Vom Exoten zum Trendsetter
NAVIGATION

Wirtschaftsnobelpreis an Richard H. Thaler

Vom Exoten zum Trendsetter

von Prof. Dr. Lucia A. Reisch | Zeppelin Universität
08.12.2017
Die grundlegendste Aussage und damit der wichtigste disziplinäre Fortschritt seiner Arbeiten kann man stark verkürzt so wiedergeben: Die Wirtschaft wird von Menschen gestaltet.

Prof. Dr. Lucia A. Reisch
Gastprofessur für Konsumverhalten und Verbraucherpolitik und Leiterin des Forschungszentrums Verbraucher, Markt und Politik
 
  •  
    Zur Person
    Prof. Dr. Lucia A. Reisch

    Lucia A. Reisch, 1964 in Stuttgart geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften in Hohenheim und schloss 1988 als Diplomökonomin ab. In Hohenheim promovierte sie 1994 summa cum laude. Nach Tätigkeiten in Stuttgart, Kopenhagen oder Ludwigsburg ist sie seit 2011 ständige Gastprofessorin für Konsumforschung und
    Verbraucherpolitik an der Zeppelin Universität. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten Verbraucherschutz, Nachhaltigkeit, Verhaltensökonomik und Gesundheitswissenschaften. Darüber hinaus ist sie unter anderem Vorsitzende des unabhängigen Sachverständigenrats für Verbraucherfragen, Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung und Chefredakteurin des Journal of Consumer Policy.  

  •  
    Factbox
    Überschrift Factbox

    (2014) [Cass R. Sunstein & Lucia A. Reisch]. Automatically green: Behavioral economics and environmental protection. Harvard Environmental Law Review, 38(1), 127-158.

    (2017) [Cass R. Sunstein & Lucia A. Reisch (Hrsg.)]. The economics of nudge. Routledge Major Works Collection. Series: Critical Concepts in Economics. London: Routledge, 4 Bände.

    (2017) [Cass R. Sunstein, Lucia A. Reisch & Julius Rauber]. A worldwide consensus on nudging? Not quite, but almost. Regulation & Governance

    (2017) [Lucia A. Reisch & Min Zhao]. Behavioural economics, consumer behaviour, and consumer policy: State of the art. Behavioural Public Policy, 1(2)

  •  
    Mehr ZU|Daily
    Was antworten Nobelpreisträger?
    Mit einer Frage machte sich ZUler Martin Siddiqui auf den Weg zum 5th Lindau Meeting on Economic Sciences. Antwort bekam er nicht nur von einem Wirtschafts-Nobelpreisträger, sondern gleich von drei Laureaten. Und die hat er für ZU|Daily zusammengefasst.
    Über Christopher Sims
    Mit von der Partie der Lindau Nobel Laureate Meetings 2014: ZUler Martin Siddiqui und Nobel-Preisträger Christopher Sims. Für die Nicht-Ökonomen unter uns: Wer ist das? Wie sieht er aus? Was hat es mit dem Wirtschafts-Nobelpreis auf sich? Wer klickt, sieht mehr.
    Auf Sinnsuche mit Bob Dylan
    Der US-Sänger Bob Dylan könnte als „enfant terrible“ in die Geschichte des Literaturnobelpreises eingehen – denn die Auszeichnung kümmert ihn kaum. Warum er den Preis trotzdem bekommt? Die Antwort weiß Dr. Veronika Caspers: 1992 schrieb sie ihre Magisterarbeit zu seinem Buch Tarantula.
  •  
     
    Hä...?
    Haben Sie Fragen zum Beitrag? Haben Sie Anregungen, die Berücksichtigung finden sollten?
    Hier haben Sie die Möglichkeit, sich an die Redaktion und die Forschenden im Beitrag zu wenden.
  •  
    Teilen

Im Sommer 2017 saß ich bei einem Abendessen an der Stockholm School of Economics neben zwei schwedischen Kollegen, die dem Nobelpreiskomitee angehören. Wie so häufig in Stockholm, so drehte sich auch dieses Gespräch um den diesjährigen Wirtschaftsnobelpreis. Ich konnte ich es nicht lassen, den beiden meinen Favoriten zu nennen und die Reaktionen der Geheimnisträger zu testen. Die beiden Kollegen haben beim Namen „Richard H. Thaler“ zwar kurz gestutzt, dann aber ganz gelassen erklärt, er stünde ja schon seit Jahren auf der „Short List“ – und man wisse natürlich nie.


Heute ist es tatsächlich so weit: Thaler bekommt in Stockholm hochverdient den Preis der Schwedischen Reichsbank gestiftet („in Gedenken an Alfred Nobel“), und zwar „für seine Arbeiten zur Verhaltensökonomik“. Tatsächlich war es keine ganz große Überraschung, immerhin wurde er doch 2015 zum Präsidenten der einflussreichen „American Economic Association“ gewählt – und damit gewissermaßen zum „Gott Vater“ der US-amerikanischen Ökonomen. Bereits 2002 war der Wirtschaftsnobelpreis an einen Wegbereiter der Verhaltensökonomik vergeben worden (Daniel Kahneman), wodurch dieser Bereich aus der Nische in Richtung ökonomischer Mainstream gelangte.

Der Wirtschaftsnobelpreis geht in diesem Jahr an die Universität Chicago. Denn dort lehrt und arbeitet der US-Verhaltensökonom Richard H. Thaler. Ausgezeichnet wird er für seine Beiträge zur Verhaltensökonomik, wie die Jury im Oktober bekanntgab. Dabei geht es etwa um psychologische Faktoren, die hinter wirtschaftlichen Entscheidungen stehen. Der Amerikaner sei ein „Pionier der Verhaltensökonomie“ und erhalte die Auszeichnung für seinen Beitrag zum Verständnis der Psychologie der Ökonomie, teilte die Jury mit. „“Seine empirischen Befunde und theoretischen Einsichten waren maßgeblich für die Schaffung des neuen und schnell wachsenden Gebiets der Verhaltensökonomie, die einen tiefgehenden Einfluss auf viele Bereiche der wirtschaftlichen Forschung und Politik gehabt hat, hieß es. Der 72-Jährige zeige, wie menschliche Eigenschaften die Entscheidungen Einzelner und auch Marktergebnisse beeinflussten.
Der Wirtschaftsnobelpreis geht in diesem Jahr an die Universität Chicago. Denn dort lehrt und arbeitet der US-Verhaltensökonom Richard H. Thaler. Ausgezeichnet wird er für seine Beiträge zur Verhaltensökonomik, wie die Jury im Oktober bekanntgab. Dabei geht es etwa um psychologische Faktoren, die hinter wirtschaftlichen Entscheidungen stehen. Der Amerikaner sei ein „Pionier der Verhaltensökonomie“ und erhalte die Auszeichnung für seinen Beitrag zum Verständnis der Psychologie der Ökonomie, teilte die Jury mit. „“Seine empirischen Befunde und theoretischen Einsichten waren maßgeblich für die Schaffung des neuen und schnell wachsenden Gebiets der Verhaltensökonomie, die einen tiefgehenden Einfluss auf viele Bereiche der wirtschaftlichen Forschung und Politik gehabt hat, hieß es. Der 72-Jährige zeige, wie menschliche Eigenschaften die Entscheidungen Einzelner und auch Marktergebnisse beeinflussten.

Tatsächlich hat in den USA und den angelsächsischen Ländern die Öffnung der Wirtschaftswissenschaften schon vor vielen Jahren begonnen – Thaler war und ist sicherlich einer der wichtigsten und hartnäckigsten Treiber. War er an seiner ersten Station als Professor an der Cornell University noch ein oft belächelter und bekämpfter Exot, so wuchs sein Einfluss langsam aber stetig an der University of Chicago, der Hochburg nicht nur der Nobelpreise für Wirtschaft, sondern auch des neoklassischen Wirtschaftsliberalismus. Seine wunderbar humorvollen Memoiren „Misbehaving: The Making of Behavioral Economics“ (2015) sind voll von Anekdoten über die harte und wenig herzliche Auseinandersetzung mit dem etablierten neoklassischen Mainstream der berühmten „Chicago School“. Und wer die Pressekonferenz der University of Chicago am Tag seiner Nominierung verfolgt hat, der ahnt etwas von dem Stachel im Fleisch, den Thaler über Jahrzehnte bei den „Chicago Jungs“ gewesen sein muss. In seinen eigenen selbstironischen Worten: „A pain in the a…“.


Thaler baut auf den Arbeiten Vieler auf, auf Jahrzehnten intensiver Forschung der ökonomischen Psychologie, der Kognitionsforschung, der experimentellen Ökonomik, der Konsumforschung und anderer Bindestrich-Disziplinen. Besonders einflussreich sind die Arbeiten der Nobelpreisträger Herbert A. Simon und Daniel Kahneman (gemeinsam mit dem früh verstorbenen Amos Tversky). Und noch viele andere wären zu nennen, in Europa etwa der in der Schweiz arbeitende Ernst Fehr.

Die grundlegendste Aussage und damit der wichtigste disziplinäre Fortschritt seiner Arbeiten kann man stark verkürzt so wiedergeben: Die Wirtschaft wird von Menschen gestaltet. Menschen sind, selbst als Wirtschaftssubjekte, keine perfekt rationalen „Homo Oeconomici“ („Econs“) – eine Kunstfigur der Neoklassik –, sondern „humans“. Diese haben Verhaltensfehler (Biases), nutzen vereinfachte Entscheidungsregeln (Heuristiken), verfügen nur begrenzt über Selbstkontrolle und Disziplin, agieren oft emotional, spontan oder auch habituell, maximieren nicht nur ihren Nutzen, sondern interessieren sich ebenso für Fairness und prosoziale Normen. Unscheinbare, oft äußerliche Faktoren – er nennt sie „sifts“ („seemingly irrelevant factors“) – können in einer Entscheidungssituation großen Einfluss haben. Wenn man mit Modellen die Realität erklären und Erkenntnisse dazu einsetzen möchte, um Dinge zu verändern, dann sollte man ein solches empirisches Bild vom Menschen zugrunde legen und kein abstraktes.


Wie dies im Einzelnen konkret geschehen kann, welche „Stupser“ („nudges“) wo und wie eingesetzt werden können, und wie der Staat die Menschen dadurch zu mehr Wohlstand, Zufriedenheit und Gesundheit anregen kann ohne sie in ihrer Freiheit zu beschränken, das hat Thaler zusammen mit seinem Koautor, Freund und Harvard-Professor Cass Sunstein – einem der meistzitierten Juristen weltweit und Kooperationspartner des Forschungszentrums Verbraucher, Markt und Politik (CCMP) an der ZU – in der Pop-Version ihrer gemeinsamen Arbeiten zum Libertären Paternalismus, dem Buch „Nudge“ (2008), unterhaltsam skizziert. Obwohl das Werk bis heute weltweit ein Bestseller ist, möchte Thaler im Übrigen keine Neuauflage schreiben – die alte Version sei gut genug.

Der US-Ökonom Richard H. Thaler wird den Nobelpreis persönlich entgegen nehmen. Der Preisträger selbst fasste die wichtigste Erkenntnis aus seiner Forschung mit den Worten zusammen: „Ökonomen sind menschlich, wirtschaftliche Modelle müssen das berücksichtigen.“ Die Akademie hatte den 72-Jährigen in Chicago aus dem Bett gerissen, um ihn über seine Auszeichnung zu informieren. Nach dem Preisgeld von umgerechnet rund 940 000 Euro gefragt, sagte Thaler scherzend, eines seiner Spezialgebiete sei die „geistige Buchhaltung“. Deshalb könne er nicht laut beantworten, was er damit anfangen werde. Er werde „versuchen, es so unvernünftig wie möglich auszugeben“. Der Wirtschaftsnobelpreis geht nicht auf das Testament des Erfinders Alfred Nobel zurück. Sie gilt daher nicht als klassischer Nobelpreis. Die schwedische Reichsbank stiftete den Preis 1968 nachträglich. Verliehen wird der Wirtschaftsnobelpreis trotzdem gemeinsam mit den traditionellen Kategorien Medizin, Physik, Chemie, Literatur und Frieden am 10. Dezember – dem Todestag des Preisstifters.
Der US-Ökonom Richard H. Thaler wird den Nobelpreis persönlich entgegen nehmen. Der Preisträger selbst fasste die wichtigste Erkenntnis aus seiner Forschung mit den Worten zusammen: „Ökonomen sind menschlich, wirtschaftliche Modelle müssen das berücksichtigen.“ Die Akademie hatte den 72-Jährigen in Chicago aus dem Bett gerissen, um ihn über seine Auszeichnung zu informieren. Nach dem Preisgeld von umgerechnet rund 940 000 Euro gefragt, sagte Thaler scherzend, eines seiner Spezialgebiete sei die „geistige Buchhaltung“. Deshalb könne er nicht laut beantworten, was er damit anfangen werde. Er werde „versuchen, es so unvernünftig wie möglich auszugeben“. Der Wirtschaftsnobelpreis geht nicht auf das Testament des Erfinders Alfred Nobel zurück. Sie gilt daher nicht als klassischer Nobelpreis. Die schwedische Reichsbank stiftete den Preis 1968 nachträglich. Verliehen wird der Wirtschaftsnobelpreis trotzdem gemeinsam mit den traditionellen Kategorien Medizin, Physik, Chemie, Literatur und Frieden am 10. Dezember – dem Todestag des Preisstifters.
Mit Büchern über die Verhaltensökonomik und die darauf basierende Verhaltenspolitik sind mittlerweile ganze Bibliotheken gefüllt worden. Es gibt es eigene Journals, Konferenzen, Lehrstühle, Berufsverbände, Masterprogramme und Aktionsnetzwerke wie „The European Nudge Network“. Vor allem die junge Generation hat Interesse an einer psychologisch begründeten Ökonomik, die entsprechenden Vorlesungen sind randvoll. Die großen internationalen Organisationen wie die WHO, die UNO, die OECD sowie die Europäische Kommission sowie knapp 200 Regierungen weltweit haben eigene Abteilungen eingerichtet, die sich systematisch und wissenschaftlich mit den Chancen und Grenzen konkreter Anwendungen von Verhaltenspolitik beschäftigen. Die Forschung und Weiterentwicklung dieses Bereiches zählt in der Tat zum Spannendsten, was die Ökonomie gegenwärtig zu bieten hat, auch wenn dies einige Wenige (interessanterweise vor allem in Deutschland) nicht wahrhaben wollen.

Das Nobelpreiskomitee hat jedenfalls ein Zeichen gesetzt. Ich persönlich verbinde damit die Hoffnung, dass man auch in Deutschland zu einem wissenschaftlich-sachlichen Diskurs findet und ideologische Grabenkämpfe hinter sich lässt. Der einzige Wehrmutstropfen ist, dass einmal mehr ein US-amerikanischer „Old White Man“ den Preis bekommen hat.
Zum Weiterlesen: Literaturempfehlungen von Lucia A. Reisch


Titelbild:

| Adam Baker / Flickr.com (CC BY 2.0) | Link


Bilder im Text:

| Chatham House, London / Flickr.com (CC BY 2.0) | Link

| remocean / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Lucia A. Reisch

Redaktionelle Umsetzung: CvD

Leserbrief

Haben Sie Anmerkungen zum Beitrag?
Ihre Sichtweise ist uns wichtig! Der Leserbrief gelangt direkt in die Redaktion und wird nach Prüfung veröffentlicht.
Vielen Dank für Ihr Verständnis!

Antwort auf:  Direkt auf das Thema antworten

nach oben
Zeit, um zu entscheiden

Diese Webseite verwendet externe Medien, wie z.B. Videos und externe Analysewerkzeuge, welche alle dazu genutzt werden können, Daten über Ihr Verhalten zu sammeln. Dabei werden auch Cookies gesetzt. Die Einwilligung zur Nutzung der Cookies & Erweiterungen können Sie jederzeit anpassen bzw. widerrufen.

Eine Erklärung zur Funktionsweise unserer Datenschutzeinstellungen und eine Übersicht zu den verwendeten Analyse-/Marketingwerkzeugen und externen Medien finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.