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Neue Regeln des Kalten Krieges?
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Politisches Zeitgeschehen

Neue Regeln des Kalten Krieges?

von Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht | Zeppelin Universität
30.05.2014
Anders gesagt: die Existenz des Schweizer Militärs ist ein – denkbar undramatischer — Fall von „Abschreckung“.

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessor für Literaturwissenschaften
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.  

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Auf einem Flug von Frankfurt nach Brüssel vor gut einer Woche sah ich, nicht zu weit von der belgischen Hauptstadt entfernt, eine Landebahn zwischen Dörfern und Feldern, ohne die üblichen Gebäude der Passagierabfertigung und offenbar auch ohne Autobahn-Anbindung. Ein Militärflughafen musste das sein, dachte ich, und dann schien noch kurz die Frage auf, ob sich ein Land wie Belgien wohl überhaupt eine Luftwaffe leistet. Ich bin ihr nicht weiter nachgegangen, weil aus der primären Beobachtung gleich eine andere, interessantere und nicht in wenigen Sekunden per Google-Suche beantwortbare Frage hervorging: die Frage, was die Funktion und innenpolitische Legitimität einer belgischen Luftwaffe sein könnte — wenn es sie denn gäbe.
Die Welt ist klar geteilt: Die UdSSR steht den Vereinigten Staaten von Amerika gegenüber. So ließ sich die politische Weltkarte Jahrzehnte zeichnen. Bewegen wir uns im 21. Jahrhundert erneut auf eine bipolare Weltkarte zu?
Die Welt ist klar geteilt: Die UdSSR steht den Vereinigten Staaten von Amerika gegenüber. So ließ sich die politische Weltkarte Jahrzehnte zeichnen. Bewegen wir uns im 21. Jahrhundert erneut auf eine bipolare Weltkarte zu?
Voraussetzung meiner kleinen Verwunderung ist eine profunde Transformation im Status der zur Europäischen Union gehörenden Nationen. Mit dem Unsichtbar-Werden der Grenzen, mit der so weit fortgeschrittenen wirtschaftlichen und der sich nur etwas langsamer vollziehenden politischen Integration existieren sie eigentlich bloß in der Kultur weiter – und in unserer Erinnerung. Solche Erinnerungen konkretisieren sich manchmal noch beim Hissen von National-Flaggen und an nationalen Gedenktagen, anlässlich von Nationalhymnen oder Nationalmannschaften, aber ein italienischer Luftangriff, gegen den als Möglichkeit sich Belgien schützen müsste, ebenso wie belgische Geheimpläne zur Unterwanderung von Österreich und der Slowakei, wie sie vor hundert (und noch vor siebzig) Jahren durchaus zum Vorstellungshorizont der realen Politik gehört haben müssen, können heute an den Horizont pathologischer oder literarisch geschmackloser Imaginationen verwiesen werden. Auch das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten ist für Länder wie Belgien durch ein Bündnis definiert und gesichert, in diesem Fall durch das Militärbündnis der NATO. Hier hätten Alpträume oder Wunschträume von Angriffs-Kriegen selbst vor hundert Jahren wegen bestimmter territorialer Prämissen und wegen des langfristig bestehenden Macht-Differenzials keine Realitäts-Konnotation gehabt, aber andererseits erklärt gerade dieses Differenzial die (potentielle) Existenz einer belgischen Luftwaffe. Denn sie wäre – oder sie ist — ein Beitrag Belgiens zum Bestehen des westlichen Bündnissystems, dessen spezifische Wirkung in einer finanziellen Entlastung der Vereinigen Staaten liegt.
Einen etwas anderen politischen Status hat das Militär natürlich in europäischen Ländern, die nicht zur Europäischen Union gehören, wie der Schweiz, oder innerhalb Bündnisses einen Sonderstatus haben, wie die skandinavischen Nationen. Vor allem aufgrund der wirtschaftlichen Stärke der Schweiz (oder der wirtschaftlichen Potenz Norwegens etwa) scheint in Bezug auf sie der Gedanke an eine Aggression von außen um einen Deut weniger absurd als bei einigen Vollmitglieds-Ländern der EU, weshalb die Schweizerische Armee und Luftwaffe permanent deutlich machen, dass eine solche Aggression als militärische Aktion mit erheblichen Verlusten auf Seiten des Aggressors verbunden wäre. Anders gesagt: die Existenz des Schweizer Militärs ist ein – denkbar undramatischer — Fall von „Abschreckung“.
Der Majdan-Platz in Kiew, der Hautpstadt der Ukraine, ist zum Zeichen der Protest- und Revolutionsbewegung geworden. Doch aus friedlichen Protesten wurde ein blutiger Bürgerkrieg, der nun auch auswirkungen auf die ganze Welt hat.
Der Majdan-Platz in Kiew, der Hautpstadt der Ukraine, ist zum Zeichen der Protest- und Revolutionsbewegung geworden. Doch aus friedlichen Protesten wurde ein blutiger Bürgerkrieg, der nun auch auswirkungen auf die ganze Welt hat.
Je nach Definition lässt sich die Situation der Schweiz auch unter dem Begriff des „Kalten Krieges“ subsumieren, eines Kalten Krieges, dessen Bedingungen sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kaum verändert zu haben schienen. Mit der Ukraine-Krise ist aber nun sichtbar geworden, dass wir in einer neuen Situation des Kalten Krieges leben. Die Expansions-Impulse Russlands sind heute kaum mehr (wie noch in der kurzen zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts) ideologisch aufgeladen, doch sie artikulieren sich unübersehbar – ohne geographisch so exakt und programmatisch wie vor 1989 umschrieben zu sein. Deutlich wird auch die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, für Länder wie Russland (oder etwa China) die Existenz solcher Einfluss- und Kontroll-Zonen zu tolerieren, obwohl es diese Zonen, vor allem was Russland angeht, im direkten Interesse einiger Bündnispartner der Europäischen Union gewiss nicht geben sollte. Amerika aber hat die Interessen dieser EU-Bündnispartner schlichtweg eingeklammert, um die russische Expansion annehmen zu können, und dies gewiss in der Erwartung, dass Russland – zum Beispiel im Fall einer amerikanischen Annexion Kubas nach Fidel Castros Tod – nach der gleichen Logik reagieren wird.
Es ließe sich noch ganze Reihe von solchen, in ihrer Struktur ähnlichen, aber in ihren Auswirkungen deutlicher regional begrenzten Machtbeziehungen beschreiben, die heute möglicherweise (das heißt: im allerbesten Fall) auf dem Weg des wechselseitigen Toleranz-Tests und mithin auf dem Weg der Stabilisierung sind: der sogenannte „Mittlere Osten“, „Indien und Pakistan“, „Nordkorea und Südkorea“, die „Volksrepublik China und Japan“ etwa. Insgesamt sind sie – im Vergleich zu jenem „Kalten Krieg“, der aus dem Kriegsende von 1945 heraus seinen Anfang genommen hatte — weniger deutlich auf eine gemeinsame Zentral-Achse der Rivalität bezogen (anders gesagt: die heutigen Beziehungen sind voneinander unabhängiger), in den meisten Fällen noch nicht an einem stabilen oder instabilen Endpunkt ihrer Möglichkeiten angelangt, und, wie schon gesagt, auch weniger stark ideologisch aufgeladen (ob es sich nun um nationalistische oder politisch-utopische Ideologien handelt).
Der Woodpecker "Duga 3" - ein Sendeapparat für Kurzwellensignale - in der Nähe der ukrainischen Stadt Tschernobyl erinnert an Spionage und scheibar längst vergangene Zeiten. Kann uns heute erneut ein Kalter Krieg - sozusagen Version 2.0 - erwarten?
Der Woodpecker "Duga 3" - ein Sendeapparat für Kurzwellensignale - in der Nähe der ukrainischen Stadt Tschernobyl erinnert an Spionage und scheibar längst vergangene Zeiten. Kann uns heute erneut ein Kalter Krieg - sozusagen Version 2.0 - erwarten?
Bemerkenswert ist auf der einen Seite – und diese Einsicht liegt auf der Hand, so selten sie auch derzeit explizit vollzogen wird — wie der neue kalte Krieg längst konturiert genug ist, um die Frage nach der Souveränität der Ukrainer innerhalb der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und Russland zu einer untergeordneten Frage zu machen, welche selbst auf der Ebene der Rhetorik und Diskurse heute nur nicht halbherzig erwähnt wird. Das sollte enttäuschend wenigstens für die Senioren unter uns sein, die nach der Implosion des Staatssozialismus im Jahr 1989 ja mit einer nachhaltigen Demokratisierung im Verhältnis zwischen den Nationen gerechnet hatte. Mittlerweile jedoch dominiert längst wieder unangefochten das Prinzip vom Ausgleich der Großmachtinteressen.
Vor dem Hintergrund dieser Tendenz, der Tendenz einer Rückkehr zum Status von vor 1989, zeichnen sich im ukrainischen Bürgerkrieg (und beileibe nicht allein dort) Symptome für eine grundlegende Transformation des Kalten Krieges ab, die nicht nur selten, sondern eigentlich nie erwähnt werden. Es geht um Anzeichen einer deutlichen Verschiebung im Rahmen dessen, was man „Motivations-Relevanz“ nennen kann. Anders und alltagssprachlich gesagt: zu welcher Nation sie am Ende gehören, an welche politische Ideologie sie gebunden sein werden (wenn dies heute überhaupt noch eine Rolle spielt), das scheint selbst die Einwohner von Charkiv oder Donezk in der Ost-Ukraine heute viel weniger umzutreiben, als es (mit jeweils graduellen Unterschieden) noch vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren der Fall gewesen war. Manchmal entsteht der Eindruck, dass der (zu Unrecht Bertolt Brecht zugeschriebene und) berühmt gewordene Kalauer Wahrheit geworden ist: „stell Dir vor, es ist Krieg, und niemand geht hin.“ Gewiss, es hat Tote gegeben bei den Auseinandersetzungen in der – ehemaligen — Ukraine, und man fühlt sich heute glücklicherweise verpflichtet zu bemerken, dass jeder Tod in einem solchen Kontext ein Tod zu viel ist und gewesen sein wird. Doch vor einem halben Jahrhundert, das wissen wir alle, hätte ein vergleichbarer Konflikt – zumal in Osteuropa — sehr viel mehr Todesopfer gefordert (von denen — schon damals — jedes Opfer eines zu viel gewesen wäre).
Auch diese amerikanische Abschussbasis für Missile-Raketen erinnert an den Kalten Krieg. Auch Jahrzehnte nach dem Fall des "Eisernen Vorhangs" sind nicht alle Überreste dieser Zeit besteitigt.
Auch diese amerikanische Abschussbasis für Missile-Raketen erinnert an den Kalten Krieg. Auch Jahrzehnte nach dem Fall des "Eisernen Vorhangs" sind nicht alle Überreste dieser Zeit besteitigt.
Vielleicht ist dieser positive Mangel an Leidenschaft, diese positive Apathie, man kann sie naturlich auch „Pazifismus“ nennen, ja schon eine (damals noch weitgehend verdeckte) Voraussetzung für die Emergenz der Europäischen Union bis hin zum gegenwärtigen Status gewesen. Wenn aus individueller Perspektive die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Nation oder zu der einen oder anderen Ideologie und Lebensform an Bedeutung, Interesse, Relevanz verloren hat, dann wird verständlich, warum Bevölkerungen heute „ihre“ Politiker in der einen oder anderen Tendenz des Handelns beinahe gerne „gewähren“ lassen, aber auf der anderen Seite die Ergebnisse oder Spuren dieses Handelns nicht mit lautem Enthusiasmus begrüßen oder mit scharfer Polemik abweisen werden. Diese Tendenz zur Apathie hat bisher nur wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dabei könnte sie – langfristig fortgesetzt und dann auch intensiviert – geradezu ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit werden. Noch ist sie in ihrem Auftauchen nicht regional beschrieben und identifiziert (ist die Pazifismus-Tendenz ausschließlich europäisch?); noch sind die Gründe und Anlässe für diese profunde Veränderung im Verhalten großer gesellschaftlicher Gruppen, in einigen Ländern wohl der Mehrheit der Bevölkerung, ganz unbekannt (könnte es sich um einen kollektiven Verlust an Aggression handeln, und wie wäre der zu erklären; haben die Menschen, zumal die Europäer, „das Tier im Menschen“ nun definitiv überwunden?). Ist dieser (wenn man den Begriff überhaupt gebrauchen soll) kollektiv-psychische Trend das Ergebnis einer neuen wirtschaftlich und im Hinblick auf erkämpfte Freiheiten für die allermeisten Europäer deutlich verbesserten Lebenssituation? Und vor allem: wird der Trend anhalten und sich verstärken oder innerhalb weniger Jahre vergessen sein?

Neulich schnappte ich im Gespräch mit einem deutschen Offizier eine beiläufig gemachte Bemerkung auf, die seither in meiner Erinnerung lebendig und aktiv geworden ist. „Im Vergleich zur militärischen Macht der Vereinigten Staaten“, sagte dieser (aus meiner Perspektive: junge) deutsche und europäische Patriot, sei „der gesamte Rest der internationalen Rüstungsbemühungen von heute nur ein Kindergeburtstag.“ Könnte die positive Apathie, könnte der neue Pazifismus eine halb-bewusste Reaktion und jedenfalls eine Auswirkung dieses – gegenüber dem alten Kalten Krieg – grundlegend globalen Differenzials in der militärischen Macht sein? Die gar nicht intendierte Wirkung eines Differenzials, versteht sich, welches in den vergangenen Jahrzehnten ja vor allem entstanden ist und sich vergrößert hat bei den am Ende wenig erfolgreichen Versuchen der Vereinigten Staaten, die neuen Situationen „asymmetrischer Kriegsführung“ beherrschen zu können.


Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.


Titelbild: streetwrk.com / flickr.com

Bilder im Text: Jeroen Elfferich, streetwrk.com, Michael Kötter, ched cheddles / flickr.com

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