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Ob man „heiraten muss“
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Wertewandel

Ob man „heiraten muss“

von Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht | Zeppelin Universität
18.03.2015
Wenn sich die Heirats-Frage überhaupt stellt, dann ist ihr Hilfsverb eher ein „Soll“ – mit sehr verschiedenen Bezugspunkten.

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessur für Literaturwissenschaften
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.  

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Erstmal locker angehen: Eine soziologische Theorie des Flirts


Es muss um 1960 gewesen sein, als die alte Bundesrepublik in ihrer neuen Selbstgewissheit dogmatisch wurde und ich mit etwas mehr als zehn Jahren zu verstehen begann, warum meine Mutter zugleich streng, triumphalistisch und hämisch klang, wenn sie den Satz „die mussten heiraten“ gebrauchte – ohne den nur wenige Tage vergingen. Die dabei vorausgesetzten Regeln des Lebens hatten keine Zweideutigkeit: eine Frau, die „er geschwängert hatte“ (niemand nahm an diesem transitiven Verb Anstoß), nicht zu heiraten, galt immer noch als das „gute Recht des Mannes“, und nur besonders emphatisch disponierte Betrachter hielten es für allzu hart oder gar unschön, wenn er davon Gebrauch machte.

Die Retro-Hochzeit. In der Frauenzeitschrift „Brigitte" überzeugte die Sonderbeilage „Hochzeit im Mai" im Jahr 1957 auf ganzer Linie. Das eher sportlich-moderne Kleid traf den Geschmack der späten 1950er Jahre auf ganzer Linie. Heute erfreuen sich Hochzeiten im Rockabilly-Style wieder größter Beleibtheit und ganze Agenturen haben sich auf 50er-Jahre Mottos spezialisiert. Im gleichen Jahr erschien übrigens der Film „Heiraten verboten". Die Scheidungsrate lag zu diesem Zeitpunkt trotzdem bei moderaten 9,6 Prozent.
Die Retro-Hochzeit. In der Frauenzeitschrift „Brigitte" überzeugte die Sonderbeilage „Hochzeit im Mai" im Jahr 1957 auf ganzer Linie. Das eher sportlich-moderne Kleid traf den Geschmack der späten 1950er Jahre auf ganzer Linie. Heute erfreuen sich Hochzeiten im Rockabilly-Style wieder größter Beleibtheit und ganze Agenturen haben sich auf 50er-Jahre Mottos spezialisiert. Im gleichen Jahr erschien übrigens der Film „Heiraten verboten". Die Scheidungsrate lag zu diesem Zeitpunkt trotzdem bei moderaten 9,6 Prozent.

Im Heiratsfall aber, der als erfülltes „Muss“, als ihre erfüllte Pficht für die Frau auch ein Glücksfall war, kam unweigerlich die einfache Gleichung eines „Je-später-desto-schlimmer“ ins Spiel: eine unter dem Hochzeitskleid noch gerade zu kaschierende Schwangerschaft wurde mit dem Datum der Geburt zu einer an Peinlichkeit grenzenden – kleinen – Schande, während ein Hochzeitstermin nach der Geburt der Kindes als sozial beinahe so unannehmbar wie keine Hochzeit galt. Auch die unüberbietbar orthodoxe Ansicht hatte ich damals mit Faszination aufgeschnappt, nach der eine Frau, die heiraten musste, ein rosafarbenes Kleid „vor dem Traualtar“ zu tragen hatte – wie Witwen, die sich für eine weitere Ehe entschieden. Genau neun Monate nach der Hochzeit schließlich (mit einem kleinen, alle potentiellen Zweifel blockierenden „Sicherheitsabstand“) „ein Kind zu bekommen“, schloss ich stolz auf meine neue Sach-Kompetenz, musste der Ideal-Fall sein.

Wie sehr sich in einem halben Jahrhundert der Ton und die Bedeutung der Wörter „heiraten müssen“ verändert, ja umgekehrt haben, ist ein bemerkenswertes Symptom für den inzwischen eingetretenen gesellschaftlichen Wandel und auch für die Werte-Sicht der Gegenwart, zu der er geführt hat. Von einem ernsthaften „Muss“ des Heiratens ist eigentlich nie mehr die Rede. Wenn sich die Heirats-Frage überhaupt stellt, dann ist ihr Hilfsverb eher ein „Soll“ – mit sehr verschiedenen Bezugspunkten. Soll man besonders konservativen Familienmitgliedern den Gefallen tun, ohne andere Gründe eine stabile Paar-Beziehung zur Ehe zu machen? Soll man aus Steuer-, Versorgungs- oder Erb-Gründen die Ehe eingehen? Der schon geborenen Kinder wegen vielleicht (auch wenn die nichts zu vermissen scheinen)? Nur wenige Berufe oder Arbeitgeber-Rollen sind übrig geblieben, die zwischen stabilen Beziehungen ohne Ehe und vollzogener Ehe einen Unterschied machen – und ihre Position wird rechtlich prekär, sobald sie versuchen, damit bestimmte Vor- oder Nachteile für ihre Angestellten zu verbinden. Andererseits spricht es ja gewiss gegen die Ehe, dass zu ihr – mit statistisch schlagender Evidenz – das Risiko der Scheidung und der damit verbundenen finanziellen Nachteile, institutionellen Mühen und psychischen Schmerzen gehört. Warum sollte man sich ein so komplexes Risiko zumuten?

Die Angeber-Hochzeit. Wunderkerzen, großes Grundstück, mehrere Orte zum Feiern. Wer bei seiner Hochzeit nicht nur im Standesamt oder vor der Kirche eine ordentliche Party schmeißen will, muss heute richtig Geld auf den Tisch legen. In den letzten Jahren wurden in Deutschland im Schnitt 370.000 Ehen geschlossen. Auf weddix.de haben wir nachgerechnet: Mit allen Formalitäten und trotz Brautkleid auf Discounter-Niveau fallen Kosten von gut 15.000€ an. Zugegeben: Für den Polterabend haben wir uns auch eine Live-Band geleistet. Muss man bei diesen Preisen wirklich heiraten?
Die Angeber-Hochzeit. Wunderkerzen, großes Grundstück, mehrere Orte zum Feiern. Wer bei seiner Hochzeit nicht nur im Standesamt oder vor der Kirche eine ordentliche Party schmeißen will, muss heute richtig Geld auf den Tisch legen. In den letzten Jahren wurden in Deutschland im Schnitt 370.000 Ehen geschlossen. Auf weddix.de haben wir nachgerechnet: Mit allen Formalitäten und trotz Brautkleid auf Discounter-Niveau fallen Kosten von gut 15.000€ an. Zugegeben: Für den Polterabend haben wir uns auch eine Live-Band geleistet. Muss man bei diesen Preisen wirklich heiraten?

Und was könnte auf der anderen Seite heute überhaupt noch für Ehe und Heirat sprechen? Die Gelegenheit zum Beispiel, eine Paar-Beziehung in ihrer Stabilität zu feiern (was unerträglich vernünftig klingt) – oder etwas romantischer (und dann plötzlich ziemlich schmalzig): sich öffentlich und gemeinsam über eine doppelte „Liebe des Lebens“ zu freuen. Doch solche Feste sind teuer und bedürfen, wenn man sie denn haben will, längst nicht mehr wirklich der Eheschließung als institutioneller Voraussetzung. Für homosexuelle Paare allerdings sieht die Motivationslage anders aus. Denn ihr Entschluss zur Heirat und Ehe hat die fast unvermeidlich politische Implikation, nun – endlich – den Zugang zu einem Ritual und einem Status wahrnehmen zu können, die für Partner gleichgeschlechtlicher Beziehungen bisher unerreichbar geblieben waren. Hinzukommen mögen sehr spezifische, eher praktische Interessen, etwa der Wunsch, eine Form der Partnerschaft zu vereindeutigen, die wohl immer ein Minderheiten-Phänomen und deshalb ohne aktive Vereindeutigung für manche Beobachter immer konturenlos bleiben wird.

Dennoch ist anzunehmen – und zu hoffen, dass sich solch warm glänzende Euphorie angesichts der erreichten Gleichstellung homosexueller Paare eines Tages zur affektiven Normaltemperatur justieren wird (im Sinn der nüchternen Feststellung des amerikanischen Philosophen Richard Rorty, dass der Kampf für Gleichberechtigung der Homosexuellen erst dann vollendet sein wird, wenn die Motivation für „Gay Pride Parades“ verschwunden ist). Dann aber wird auch für homosexuelle Paare die Frage, „ob man heiraten muss“, genauso klingen, wie sie heute schon für heterosexuelle Paare klingt, nämlich wie eine rhetorische Frage mit skeptischem Unterton – wie eine Frage also, deren negative Beantwortung unterstellt ist. Wer die Wörter „ob man heiraten muss“ in dieser Weise verwendet – und das mag in einigen europäischen Gesellschaften heute bereits die Mehrheit sein, hat im Normalfall all die (schon erwähnten) praktischen Gründe berücksichtigt, welche für eine Heirat sprechen können. Unterstellt ist dabei freilich, dass die institutionelle Form mit all ihren praktischen Verpflichtungen und Implikationen in einer Spannung zu jener beiden Dimensionen steht, welche die Schönheit einer Liebebeziehung ausmachen sollen: in einer Spannung zu der Freiheit, sich jeden Tag neu füreinander zu entscheiden; und in einer Spannung zu jenem ekstatischen Grad von Individualität, dem naturgemäß keine institutionelle Form entsprechen oder gar gerecht werden kann.

Die (hoffentlich möglichst bald) ganz normale Hochzeit. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist seit Jahren ein heiß diskutiertes Politikum. Die Niederlande gehen bereits seit 2000 mit leuchtendem Beispiel voran, seit das Parlament am damaligen 21. Dezember das Recht auf eine gleichgeschlechtliche Eheschließung verabschiedete. In den nächsten Jahren folgten 17 weitere Länder dem Beispiel - zuletzt Finnland, wo das entsprechende Gesetz am 01. März 2017 in Kraft treten wird. In den USA gilt das Recht immerhin in 41 Bundesstaaten. Nur in Deutschland haben es homosexuelle Paare noch schwer, die hier eine eingetragene Lebenspartnerschaft schließen dürfen, welche im Vergleich zur Zivilehe mit den gleichen Pflichten, aber weniger Rechten ausgestattet ist.
Die (hoffentlich möglichst bald) ganz normale Hochzeit. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist seit Jahren ein heiß diskutiertes Politikum. Die Niederlande gehen bereits seit 2000 mit leuchtendem Beispiel voran, seit das Parlament am damaligen 21. Dezember das Recht auf eine gleichgeschlechtliche Eheschließung verabschiedete. In den nächsten Jahren folgten 17 weitere Länder dem Beispiel - zuletzt Finnland, wo das entsprechende Gesetz am 01. März 2017 in Kraft treten wird. In den USA gilt das Recht immerhin in 41 Bundesstaaten. Nur in Deutschland haben es homosexuelle Paare noch schwer, die hier eine eingetragene Lebenspartnerschaft schließen dürfen, welche im Vergleich zur Zivilehe mit den gleichen Pflichten, aber weniger Rechten ausgestattet ist.

So scheinen wir bei einer Situation angekommen zu sein (und beginnen, es uns in ihr gemütlich zu machen), deren Grundstruktur jedem Kulturhistoriker – vor allem jedem Literaturhistoriker – aus dem Mittelalter vertraut ist, ohne dass heute, wie es zur Zeit der Romantik und des Biedermeier der Fall war, ein bewusster Rückgriff auf diese Vergangenheit vorausgesetzt ist. Genau genommen allerdings werden wir nie wissen, wie erotische Liebe im Mittelalter tatsächlich erlebt wurde. Aber seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert hatte sich europäische Kultur auf ein kleines Corpus von Texten, von so genannten „Liedern“, konzentriert, die zuerst um 1100 im heutigen Südfrankreich entstanden waren, und deren Ton und Faszination dann ein produktives Jahrhundert lang in den europäischen Norden ausstrahlten.


Ihre mittelhochdeutschen Ableger nennt man „Minnesang“ – und prinzipiell geht es im Minnesang immer um die paradoxale Situation und Einsicht (Intellektuelle unserer Gegenwart könnten sie eine „double-bind Situation“ nennen), dass erotische Erfüllung nur außerhalb der institutionellen Verpflichtungen von Ehe und Familie zu haben ist, was wiederum vom Ernst des Ehe-Sakraments ausgeschlossen wird.

Das literarisch gebildete Bürgertum der Romantik reagierte auf den Minnesang mit der zur Erwartung normalisierten gegenläufigen Überzeugung, dass Ehe als Institution permanent mit leidenschaftlicher erotischer Liebe vereinbar sei – und hat der westlichen Kultur in den folgenden Jahrhunderten damit ein oft mit Enttäuschung und Frustration endendes Erbe hinterlassen (der französisch-schweizerische Existentialist Denis de Rougment hat darüber ein ebenso leidenschaftliches wie lesenswertes Buch geschrieben). So könnte man schließen, dass die gegenwärtige Tendenz zur stabilen Partnerbeziehung ohne Ehe möglicherweise die zur Tradition gewordene Spannung zwischen Institution und Leidenschaft vermeiden wird. Und noch ein weiterer – vielleicht entscheidender – Unterschied gegenüber der mittelalterlichen und romantischen Konzeption von Liebe lässt sich in der Gegenwart beobachten. Als zentrale Medium ihrer Nähe und Einheit würden die meisten Paare heute wohl weniger wechselseitige erotische Faszination identifizieren als Freundschaft, Freundschaft im Sinn einer „unverbindlichen Form der Bindung, die hält“, Freundschaft als offene Beziehung der Komplementarität, in der sich zwei (oder mehr) Individuen einander ausdifferenzieren und entwickeln können (früher hätte man von „Individual-Bildung“ geredet).

Die außergewöhnliche Hochzeit. Die Eheschließung in Indien ist zwar streng von der Religionszugehörigkeit abhängig, aber ein großes und vor allem buntes Fest. Doch trotz aller Feierlaune, kann die Zeremonie schnell nach hinten losgehen: Eine einfache Matheaufgabe hat in Indien eine Hochzeit verhindert. Weil ihr Bräutigam kurz vor der Trauung beim Rechnen versagte, verließ ihn seine Verlobte. Als der künftige Ehemann die Frage, was 15 plus 6 ergibt spontan mit „17" beantwortete, ließt die Braut die Party platzen. Ihre Begründung: Der Mann habe sie über seinen Bildungsstand getäuscht. Im Anschluss musste sogar die Polizei vermitteln und die bereits ausgetauschten Geschenke wurden zurückgegeben. Ein Happy End sieht anders aus.
Die außergewöhnliche Hochzeit. Die Eheschließung in Indien ist zwar streng von der Religionszugehörigkeit abhängig, aber ein großes und vor allem buntes Fest. Doch trotz aller Feierlaune, kann die Zeremonie schnell nach hinten losgehen: Eine einfache Matheaufgabe hat in Indien eine Hochzeit verhindert. Weil ihr Bräutigam kurz vor der Trauung beim Rechnen versagte, verließ ihn seine Verlobte. Als der künftige Ehemann die Frage, was 15 plus 6 ergibt spontan mit „17" beantwortete, ließt die Braut die Party platzen. Ihre Begründung: Der Mann habe sie über seinen Bildungsstand getäuscht. Im Anschluss musste sogar die Polizei vermitteln und die bereits ausgetauschten Geschenke wurden zurückgegeben. Ein Happy End sieht anders aus.

Im Alltag von heute bringt so der Bildungs-Konsum eine typische Paarbeziehung auf die Höhe unserer Gegenwart: das gemeinsame Konzertabonnement, der Freitagabend im Sterne-Restaurant, die Bildungsreise „auf den Spuren Darwins“ nach Galapagos, neben Liebhaberausgaben surrealistischer Gedichte mit Picasso-Zeichnungen als Weihnachtsgeschenk – und einmal im Leben Bayreuth (statt wie in einer „guten alten“ Zeit, die es vielleicht nie gegeben hat, Zeit für Sex – wenigstens einmal pro Woche). Sex scheint eher peripher geworden zu sein in der Paarbeziehung von heute. Gar Kinder zu haben, wäre unvereinbar mit den Bildungsfahrplänen zum gemeinsamen Glück – und sollten sich Kinder denn in die Freundschaft und Liebe des Paars schieben, dann werden sie seit dem ersten Tag ihres Lebens als Bildungsaufgabe interpretiert, an der die Partner nur wachsen können. Wohin sie wachsen, weiß niemand.


Titelbild: jing.dong / flickr.com (CC BY-NC 2.0)

Bilder im Text: Nathan Congleton / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)

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davitydave /flickr.com (CC BY 2.0)

Kiran Raja Bahadur / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)


Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm und Alina Zimmermann

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