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Wenn die Kunst zum Betrachter wird
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Kunstsommer in Venedig, Kassel und Basel

Wenn die Kunst zum Betrachter wird

von Prof. Dr. Karen van den Berg | Zeppelin Universität
28.06.2017
Die neuen Realkünste führen ihrem Publikum vor Augen, dass es sich lohnt, die Wirklichkeit, in der wir leben, wie mit einer Lupe abzutasten, sie sichtbar und erfahrbar zu machen, ihre Abgründe schonungslos auszuleuchten und sich von ihrer Schönheit ergreifen zu lassen.

Prof. Dr. Karen van den Berg
Lehrstuhl für Kunsttheorie & Inszenatorische Praxis
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Karen van den Berg

    Professor Dr. Karen van den Berg ist Professorin für Kunsttheorie und Inszenatorische Praxis an der Zeppelin Universität. Sie studierte Kunstwissenschaft, Klassische Archäologie und Nordische Philologie in Saarbrücken und Basel, wo sie auch promovierte. Von 1993 bis 2003 war sie Dozentin für Kunstwissenschaft am Studium fundamentale der Privatuniversität Witten/Herdecke. Seit 1988 realisiert sie als freie Ausstellungskuratorin zahlreiche Ausstellungsprojekte in öffentlichen Räumen und in Kunstinstitutionen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Kunst und Öffentlichkeit, Kunstvermittlung und Politik des Zeigens, Kunst und Emotionen, Rollenmodelle künstlerischen Handelns sowie die sozialen Effekte von Bildungsarchitekturen.  

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Wechselt die Kunst in diesen postfaktischen Zeiten die Seiten? Ist sie es, die plötzlich das Reale zur Erfahrung bringt und sauber recherchierte dokumentarische Arbeit leistet? Fühlen Künstler, deren gesellschaftliche Aufgabe doch ehedem in der Fabrikation des Imaginären bestand, sich plötzlich berufen, der gegenwärtigen quick-reaction-Kommunikation präzise Analysen und scharfe Wirklichkeitsbeobachtungen entgegenzustellen? Diesen Eindruck könnte man gewinnen, wenn man die diesjährigen Großereignisse der Kunst bereist und die Biennale in Venedig, die documenta in Kassel und die Kunstmesse Art Basel besucht.


An allen drei Orten berichten große Filmpanoramen über Flucht, Einzelschicksale und Identitätspolitik oder dokumentieren die Arbeit politischer Bewegungen. Überall machen Performances die reale Gegenwart erfahrbar und fordern dazu heraus, seinen eigenen Standpunkt zu überprüfen und nach zu justieren.

Die Installation der argentinischen Künstlerin Marta Minujin „The Parthenon of Books“ zählt ohne Frage zu den sichtbarsten Ausstellungsstücken der diesjährigen documenta – und gilt als Highlight der Kasseler Ausstellung. 50.000 Bücher winden sich in bis zu 14 Meter Höhe um ein Metallgerüst, das einen maßstabsgetreuen Nachbau des griechischen Vorbilds in Athen darstellt. Zweifelsfrei ist die Installation damit einer der aufwendigsten Werke der Kunstschau. Bereits im Oktober 2016 startete das documenta-Team einen Spendenaufruf auf der Frankfurter Buchmesse: Privatleute und Verlage wurden aufgefordert, Bücher mit einer besonderen Geschichte zu spenden, nämlich solche, die ehemals verboten waren oder es noch immer sind. Damit ist das Kunstwerk eine Bild gewordene Bibliothek verbotener Bücher: „Marta Minujins Projekt sprengt allerdings die Dimensionen dieser Bibliotheken: Denn die Installation steht pars pro toto für alle jemals verbotenen Bücher weltweit und wird damit zu einer Art Mahnmal, einem temporären Memorial für die Freiheit der Gedanken und Weltsichten. Das ,Parthenon of Books‘ beweist vor allem, dass das kollektive Gedächtnis der Menschheit stärker ist als alle Verbote und Zensurmaßnahmen“, lobt so etwa Deutschlandfunk Kultur.
Die Installation der argentinischen Künstlerin Marta Minujin „The Parthenon of Books“ zählt ohne Frage zu den sichtbarsten Ausstellungsstücken der diesjährigen documenta – und gilt als Highlight der Kasseler Ausstellung. 50.000 Bücher winden sich in bis zu 14 Meter Höhe um ein Metallgerüst, das einen maßstabsgetreuen Nachbau des griechischen Vorbilds in Athen darstellt. Zweifelsfrei ist die Installation damit einer der aufwendigsten Werke der Kunstschau. Bereits im Oktober 2016 startete das documenta-Team einen Spendenaufruf auf der Frankfurter Buchmesse: Privatleute und Verlage wurden aufgefordert, Bücher mit einer besonderen Geschichte zu spenden, nämlich solche, die ehemals verboten waren oder es noch immer sind. Damit ist das Kunstwerk eine Bild gewordene Bibliothek verbotener Bücher: „Marta Minujins Projekt sprengt allerdings die Dimensionen dieser Bibliotheken: Denn die Installation steht pars pro toto für alle jemals verbotenen Bücher weltweit und wird damit zu einer Art Mahnmal, einem temporären Memorial für die Freiheit der Gedanken und Weltsichten. Das ,Parthenon of Books‘ beweist vor allem, dass das kollektive Gedächtnis der Menschheit stärker ist als alle Verbote und Zensurmaßnahmen“, lobt so etwa Deutschlandfunk Kultur.

In Venedig führt die Künstlerin Anne Imhof im deutschen Pavillon hinter meterhohen Gitterzäunen und unter Glasböden auf machtvolle Weise die Leere des Daseins vor Augen. Unter dem Titel „Faust“ treten hier Performer/innen in einem verstörenden Menschenzoo auf – umgeben von einem Hundezwinger mit beängstigenden Dobermännern. Und Candice Breitz zeigt im südafrikanischen Pavillon Flüchtlinge, die vor der Kamera ihre Geschichte erzählen. Im aserbaidschanischen Pavillon berichten Menschen mit unterschiedlichsten ethnischen und religiösen Hintergründen des Vielvölkerstaates über die für sie einschneidenden biografischen Ereignisse. Lisa Reihana entwirft im neuseeländischen Pavillon ein großes Panorama, das Captain Cooks kolonialistischen Blick auf die Südsee entfaltet.

Auch auf der documenta sind die beeindruckendsten Arbeiten umfangreiche Filmprojekte und performative Interventionen. So dokumentiert etwa Angela Melitopoulos’ Video und Soundinstallation „Crossings“ (2017), die gemeinsam mit dem Sozialphilosoph Maurizio Lazzarato entstand, in ergreifenden Bildern und Klangwelten die Aktivitäten von verschiedensten politischen Bewegungen. Und Mounira Al Solh baut mit der Installation „Nassib’s Bakery“ (2017) den elterlichen Familienbetrieb in Beirut nach, der von Bomben zerstört wurde. Das Londoner Kollektiv „Forensic Architecture“ rekonstruiert den Kasseler NSU-Mord an Halit Yozgat im April 2006, in den der Undercover-Agent Andreas Temme verwickelt war. Im Fridericianum trifft man auf Oliver Resslers Installation „What Is Democracy?“ (2007-2009), in dem Aktivist/innen und Theoretiker/innen die parlamentarisch repräsentative Demokratie kritisch beleuchten und in eindringlichen Worten und Bildern alternative Überlegungen erörtern. Ergreifend und erschütternd ist auch Köken Erguns Zwei-Kanal-Videodokumentation „I Soldier“ (2005), die paramilitärische Zeremonien des türkischen Nationalfeiertags einfängt. Die Migrationsgeschichte des großen litauischen Filmregisseurs Jonas Mekas wird in Kasseler Kinos gleich zweimal gezeigt, einmal eingefangen vom schottischen Künstler Douglas Gordon und einmal als autobiografisches Super-Acht-Filmdokument von 1972. Um das Thema Migration geht es auch bei dem irakisch-deutschen Künstler Hiwa K., der im Außenraum aufgetürmte Kanalröhren zeigt, die als bizarre Behelfswohnungen möbliert sind und an seine eigene Flucht aus dem Irak erinnern.

Zum 48. Mal findet die Art Basel – hier das Eingangstor zur Halle im Jahr 2011 – aktuell statt. In der weitläufigen Messehalle 1 erwarten die Besucher 76 großangelegte Werke. Und genau mit diesen Kunstwerken gelingt der Art Basel in diesem Jahr, was die documenta in Kassel oder die Biennale in Venedig hätten schaffen sollen, lobt etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Unübersehbar ist die Abkehr von der vorübergehend zur Norm erhobenen Entsinnlichung. Die allfälligen ,Post‘-Ismen, die da postmodern oder zuletzt postdigital hießen, sind abgedankt. Es lässt sich nur vermuten, dass eine neue junge Generation keine Lust mehr hat auf Entkörperlichung und zerfließende Identität.“ Insgesamt 291 Aussteller aus 35 Länder sind dieses Mal in Basel dabei – der Schwerpunkt liegt überwiegend auf Europa und westlicher Kunst. Damit leistet die Kunstschau einen wichtigen Beitrag dazu, das abzubilden, was der Markt gerade hergibt. „Und in dieser Abbildungsfunktion übertrifft sie schlicht jede andere Leistungsschau dieser Art. Die Art Basel ist und bleibt der Seismograph für diese Bewegungen.“
Zum 48. Mal findet die Art Basel – hier das Eingangstor zur Halle im Jahr 2011 – aktuell statt. In der weitläufigen Messehalle 1 erwarten die Besucher 76 großangelegte Werke. Und genau mit diesen Kunstwerken gelingt der Art Basel in diesem Jahr, was die documenta in Kassel oder die Biennale in Venedig hätten schaffen sollen, lobt etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Unübersehbar ist die Abkehr von der vorübergehend zur Norm erhobenen Entsinnlichung. Die allfälligen ,Post‘-Ismen, die da postmodern oder zuletzt postdigital hießen, sind abgedankt. Es lässt sich nur vermuten, dass eine neue junge Generation keine Lust mehr hat auf Entkörperlichung und zerfließende Identität.“ Insgesamt 291 Aussteller aus 35 Länder sind dieses Mal in Basel dabei – der Schwerpunkt liegt überwiegend auf Europa und westlicher Kunst. Damit leistet die Kunstschau einen wichtigen Beitrag dazu, das abzubilden, was der Markt gerade hergibt. „Und in dieser Abbildungsfunktion übertrifft sie schlicht jede andere Leistungsschau dieser Art. Die Art Basel ist und bleibt der Seismograph für diese Bewegungen.“

Auch auf der Verkaufsmesse Art Basel konnte man diesmal nicht nur im Beiprogramm, sondern auch auf den Messeständen zahlreiche Performances und dokumentarische Arbeiten entdecken. Unter den 76 Großinstallationen auf der Art Unlimited – jenem Ausstellungsbereich, der große Arbeiten und Installationen zeigt, die auf den Messeständen keinen Platz fänden und nur von Sammlern erworben werden können, die Museumsformat einkaufen – traf man etwa auf den Küchenpavillon des Inders Subodh Gupta. In diesem aus Kochtöpfen und Pfannen gebauten Haus wurde für Besucher gekocht. Auch auf der Art Unlimited gab es eine ganze Reihe Arbeiten zu sehen, die vor allem Lebensrealitäten vor Augen stellen. Ein Beispiel hierfür war die rasante Filmarbeit „The Challenge“ (2016) von Yuri Ancarani. In mitreißenden Bildern hält der italienische Künstler die exzentrischen Autorennen und Falkenjagd-Events der superreichen Oberklasse in Katar fest. Dokumentarischen Charakter hatten in diesem kuratierten Teil der Messe auch die aufrüttelnden Bilder des ukrainischen Künstlers Boris Mikhailov.

An allen drei Orten werden natürlich vor allem Malereien, Fotografien und Skulpturen ausgestellt. Insgesamt fällt aber dennoch der deutliche Trend zur Präsentation des Realen über die Medien Film und Performance auf. Nicht immer gelingt dabei das Eingreifen in die soziale Wirklichkeit in angemessener Form. Ólafur Elíassons „Green light – An artistic workshop“ in Venedig etwa, in dem Geflüchtete vor den Augen der Besucher/innen vorgefertigte Teile zu Lampen zusammensetzen, scheint der Übertritt in die soziale Welt jenseits des Kunstbetriebes vollkommen misslungen. Wenn das Kunstpublikum die Geflüchteten mit dem Smartphone fotografiert und dann für 250 Euro eine Lampe erwirbt, so bespiegelt sich das Kunstpublikum auf peinliche Weise selbst.

Die Touristenhochburg Venedig wird jedes Jahr auch zum Mekka für Kunstinteressierte. Bei der 57. Biennale lässt sich in diesem Jahr ein Rückzug ins Private beobachten, eine Besinnung auf jeden Einzelnen. So zeigt etwa die Schau „Viva Arte Viva“ in neun thematischen Abschnitten, wie Kunst entsteht, womit sie sich beschäftigt und welche Fragen sie stellt. Sie beginnt mit dem Innenleben des Künstlers und seiner Kreativität, widmet sich dann in weiteren Abschnitten Gefühlen, der Gemeinschaft und der Umwelt. Es geht um künstlerische Tradition, um Spiritualität und über die Frau und ihre Sexualität, es gibt einen Ausstellungsteil nur über Farben und schließlich einen über Zeit und Unendlichkeit. Auch Deutschland ist in diesem Jahr vielfältig in Italien vertreten: Insgesamt sechs deutsche Einzelkünstler zeigen Werke in der Hauptausstellung, viele weitere der insgesamt 120 eingeladenen Künstler leben und arbeiten in Berlin. Und damit leisten sie alle einen wichtigen Beitrag – nicht nur für die Kunst, sondern auch für das alltägliche Leben: „Die Kunst kann die Welt nicht verändern“, sagte Biennale-Präsident Paolo Baratta zur Eröffnung. „Aber sie hilft uns dabei, uns mit uns selbst zu versöhnen und menschlich zu bleiben in diesen schwierigen Tagen.“
Die Touristenhochburg Venedig wird jedes Jahr auch zum Mekka für Kunstinteressierte. Bei der 57. Biennale lässt sich in diesem Jahr ein Rückzug ins Private beobachten, eine Besinnung auf jeden Einzelnen. So zeigt etwa die Schau „Viva Arte Viva“ in neun thematischen Abschnitten, wie Kunst entsteht, womit sie sich beschäftigt und welche Fragen sie stellt. Sie beginnt mit dem Innenleben des Künstlers und seiner Kreativität, widmet sich dann in weiteren Abschnitten Gefühlen, der Gemeinschaft und der Umwelt. Es geht um künstlerische Tradition, um Spiritualität und über die Frau und ihre Sexualität, es gibt einen Ausstellungsteil nur über Farben und schließlich einen über Zeit und Unendlichkeit. Auch Deutschland ist in diesem Jahr vielfältig in Italien vertreten: Insgesamt sechs deutsche Einzelkünstler zeigen Werke in der Hauptausstellung, viele weitere der insgesamt 120 eingeladenen Künstler leben und arbeiten in Berlin. Und damit leisten sie alle einen wichtigen Beitrag – nicht nur für die Kunst, sondern auch für das alltägliche Leben: „Die Kunst kann die Welt nicht verändern“, sagte Biennale-Präsident Paolo Baratta zur Eröffnung. „Aber sie hilft uns dabei, uns mit uns selbst zu versöhnen und menschlich zu bleiben in diesen schwierigen Tagen.“

Eine besondere Herausforderung der neuen Realismen besteht aber auch bei den wirklich sehenswerten Beiträgen in der Eigenzeit der Werke. Mehr denn je muss man Ausdauer und Zeit mitbringen. Yuri Ancaranis „The Challenge“ (2016) in Basel etwa dauert 69 Minuten – ein Filmformat, das man noch vor wenigen Jahren kaum für messetauglich erachtet hätte. Die Installation von Angela Melitopoulos auf der documenta dauert ganze 109 Minuten. Um Anne Imhofs „Faust“ auf der Biennale sehen zu können, muss man sich schon vorher auf Wartezeiten einstellen.

Doch gerade hierin zeigt sich auch eine ganz eigene Widerständigkeit. Denn diese neuen Realkünste führen ihrem Publikum vor Augen, dass es sich lohnt, die Wirklichkeit, in der wir leben, wie mit einer Lupe abzutasten, sie sichtbar und erfahrbar zu machen, ihre Abgründe schonungslos auszuleuchten und sich von ihrer Schönheit ergreifen zu lassen. Dabei zwingen sie uns auch dazu, uns dafür Zeit zu nehmen. Ja, selbst die Kunstmesse verwehrt zunehmend das bloße Flanieren, auch hier scheint in diesen Zeiten das Flanieren nicht mehr der angemessene Weltzugang. Selbst mitten im kommerziellen Kunstbetrieb wird verlangt, genauer hinzuschauen, zu verweilen und zu versuchen zu verstehen, in welcher Welt wir leben.

Titelbild: 

| Unsplash.com / Pexels.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

| Karen van den Berg (Foto: privat)

g.sighele: Art Basel 2011 (CC BY 2.0) | Link

| JuliaAK / Pexels.com (CC0 Public Domain) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Karen van den Berg

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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