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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an der Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidet er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
„Die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes“ („Vox populi vox Dei“), kein Satz könnte – wörtlich genommen – ein Programm des Populismus kompakter und positiver formulieren. Vom späten Mittelalter bis zur englischen „Glorious Revolution“ am Ende des 17. Jahrhunderts hat er in der europäischen Geschichte die Schritte vom Gottesgnadentum hin zur Volkssouveränität als eine Legitimationsformel politischer Macht begleitet. Vor diesem Hintergrund ist es zunächst erstaunlich, dass wir jene lateinischen Worte heute fast ausschließlich ironisch verwenden, mit kritischer Bezugnahme auf selbstherrliche Strukturen und Verhaltensweisen im politischen Leben, für die man auch – und ausgerechnet — den Begriff des „Populismus“ gebraucht.
Was wir Intellektuellen so gerne als „populistisch“ verdammen, sind – genauer – Strategien und Gesten, welche potenziell gefährliche Emotionen bei demographisch starken Wählergruppen mit niedrigem Bildungsniveau wecken sollen, um über deren Zustimmung politischen Einfluss und politische Ämter zu gewinnen. Die Aktivierung – je verschiedener – xenophobischer Impulse vor der britischen Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft und im laufenden Wahlkampf von Donald Trump sind die gegenwärtig eindringlichsten und deprimierendsten Beispiele des Populismus. Doch obwohl seine Praktiker und seine Kritiker selbstredend antagonistische Positionen im Spektrum der Politik einnehmen, teilen sie insgeheim dieselbe herablassende Konzeption von den Wählermehrheiten als „Massen“. Theorien über die Passivität der Massen, ihre Formbarkeit, Distanz zur Reflexion und Tendenz zur Leidenschaft (alles Stereotypen von Weiblichkeit übrigens) zu entwickeln und zu rezipieren, gehörte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu den Pflichtübungen einer selbsterklärten und politisch vielfarbigen Elite.
Für die Praktiker des Populismus war und bleibt es natürlich – im Gegensatz zu den Kritikern — entscheidend, ihre eigenen strategischen Reflexionen hinter einer Maske von reinem Charisma und transparenter Spontaneität zu verbergen. Denn sie müssen vermeiden, sich in einen Gegensatz zu jenem Anti-Intellektualismus zu manövrieren, an deren Entstehung unter den Massen ihnen durchaus gelegen ist. Wenn andererseits die kritischen Gebildeten den Massen jegliche Fähigkeit zum unabhängigen Urteilen und Handeln absprechen, so trauen die Massen ihrerseits den Intellektuellen – vielleicht ja sogar zurecht – keine Fähigkeit zu Wärme, Authentizität und ehrlicher Sorge zu. Die Unvermeidlichkeit genau dieser kritischen Reaktion bei den für unkritisch Gehaltenen könnte zum Hauptproblem von Hillary Clinton auf der Schlussstrecke des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes werden, während Donald Trumps Maske der Solidarität erstaunlicherweise von seinem – angeblichen (und jedenfalls ohne Zurückhaltung zur Schau gestellten) — Reichtum keinesfalls gefährdet scheint.
Die deutliche Schwäche der Kandidatin Clinton hat wohl auch zu tun mit einer Verschiebung des stärksten populären Negativ-Affekts von einer Ausrichtung auf die Intellektuellen hin zum Staat und seinen professionellen Repräsentanten. Dies mag international auf einen – gewiss auch selbstverschuldeten – Kursverfall des Intellektuellenprestiges in einer immer mehr von Stars und sogenannten „Celebrities“ („those who are famous for being famous“) bevölkerten Öffentlichkeit zurückgehen. In den Vereinigten Staaten freilich war seit den Gründungsjahren – das hatte bereits Karl Marx gesehen – eine Skepsis gegenüber dem Staat lebendig, welche etwa erklärt, warum sich so viele Paragraphen der amerikanischen Verfassung auf die Begrenzung seiner politischen Macht konzentrieren. Diese Tradition, auf der Donald Trump gerade wegen seines Mangels an politischer Erfahrung segelt und Hillary Clinton als Berufspolitkerin vom Schiffbruch bedroht ist, hat während des vergangenen Jahrzehnts auch Europa erreicht, wie die Erfolge neu entstandener populistischer Parteien (AfD) und neu gestylter Rechts-Parteien (Front Populaire) belegen.
All diese Aspekte fügen sich zu nicht mehr als einer bis in die Gegenwart reichenden klassischen Populismus-Analyse zusammen, deren Inhalte paradoxalerweise Populismus-Kritiker ebenso wie populistische Politiker voraussetzen. Obwohl ihnen an einer solchen Konvergenz ja wirklich nicht gelegen sein kann, gehen sie gemeinsam davon aus, über (verschiedene, aber angeblich immer) Erfolg garantierende Konzeptionen von Gesellschaft und Staat zu verfügen, für deren Realisierung sie – unter demokratischen Bedingungen – die Zustimmung der Massen brauchen. An den eigenen Werten und Bedürfnissen der Massen hingegen haben sie kaum Interesse, da sie sich selbst für intellektuell unendlich qualifizierter halten (und eineinhalb Jahrhunderte Geschichte belegen, dass diese Beschreibung sehr wohl die klassische und die verbleibende Linke der Gegenwart trifft).
Genau hier liegt aber auch die Chance zu einem ganz anderen „populistischen“ Umdenken in der politischen Praxis – und zu einer Selbstkritik der Eliten (die es in Europa natürlich nicht weniger als in Nordamerika gibt, solange es nur ihren Mitgliedern gelingt, den Gebrauch dieses Wortes als Selbstbeschreibung zu vermeiden). Für eine im wörtlichen Sinn verstandene Demokratie wäre ja schon viel gewonnen, wenn man Träume und Frustrationen der Massen als Symptome für existentielle Situationen ernst nähme, statt in ihnen ausschließlich einen Ansatzpunkt zum Gewinn von Beistimmung zu sehen. Selbst für diesen Kontrast zwischen einer eingefahrenen Konvention des Populismus und einem möglichen Neu-Ansatz bietet der Wahlkampf von Donald Trump denkbar deutliches Illustrationsmaterial. Vor allem durch seine permanente Rede von einem Schutzwall gegen mexikanische Immigranten hat er die Xenophobie und den Rassismus einer auf 20 bis 30 Millionen geschätzten Gruppe von amerikanischen Bürgern aktiviert, die sich selbst „White Trash“ nennen und normalerweise an Präsidentschaftswahlen gar nicht teilnehmen. In diesem Jahr aber ist aus der Möglichkeit eine Gefahr geworden, dass eben sie als erstmals aktive Wähler Trump zu einer Mehrheit verhelfen könnten – womit dann (wohl auch aus Trumps Perspektive) ihre strategische Funktion erfüllt wäre.
Ganz im Gegensatz zu anderen (meist demographisch weniger gewichtigen) Minderheiten kann der „White Trash“ vor allem aufgrund seines offenen Rassismus (und also aus plausiblen Gründen) auf keinerlei politische Lobby rechnen, obwohl der Großteil der Bürger, die zu dieser Gruppe gehören, de facto unter der Armutsgrenze lebt. Müsste es deshalb nicht eine vorrangige Selbstverpflichtung der nächsten Regierung sein – ob demokratisch oder republikanisch, sich auf diese soziale Schicht (trotz ihrer nicht salonfähigen Ideologien, ja trotz ihrer Verblendung) als eine innenpolitische Problemstruktur zu konzentrieren, sie finanziell zu unterstützen und durch langfristige Bildungsprogramme zu verändern?
Sollte der Kelch einer Wahl von Donald Trump zum Präsidenten an der amerikanischen Gesellschaft (und an der Menschheit) vorübergehen, dann könnte es tatsächlich seine Funktion – in einem ihm fremden geschichtsphilosophischen Sinn – gewesen sein, neue Aufmerksamkeit auf die Lage des „White Trash“ gelenkt zu haben. Wäre es in diesem Fall aber nicht die erste Aufgabe einer wahrhaft demokratischen – und im wörtlichen, aber veränderten Sinn populistischen – Regierung, nach den Gründen für die aggressiven Vorurteile in jener Gruppe zu fragen und auch nach den Motivationen für ihre Staatsferne, Politikphobie und mithin Distanz zu Ritualen wie etwa der Präsidentschaftswahl? Der „White Trash“ scheint seit Generationen alle Hoffnung auf das strukturelle Prinzip der Repräsentation durch råumlich ferne „Politiker“ aufgegeben zu haben – und ist vor allem deshalb nicht einmal mehr bereit, vom Staat Krankenversorgnung oder ein Minimaleinkommen zu akzeptieren, obwohl gerade er darauf angewiesen wäre. Zu sagen, dass eine Soziabilität in reiner körperlicher Präsenz, an der solchen Leuten liegt, proto-faschistisch sei (und, das wäre die beinahe automatisch sich einstellende deutsche Reaktion: an die nationalsozialistischen Parteitage erinnert), wird langfristig nicht weiterhelfen. Eher müssten Politiker und Intellektuelle versuchen, sich selbst neue – und vielleicht archaische – Formen einer anderen Soziabilität vorzustellen, mit denen sie verlorene Mitglieder der Gesellschaft zurückgewännen, oder auch neue politische Rituale, welche zu einer Alternative gegenüber den heute selbstverständlichen Politdimensionen von Distanz und vielschichtiger Vermittlung werden könnten. Erst damit näherten sie sich der nur scheinbar selbstverständlichen Möglichkeit an, Veränderungen der Gesellschaft an die Bedürfnisse der – „ungebildeten“ – Mehrheit anzupassen.
Die europaweit so offenbar einstimmig empörte Reaktion der Intellektuellen auf das Brexit-Votum war ein anderes Beispiel für die im problematischen Sinn anti-populistische Grundeinstellung. Vornehmlich alte und unterdurchschnittlich gebildete Wähler hätten sich gegen Europa ausgesprochen, wurde immer wieder hervorgehoben. War dabei unterstellt und gefordert, dass Bildung – wie es bis ins späte 19. Jahrhundert der Fall gewesen war – wieder zur notwendigen Bedingung für politische Partizipation werden muss? Oder sollte gar die – immer weiter um sich greifende, aber historisch gesehen relativ neue – Jugendeuphorie unserer Zeit zu einem Ausschluss der Bürger über dem Pensionsalter aus den Institutionen der politischen Willensbildung führen? Noch unerträglicher fand ich den immer wieder – mit Gesten exquisiten Weisheitsanspruchs – zelebrierten Satz, dass es „zu einem vereinten Europa eigentlich – auch für England – keine Alternative“ gebe. Dass es eine Alternative jedenfalls gab und weiter gibt, hatte der knappe Ausgang jener Abstimmung ja vorweg belegt. Ob sich diese Alternative in der Zukunft als positiv für der britische Gesellschaft erweisen wird, ist eine ganz andere Frage.
Mein verhaltenes Plädoyer für einen neuen Populismus setzt keinesfalls voraus, dass „das Volk“ oder „die Massen“ immer und notwendigerweise politischen Postitionen zum Durchbruch verhelfen, die man akzeptieren und unterstützen soll. Die Folgen jener Wahl vom Januar 1933, die auf legitime Weise Adolf Hitler zum deutschen Kanzler machte, werden hoffentlich als permanente Warnung Teil unserer geschichtlichen Erinnerung bleiben. Aber gewiss hätten schon damals die Parteien links und sogar rechts von der NSDAP (sie inszenierte sich ja als Arbeiterpartei!) gut daran getan, die Frustrationen und die Vorurteile jener Massen ernster zu nehmen, welche Hitlers Aufstieg ermöglichten.
Natürlich wird sich heute niemand mehr darauf einlassen, bedingungslos – oder auch nur ernsthaft – den Impulsen der sogenannten „Masse“ zu folgen. Aber es wird sich als langfristig gefährlich auswirken, wenn intellektuelle und politische Berufseliten weiterhin beanspruchten, dass sie eine höhere Kompetenz im Hinblick auf „ethische“ Fragen (wie man sie neuerdings wieder gerne nennt) beanspruchen können. „Populistisch“ in einem anderen Sinn sein, hieße auch nicht, die eigenen Impulse und (vermeintlichen?) Einsichten in Klammern zu setzen. Es müsste nur bedeuten, die Träume und Schmerzen der anderen als ebenso legitim und ebenso wichtig anzusehen wie die eigenen. Auf diesen Versuch jedenfalls käme es an, wenn den Intelligenzeliten daran liegen sollte, das 20. Jahrhundert als ihre große Zeit nicht nur kurzfristig zu überleben.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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