment aufgefaltet in seinen beiden Seiten: die Rückkehr jener unangestrengten Freude am Lesen, die uns mit einem Mal fast überfallen hatte — gegen den Hintergrund einer doppelten Selbstverpflichtung zur Entbehrung der Vorstellung und zum politischen Ernst, als deren Autoritätsfigur in Deutschland damals vor allem Theodor W. Adorno galt.
Erst mit jenem Moment wurden andere südamerikanische Autoren und ihre großartigen Romane international bekannt, die Gabriel García Márquez vorausgegangen waren und die als Vorbilder ihn ermutigt hatten, etwa „Pedro Páramo“ von Juan Rulfo aus Mexiko und „Grande Sertão – Veredas“ von João Guimarães Rosa aus Brasilien, erschienen 1955 und 1956. Erst mit jenem Moment wurde den südamerikanischen Literaten und Intellektuellen bewusst, dass sie im Zentrum einer neuen weltweiten Bewunderung standen, auf die sie sich bis heute eigenartigerweise mit dem englischen Wort „Boom“ beziehen, und schließlich musste der ebenso abgehalfterte wie vage Begriff des „magischen Realismus“ aus der Poetik der deutschen surrealistischen Jahre herhalten, um dem neuen Gestus des Schreibens auch einen Namen zu geben. Vor allem von Juan Rulfo sprach Gabriel García Márquez immer wieder mit einer großer Dankbarkeit: „Pedro Páramo“ sei der entscheidende Wendepunkt in seinem literarischen Leben gewesen, eben jener Moment, zu dem sein eigener Roman für die Weltliteratur wurde.

Anders als Juan Rulfo und intensiver wohl als João Guimarães Rosa genoss Gabo den Ruhm zeitlebens in vollen Zügen – und ließ über mehr als vier Jahrzehnte in jener Sprache der kraftvollen Leichtigkeit ein monumentales Werk aus immer neuen Romanen, Novellen und Essays entstehen, das den nachfolgenden Autoren seines Kontinents manchmal den Atem raubte. Gabriel García Márquez wurde zum schönen und lebendigen Paradox eines fortgesetzten literarischen Naturereignisses. Deswegen ist es so schwer hinzunehmen, dass er kürzlich gestorben ist.


Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.


Titelbild: Pierre Pouliquin / flickr.com

Bilder im Text: Muladar News, lmolinac / flickr.com

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