Die politische Verantwortung der SPD
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Deutschland nach der Wahl

Die politische Verantwortung der SPD

von Prof. Dr. Joachim Behnke | Zeppelin Universität
05.10.2017
Man kann vielleicht sagen, der SPD mangelt es an Killerinstinkt. Aber wenn dies der Grund ihres ,Versagens‘ sein sollte, dann ist es wohl gut, dass sie versagt hat.

Prof. Dr. Joachim Behnke
Lehrstuhl für Politikwissenschaft
 
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    Prof. Dr. Joachim Behnke

    Joachim Behnke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Politikwissenschaften. Er hat Theaterwissenschaft, Philosophie, Kommunikationswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Wahlsystem und Wählerverhalten. Außerhalb der Universität engagiert sich Behnke als Sprecher verschiedener Arbeitskreise in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und ist als Stiftungsberater tätig.  

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Das Ergebnis der Wahl vom 24. September hat viele Aspekte, die uns sicherlich noch längere Zeit beschäftigen werden. Man kann wohl sogar behaupten, dass in mancherlei Hinsicht Zäsuren gesetzt wurden, die die politische Landschaft in Deutschland von Grund auf verändert haben.


Das am meisten thematisierte Thema nach der Wahl ist wohl der Einzug der AfD. Das gute Abschneiden der AfD ist unerfreulich, aber damit lässt sich letztlich umgehen. Als wirklich schmerzlich muss hingegen das katastrophale Ergebnis der SPD gewertet werden. Um Missverständnissen von Vornherein vorzubeugen: Ich selbst habe die SPD nie gewählt. Wer in den 80ern politisch sozialisiert wurde und progressiv sein wollte, hatte eine andere Option. Wenn die SPD 20 Prozent erhält, ist das nicht nur ein Problem für die SPD, sondern für uns alle. Denn die historische Evidenz zeigt auf überzeugende Weise, dass die SPD der bedeutendste politische Impulsgeber für gesellschaftliche Fortschritt in der Entwicklungsgeschichte der BRD ist. Die überwiegende Anzahl der fundamentalen Reformen und Weichenstellungen erfolgte in Regierungen, die entweder von der SPD geführt wurden oder in denen sie wichtige Schlüsselpositionen besetzte.

Als die sozialdemokratische Welt noch in Ordnung war, wurde aus dem Europapolitiker Martin Schulz der SPD-Kanzlerkandidat und Parteivorsitzende „St. Martin“. Euphorisch feiert die Parteibasis ihren neuen Chef beim SPD-Parteitag im März in Berlin mit 100 Prozent Zustimmung. Ein halbes Jahr später will sich die SPD schon wieder neu aufstellen und auch die Personalie Martin Schulz steht nach dem Wahldesaster wieder zur Debatte. Mit 20,5 Prozent erzielte die Partei ihr schlechtestes Nachkriegsergebnis. Im ARD-Morgenmagazin kommentierte Generalsekretär Hubertus Heil zur Zukunft von Schulz: „Er hat erklärt, dass er wieder kandidieren wird. Er hat großen Rückhalt.“ Allerdings müsse man in der SPD darüber reden, ob wir „auf der Höhe der Zeit sind.“ FDP-Konkurrent Christian Lindner ist hingegen überzeugt, dass Schulz schon in wenigen Wochen nicht mehr die Höhe der Zeit sein wird. In der Bild am Sonntag geht er davon aus, dass Schulz in spätestens vier Wochen abdanke – und sich die SPD dann auch der Großen Koalition erneut öffne.
Als die sozialdemokratische Welt noch in Ordnung war, wurde aus dem Europapolitiker Martin Schulz der SPD-Kanzlerkandidat und Parteivorsitzende „St. Martin“. Euphorisch feiert die Parteibasis ihren neuen Chef beim SPD-Parteitag im März in Berlin mit 100 Prozent Zustimmung. Ein halbes Jahr später will sich die SPD schon wieder neu aufstellen und auch die Personalie Martin Schulz steht nach dem Wahldesaster wieder zur Debatte. Mit 20,5 Prozent erzielte die Partei ihr schlechtestes Nachkriegsergebnis. Im ARD-Morgenmagazin kommentierte Generalsekretär Hubertus Heil zur Zukunft von Schulz: „Er hat erklärt, dass er wieder kandidieren wird. Er hat großen Rückhalt.“ Allerdings müsse man in der SPD darüber reden, ob wir „auf der Höhe der Zeit sind.“ FDP-Konkurrent Christian Lindner ist hingegen überzeugt, dass Schulz schon in wenigen Wochen nicht mehr die Höhe der Zeit sein wird. In der Bild am Sonntag geht er davon aus, dass Schulz in spätestens vier Wochen abdanke – und sich die SPD dann auch der Großen Koalition erneut öffne.

Dies fängt an mit der Großen Koalition von 1966 bis 1969, also Brandts Außenpolitik, Schillers Stabilitäts- und Wachstumsgesetz und last but not least die fundamentalen Justizreformen von Heinemann, insbesondere beim Sexualstrafrecht (bis dahin strafbar: Homosexualität und Kuppelei, das heißt die Vermieterin, die ihrem Studenten erlaubte, seine Freundin übernachten zu lassen, konnte dafür ins Gefängnis kommen). Es war die SPD, die Deutschland in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre in die (damalige) Gegenwart katapultierte und zu einer modernen Gesellschaft gemacht hat. Fairerweise muss zugegeben werden, dass auch Erhard durchaus zumindest in Ansätzen ein Modernisierer war, der jedoch an der eigenen Partei scheiterte, sodass seine Kanzlerschaft nur noch als Übergangsperiode gilt. Die Rolle der SPD als Reformmotor lässt sich von den 70ern bis in die Gegenwart verfolgen, vom Mitbestimmungsgesetz über die Weiterentwicklung des Staatsbürgerrechts unter Rot-Grün (wobei hier wohl eher die Grünen der ausschlaggebende Akteur waren) bis hin zur Einführung des Mindestlohns und den von Maas angestoßenen Justizreformen. Wer zudem jemals gehört hat, wie Menschen in den 60ern den Satz sagen „Ich bin der erste aus meiner Familie, der studiert hat und ich weiß, wem ich das zu verdanken habe, nämlich Willy Brandt und der SPD.“, wer diesen Satz gehört hat – und ich habe ihn oft gehört –, der begreift, wie eine Partei die Lebenschancen von Menschen zum Besseren verändern beziehungsweise was Politik an sich bewirken und für die Menschen bedeuten kann.

Nun, man soll eine Partei nicht wegen ihrer Verdienste in der Geschichte wählen, und das Ergebnis der SPD zeigt, dass sich auch nicht viele Bürger diesem Grundsatz verpflichtet fühlen. Aber wenn die Bedeutung der SPD schwindet, muss jeder, dem soziale Gerechtigkeit irgendetwas bedeutet, die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft mit Sorge betrachten. Und mir persönlich wird immer schleierhaft bleiben, wie jemand soziale Gerechtigkeit nicht für wichtig erachten kann. Ich kenne natürlich die Gegenargumente sogenannter „Realisten“, in der Politik gehe es nicht immer um Gerechtigkeit. Die einfache und schlichte Antwort lautet: Doch. Es geht nicht nur um Gerechtigkeit und nicht um Gerechtigkeit zu jedem Preis, aber es geht immer auch um Gerechtigkeit zum angemessenen Preis. Wer die Gerechtigkeit für nicht zuständig erklärt, ist kein Realist, sondern verfolgt eben eine bestimmte Agenda, auf die ich hier nicht näher eingehen will.


Wenn man „links sein“ auf die denkbar einfachste Weise definieren will, dass es dabei um die Umsetzung von Gerechtigkeit, insbesondere sozialer Gerechtigkeit geht, dann bedeutet dies aber eben auch, dass die Antwort auf das Desaster der letzten Wahl für die SPD nicht darin bestehen kann, sich weiter links von der Mitte zu positionieren, sondern dass sie sich der herkuleischen Aufgabe stellen muss, die Mitte wieder „linker“ zu machen. Sozialdemokratisierung der CDU hin oder her, die SPD ist die einzige Kraft in Deutschland, die diese herkuleische Aufgabe stemmen könnte.

Wenn Andrea Nahles die SPD auf Oppositionskurs bringt, dann kriegt der politische Gegner schon mal ordentlich „in die Fresse“. So kämpferisch übernahm die 47-Jährige als erste Frau in der Geschichte der SPD-Bundestagsfraktion den Vorsitz der sozialdemokratischen Abgeordneten. Unterschätzt wird Nahles in der SPD trotzdem nicht. Keine ist so gut vernetzt wie sie, auch unter den „Jungs“, wie sie ihre männlichen Parteikollegen nennt. Ihr Vorbild, sagt Nahles, sei Peter Struck, der bei ihrem Einzug in den Bundestag nach der Bundestagswahl 1998 ihr erster Fraktionsvorsitzender war. Struck habe auch zu rot-grünen Regierungszeiten die eigenständige Rolle des Parlamentarismus stets sehr ernst genommen und „für Disziplin“ gesorgt. „Alles Dinge, die Sie später auch mal gerne über mich sagen dürfen.“
Wenn Andrea Nahles die SPD auf Oppositionskurs bringt, dann kriegt der politische Gegner schon mal ordentlich „in die Fresse“. So kämpferisch übernahm die 47-Jährige als erste Frau in der Geschichte der SPD-Bundestagsfraktion den Vorsitz der sozialdemokratischen Abgeordneten. Unterschätzt wird Nahles in der SPD trotzdem nicht. Keine ist so gut vernetzt wie sie, auch unter den „Jungs“, wie sie ihre männlichen Parteikollegen nennt. Ihr Vorbild, sagt Nahles, sei Peter Struck, der bei ihrem Einzug in den Bundestag nach der Bundestagswahl 1998 ihr erster Fraktionsvorsitzender war. Struck habe auch zu rot-grünen Regierungszeiten die eigenständige Rolle des Parlamentarismus stets sehr ernst genommen und „für Disziplin“ gesorgt. „Alles Dinge, die Sie später auch mal gerne über mich sagen dürfen.“

Wenn die SPD diese Rolle nun in der Opposition ausführen will und ihr deshalb vorgeworfen wird, sie entziehe sich ihrer „staatspolitischen Verantwortung“, so kann dies nur als Unverschämtheit bezeichnet werden. In der Flüchtlingspolitik hat die SPD in fast selbstzerstörerischer Weise ihre staatspolitische Verantwortung bewiesen, als sie es aus einer geradezu altmodisch anmutenden Anständigkeit heraus unterlassen hat, billige Punkte zu machen und in den trüben Gewässern der Stimmungsmache zu fischen. Man kann vielleicht sagen, der SPD mangelt es an Killerinstinkt. Aber wenn dies der Grund ihres „Versagens“ sein sollte, dann ist es wohl gut, dass sie versagt hat. Andere Parteien aus dem etablierten Lager, selbst aus der Regierungskoalition, denen es an besagtem Killerinstinkt nicht mangelte, sind hier der Versuchung erlegen, ihren Vorteil durch Befeuerung der Hysterie zu suchen (auch wenn sie ihn nicht unbedingt gefunden haben).


Das soll keineswegs heißen, dass alles an Merkels Politik von 2015 richtig war, das bestimmt nicht. Aber in Krisenzeiten ist „Ruhe bewahren“ eben nicht nur Bürgerpflicht, sondern auch die der Parteien. Die SPD hat gezeigt, dass die Übernahme von Verantwortung immer gleichbedeutend damit ist, in entscheidenden Situationen auch Opfer zu bringen und Handlungen zu begehen oder zu unterlassen, deren Durchführung beziehungsweise Unterlassung einem Schaden zufügen oder zumindest mit dem erkennbaren Risiko verbunden sind, Schaden zu erleiden. Vielleicht braucht unsere Gesellschaft daher auch gar nicht mehr SPD, mehr vom Geist der SPD, ihrem Mut und ihrer Gradlinigkeit aber braucht sie sicherlich.

Titelbild: 

| FelixMittermeier / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

Olaf Kosinsky / Eigenes Werk (CC BY-SA 3.0 de) | Link

| Sandro Halank / Wikimedia Commons (CC-BY-SA 3.0) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Joachim Behnke

Redaktionelle Umsetzung: CvD

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