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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
„Kleider machen Leute“ – als der große Schweizer Romancier Gottfried Keller vor hundertvierzig Jahren dieses Sprichwort zum Titel einer Novelle machte und ihm so eine literarische Aura gab, waren alle mitteleuropäischen Gesellschaften deutlich (und noch weitgehend ohne schlechtes Gewissen) hierarchisch verfasst. Zu jedem sozialen Stand gehörte damals eine spezifische, meist noch einmal im Hinblick auf typische Lebenssituationen ausdifferenzierte Kleiderordnung, an deren Überschreitungen ihrerseits je spezifische Sanktionen gebunden waren. Wer solche Überschreitungen dennoch wagte, kompetent ausführte und durchhielt, konnte deshalb hoffen, sich bestimmte Vorteile zu erschleichen. Dies ist zumindest eine, wohl die sozialhistorisch dominante Bedeutung des Satzes „Kleider machen Leute“ (die Pointe von Kellers Novelle lag darin, dass jene Wirkung einem sich gut kleidenden Schneidergesellen eher unabsichtlich unterlaufen und am Ende zu einer romantischen Früh- oder Vorform „sozialen Aufstiegs“ führen sollte).
Solche Voraussetzungen existieren in den westlichen Kulturen unserer Gegenwart nicht mehr. Zwar gibt es weiterhin gesellschaftliche Hierarchien, doch sie sind erstens viel deutlicher als früher zu einer Pluralität geworden und bündeln sich vielfältig noch im Leben einzelner Menschen. Selbst die Hierarchien der Macht und des Reichtums sind mittlerweile weitgehend voneinander entkoppelt, und Analoges gilt für die Hierarchien von Reichtum und Macht auf der einen und von Bildung und moralischem Ansehen auf der anderen Seite. Vor allem aber, darin liegt die zweite und wohl noch einschneidendere historische Veränderung, gehört es heute zum guten Ton, die verbliebenen und die neu hinzugekommenen sozialen Unterschiede im öffentlichen Raum nicht mehr demonstrativ sichtbar zu machen – vor allem nicht in einer sozialhierarchischen Ordnung von Kleidungsformen. Soziale Unterschiede sollen, wenn überhaupt, als „feine Unterschiede“, das heißt vor allem: als Symptome für guten Geschmack wahrnehmbar werden, und sie sollen ihre interpretatorische Erschließung schwer wirken lassen — um als legitim erfahren und als kommunizierbar akzeptiert zu werden.
An diese Grundregel in den Gesellschaften der Gegenwart hat vor allem der französische Soziologe Pierre Bourdieu immer wieder erinnert. Viel weniger ist in der Soziologie die Rede von einer durchaus aggressiven Gegen-Dynamik zu dieser im politischen und existentiellen Sinn „konservativen“ Tendenz des Kultivierens und des Festhaltens an „feinen Unterschieden“. Die aggressive Gegen-Dynamik vollzieht sich in einer radikalen Ent-Differenzierung von sozialen Hierarchien und Kleiderordnungen, zu der durchaus Elemente einer Selbst-Inszenierung als Eroberung sozialen Raums gehören.
Ende letzter und Anfang dieser Woche habe ich dreimal in der Lobby eines früher — auf einer spezifischen Stillage — eleganten und erstaunlicherweise immer noch mit den offiziellen fünf Sternen ausgestatteten Frankfurter Hotels gefrühstückt, dessen Leitung mittlerweile dazu übergegangen zu sein scheint, Belegungs-Ebben durch Dumping-Angebote an Reisegruppen des (früher mit einem Frankfurter Familiennamen) „Neckermann“ genannten Niveaus zu überbrücken. Das ist, will ich gleich zugeben und dabei den potentiellen Vorwurf des Elitismus resigniert hinnehmen, das ist durchaus schmerzhaft für den Gast, der den vollen Zimmerpreis zahlt; doch Enttäuschung oder gar Protest dürfen („auf dieser Seite des Frühstücks-Buffets“ sozusagen) unter keinen Umständen sichtbar gemacht oder gar artikuliert werden (ich darf höchstens beim nächsten Besuch in Frankfurt – ohne weitere Kommentare, versteht sich — ein anderes Hotel derselben Preisgruppe, aber mit weniger Billig-Reisegruppen buchen). Auf der anderen Seite des Buffets aber gibt es demonstrative Symptome einer Ent-Differenzierung, die sich als Eroberung zelebriert (ohne dass die Selbstfeier notwendig als solche erfahren und reflektiert wird).
Zu einem zentralen Emblem dieser Entdifferenzierung ist in meiner Wahrnehmung der Rucksack geworden. Seine mittlerweile erstaunliche Verbreitung mag einem tagträumerischen oder einem auch nur noch etwas morgenmüden Blick über frühstückende Zeitgenossen hinweg den Alptraum einflößen, eine Mutation der Gattung Mensch hin zu einer anderen Gattung sei im Gange, deren Körper-Silhouette an gigantische (und ihre Kauwerkzeuge permanent bewegende) Maikäfer erinnert. Der bedingungslose Legitimitätsanspruch des Rucksacks aber liegt darin, praktisch, gesund, ja sogar andeutungsweise sportlich zu sein. Einen am Körper festgezurrten und dort verharrenden Rucksack wird man (wird „frau“!) natürlich nicht wie eine Handtasche verlieren können; der Rucksack ist des weiteren, je höher die Gewichtsauslastung desto deutlicher, ein orthopädisch weit schonenderes Kleidungsstück als irgendeine Art von Trage-Taschen; und er hat – oder hatte zumindest früher einmal — einen Bergsteiger-Charme, der manchmal vielleicht den Maikäfer-Effekt kompensiert.
Ganz ähnlich müsste ein soziologischer Kommentar zu allen möglichen Varianten von Sportschuhen ausfallen, die — zumal in der amerikanischen Gesellschaft — Staaten- und Stadt-weise zum alternativenlosen Status quo der Fußbekleidung geworden sind. Und zu dieser Dimension einer Phänomenologie von Gegenwartskleidung gehören natürlich immer noch Elemente des „Trainingsanzugs“ (wie man früher sagte), deren strikt funktional gehaltene Versionen (etwa die seitlich durchgeknöpfte und deshalb jederzeit eine schnelle Einwechslung ermöglichende Trainingshose) heute schnell und glücklicherweise bloß andeutungsweise Trainings-inspirierten Formen (Sweatshirt, neuerdings wieder mit dem Namen „Ucla“) Platz machen. Solange jedenfalls in diesem sehr breiten Sinn „sportliche“ Kleidung irgendeine Konnotation von Gesundheitsförderlichkeit (oder auch nur Gesundheitsverträglichkeit) mit sich bringt, wird es selbst Personalchefs von Weltfirmen oder den mit Nachwuchs-Förderung beauftragten Beamten beim diplomatischen Dienst verboten bleiben, bei einem Vorstellungsgespräch der mit Rucksack oder Trainingshose ausgestatteten Bewerberin Minus-Punkte zu verpassen.
Stukturell gesehen entsprechen solche Aufhebungswellen von Kleider-Ordnungen der Eroberung von früher hocherotischen oder provokanten Gesten („raffinierten“ Décolletés oder hochgeschlagenen Polohemd-Krägen) durch eine grenzenlos expandierende, tendenziell globale Mittelschicht. Daran schließt die längst in Schwung gekommene Eroberung der Kreuzfahrt-Industrie durch Kleinbürger mit oder ohne Bildungshunger an (eines meiner einschlägig-historischen Lieblings-Bilder ist der von weindurstigen Kleinbürgern umgebene, bildungsgesättigte Kleinbürger Martin Heidegger auf seiner ersten Neckermann-Kreuzfahrt nach Griechenland, dem Ursprungs-Ort der Seinsgeschichte).
Wer auf den Wellen dieser machvollen sozialen Eroberungsbewegung – etwa in einer Hotel-Lobby beim Frühstück – den nie „hinter vorgehaltener Hand“ stattfindenden Gesprächen zwischen Kunden und Dienstleistenden lauscht, der wird erkennen, dass aus ehemaligen Hierarchien nun Umgangsformen entstanden sind, die als Momente eines permanent fluiden Rollentausches erlebt werden. „Keine Hektik mit meiner Bestellung, nur bitte keinen Stress,“ sagt eine Dame mit flotter Föhn-Frisur und etwas schwitzigen Turnschuhen an die Bedienung gewandt, „ich weiß, wie das ist, in einem vollbelegten Hotel zu kellnern.“ Kaum ein Gast wird unter diesen Voraussetzungen daran denken, sich beim Manager zu beklagen, wenn ihm die Gulaschsuppe über seine Boss-Krawatte gekippt wird, denn das „ist ja nur menschlich“ und „hätte ihm auch passieren können.“
Die so zu beschreibende Funktionsstelle für einen ästhetischen Effekt wurde lange und wird immer noch (mit quantitativ wohl leicht absteigender Tendenz) eingenommen von der sogenannten „Capri-“ oder „Sieben Achtel-Hose“, deren morphologische Vorläufer meine 1921 geborene Mutter, so als sei dies ein Fachterminus, gerne „Dreiviertel Liter-Hosen“ nannte. Dieses über Jahrzehnte bei allen Geschlechtern und Altersgruppen fast unterschiedslos beliebte Kleidungsstück ist wohl nicht nur ein weiteres Emblem der Ent-Differenzierung gewesen, sondern gleichsam auch jenes Schwarze Loch, welches alle (offenbar eher bescheidenen) Wünsche und alles (offenbar eher moderate) Begehren nach Schönheit anzog und verdichtete.
Man mag mich eines (typisch amerikanischen?) Elitismus bezichtigen, doch ich kann diese Situation nur als tragisch – oder mildestenfalls: tragikomisch — ansehen. Das einzige Kleidungsstück auf der Entdifferenzierungs-Welle, dessen Existenz nicht als „praktisch“ oder „bequem“ sichtbar wird und dessen Status also zur Dimension des Ästhetischen gehört, ist ein Kleidungsstück, welches jede und jeden, die es tragen, immer nur schlechter aussehen lässt: Übergewichtige und Untergewichtige; Hoch- und Kurzgewachsene; Jung und Alt; Frau, Mann und alle anderen Geschlechter. Manchmal befürchte ich, dass Schönheit — und selbst Kitsch als fehlgeleitete Schönheitssehnsucht — keinen Ort mehr hat im Leben der neuen westlichen Mittelklasse.
Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Kaptain Kobold / flickr.com
Bilder im Text: marketing deluxe, Heilbronner Land,
ewar woowar, Just Ard, Jonathan Adami / flickr.com
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Alina Zimmermann und Florian Gehm