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Florian Gehm, gebürtiger Kieler, studiert seit 2012 an der Zeppelin Universität. Nach erfolgreichem Bachelorabschluss 2016 schließt er im Sommer 2017 voraussichtlich auch sein Masterstudium in „Politics, Administration and International Relations“ am Bodensee ab. Bisherige Praktika führten ihn unter anderem zum heute-journal nach Mainz, an die Ständige Vertretung Deutschlands bei den Vereinten Nationen in New York und ins Amerika-Studio von RTL. Im Sommer 2016 war er zur Unterstützung der 134. Kieler Woche im Rathaus der Stadt Kiel beschäftigt. Gehm gehörte zur Gründungsredaktion von ZU|Daily und arbeitet seit September 2014 als Redaktionskoordinator für das Online-Portal. Ehrenamtlich engagiert sich Gehm im Vorstand des Vereins Deutsche Model United Nations e.V., war Pressesprecher des Club of International Politics e.V. und Moderator beim Campusradio Welle20. Nach Studienende startet er als Teil von „Team 22“ an der Axel-Springer-Akademie in seine redaktionelle Ausbildung bei der WELT.
Als die rund 3.500 Delegierten, Journalisten und Gäste am regnerischen Sonntagvormittag die Arena Berlin am Treptower Park betreten, läuft im Hintergrund leiser Deutsch-Pop: „Hallo, Lieblingsmensch“ und „Einer von 80 Millionen“ reiht sich hier aneinander. Wer genauer hinhört, könnte jede Liedzeile auf den Kanzleraspiranten Martin Schulz umdichten. Martin Schulz, ein Kandidat aus dem Volk – eben „Einer von 80 Millionen“ und ein richtiger „Lieblingsmensch“. Die Playlist, die den langsamen Einzug von Delegierten und Gästen untermauert, ist der Auftakt eines sauber durchinszenierten, politischen Spektakels.
Der Begriff der Inszenierung geht auf die erste Nutzung durch August Lewald in Wien zurück – das war im Jahre 1818. Er etablierte den französischen Begriff „la mise en scène“ im deutschen Sprachgebrauch als „in Szene setzen“ und suchte damit eigentlich eine Beschreibung für den neu aufkommenden Beruf des Theaterregisseurs. Schnell gewann der Begriff im Sprachgebrauch an Bedeutung, schaffte 1846 den Sprung ins Allgemeine Theaterlexikon. Dort umfasste er alle Prozesse, in denen „das Ordnen des Personals und des Materials“ stattfindet, um einen bestimmten Effekt oder gewünschte Gefühle auszulösen. Die deutsche Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte hob den Begriff 2004 auf ein strategisches Level, definierte Inszenierung als einen „Vorgang der Planung“, als „Erprobung von Strategien“. So wird heute von der Gerichtsverhandlung über die Aktionärsversammlung bis hin eben zum Parteitag alles inszeniert. Für politische Veranstaltungen soll das Verbindlichkeit für politisches Handeln schaffen, den Machtanspruch von Politikern legitimieren und das Gemeinschaftsgefühl ins Unermessliche steigern. Während Rede an Rede dazu den rhetorischen Beitrag leisten, findet Inszenierung subtiler statt – vor allem durch räumliche und visuelle Botschaften.
So auch in der Arena Berlin, erbaut in den Goldenen Zwanzigern in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs als Depot für die Berliner Omnibusbetriebe. Hier soll der Schulzzug ins Rollen kommen. Wer den Raum betritt, staunt zuerst über einen Bruch mit der in Deutschland dominierenden hierarchisch-konfrontativen Sitzordnung. Wie bei einer Vereinsversammlung sitzen sich sonst auch bei Parteitagen die Spitze der Partei und die Delegierten gegenüber, während Redner nach Redner lehrreiche Worte an das Publikum richten. Statt einer schlichten Leinwand werden in Berlin hinter dem Rednerpult stolz die Ehrengäste und Neumitglieder präsentiert, die Parteispitze an den Rand gedrängt. Auf den Bildern in der Halle und in den Live-Übertragungen in alle Welt lächeln statt dem Parteilogo die junge Studentin und der altgediente Arbeiter in die Kamera, die dank Martin Schulz den Weg in die SPD gefunden haben. Schon 1961 warf man Willy Brandt eine Amerikanisierung seines Wahlkampfes vor. Auch 2017 hat die SPD kräftig auf die andere Seite des Atlantiks geschielt: So sprechen die Redner auf einem leicht vorgezogenen Pult und werden zu fast 360 Grad von Menschen umringt. In der Mitte des Volkes – „Einer von 80 Millionen“?
Neben diesem Novum setzen die Sozialdemokraten auf klassische räumliche Elemente: Die Presse ist am Ende des Saales angeordnet, die Lichtstimmung verdunkelt sich mit zunehmender Distanz von der Bühne, die Seiten der Veranstaltungshalle sind in samtiges Rot getaucht. Sogar Zonen für Stehplätze wurden eingerichtet, um dem enormen Interesse an Martin Schulz gerecht zu werden.
Auf sechs Leinwänden wird das Geschehen im Raum festgehalten, immer wieder zeigen sie Fotos von Martin Schulz – umringt von Menschen, die Schriftzüge wie „100 Prozent Leidenschaft“ tragen. Als Martin Schulz die Bühne betritt, soll ein kurzes Video die Menschen zum Jubeln anstiften, stürzt mehrfach ab und beweist eindrucksvoll, dass auch die beste Inszenierung den kleinen Leiden der Technik unterworfen ist. Der Stimmung tut dies keinen Abbruch, sie schwappt spätestens dann in völlige Begeisterung um, als ein stolzer Familienvater mit grinsendem Baby ins Bild geschnitten wird, während Martin Schulz für kostenlose Kindergartenplätze wirbt.
Die intelligente Bildregie schließt sich nahtlos an die durchdachte Inszenierung des sechsstündigen Events an, erzeugt ruhige Bilder, zeigt immer wieder das Publikum und folgt selbstverständlich auch Martin Schulz beim anfänglichen Bad in der Menge. Zwischen den Rednern verzichtet die SPD auf Programmpunkte, statt Moderatoren führt das Tagungspräsidium von Punkt zu Punkt und umgeht damit Experimente, wie einst die CSU, bei der während eines Parteitages Delegierte live in der Halle zum Geschehen befragt wurden. Statt auf wummernde Bässe setzt die Partei auf den tosenden Applaus der Gäste und belohnt sich mit unzähligen stehenden Ovationen während der Rede von Schulz selbst dafür.
Einzig die Töne von Coldplays Megahit „Viva la Vida“ erklingen, als Sigmar Gabriel den Staffelstab an Martin Schulz übergibt. Im Lied wacht der scheidende König nun wieder alleine auf, kehrt die Straßen, die er einst regierte. Ob die Parteitagsregie dabei wirklich auf jede einzelne Zeile geachtet hat? Doch wem nur Sekunden später der Schlachtruf „Der alte König ist tot, lang’ lebe der König“ aus eben diesem Song in den Sinn kommt, der ist sich wieder sicher: Die Schulzfestspiele sind in vollem Gange!
Titelbild:
| Florian Gehm (alle Rechte vorbehalten)
Bilder im Text:
| Florian Gehm (alle Rechte vorbehalten)
Text (redaktionell unverändert): Florian Gehm
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm