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Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der ZU wird Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften lehren und forschen.
Wenn es ans Eingemachte geht, erzählt man. Ökonomen und Werbefachleute wissen das, wenn sie kriselnden Firmen oder Produkten mit einer schönen Erzählung auf die Sprünge helfen; Psychotherapeuten, wenn sie ihre Patienten im Erzählen ihr Leben formen und verstehen lassen; Politiker wissen es im Wahlkampf und in schlimmen Krisen – denn, frei nach Carl Schmitt: Souverän ist, wessen Erzählung sich durchsetzt. Teenager erzählen, wenn sie sich altmodisch im Tagebuch oder zeitgemäß auf Instagram selbst erfinden, Erwachsene, wenn sie sich in eine Ehekrise hineinsteigern oder sie lösen. Es gibt keine Gesellschaft oder Gemeinschaft, die nicht erzählt und nicht eine eigene Erzählkultur entwickelt hätte.
Allein die Geistes- und Kulturwissenschaften scheinen das Erzählen verlernt zu haben. Stattdessen gängeln sie ihr Denken mit möglichst scharfen analytischen Methoden, endlosen Forschungsständen und anderweitigen Kompetenznachweisen. Ihre Abneigung gegen das Erzählen ist teilweise noch größer als die der Naturwissenschafter, die zumindest ihre populärwissenschaftlichen Werke erzählend ausgestalten. Und selbst dort, wo Geisteswissenschafter versuchen, das Korsett ihrer Methoden zu weiten, um wieder Luft zum Denken zu bekommen, vergessen sie notorisch das Erzählen: So haben sie zum Beispiel Methoden „künstlerischer Forschung“ diskutiert und entwickelt, in denen das spezifische Wissen von Künstlern wissenschaftlich genutzt werden soll – doch Romanciers wurden dafür kaum befragt.
Haben die Geisteswissenschaften etwa vergessen, dass man erzählt, wenn es ans Eingemachte geht? Vielleicht wissen sie es nur zu gut. Denn wer hat besser als die Geisteswissenschafter analysiert, was Erzählungen alles anrichten können? Wie Mythen Ideologien naturalisieren, wie Narrationen windige Argumente plausibilisieren, kontingente Fakten als notwendig oder natürlich dastehen lassen, wie Narrative Wirklichkeit monolithisch konstruieren?
Doch Erzählungen sind nicht nur gefährlich, sie können auch enorm produktiv sein, und der Verdacht liegt nahe, dass der Relevanzverlust, dem sich die Geisteswissenschaften derzeit ausgesetzt sehen, weniger mit ihrem Mangel an exakten Methoden zu tun hat als vielmehr mit ihrem vorauseilenden Gehorsam, ebensolche auf Kosten erzählender Denkformen einzuführen. Ausgenommen von der Krise sind nämlich Biografien, Teile der Geschichtswissenschaften und auf Oral History und Life Writing spezialisierte Teile der Kulturwissenschaften – just die Bereiche also, die noch erzählen oder erzählen lassen. Und ist es ein Zufall, dass derjenige Soziologe, der in den vergangenen Jahren am meisten Diskussionen ausgelöst hat, Didier Eribon ist – ein autobiografischer Erzähler?
Historisch gesehen sind diese Formen den Ursprüngen der Humanwissenschaften treu geblieben, denn es gibt kaum eine Disziplin, die keinen Vorläufer in Erzählungen hätte. Fast selbstverständlich ist dieser Hintergrund im Fall der Geschichtswissenschaften, die das Erzählen geradezu im Namen tragen und mit Herodot und Xenophon anheben. Oder nehmen wir die Philosophie: Ein Blick auf Platon macht deutlich, dass sowohl die Erzählung der Gedankengänge als auch Mythen und Gleichnisse anfangs wichtige Mittel waren, ein Denkgebäude schlüssig zu errichten. Die Rechtswissenschaften scheinen auf den ersten Blick zwar Gegenspieler des Erzählens zu sein; doch auch die Gerechtigkeit war zunächst in mythischen Erzählungen und später erst in Rechtssystemen gefasst; und ohne Erzählformen wie Kasuistik oder Zeugenberichte kann die Juristerei bis heute kaum bestehen.
Das beste Beispiel ist aber vielleicht die Soziologie. Wer Honoré de Balzacs Vorwort zur „Menschlichen Komödie“ liest, erkennt leicht, worauf dieses fast hundertbändige Werk angelegt ist. Aus den Prinzipien biologischer Klassifikation von Tieren und deren Lokalisation im Habitat, aus historischen Romanen und aus der Moralphilosophie versucht Balzac recht exakt, das als „Sittengeschichte“ zu erschaffen, wofür heute das Wort „Soziologie“ steht: Es gibt keinen Erkenntnisbereich dieser heutigen Disziplin, den Balzac nicht schon umreißt – und in seinem Vorwort führt er umgekehrt auch kein Feld an, um das sich heute die Soziologie nicht kümmern würde. Aber er erfindet die Soziologie in Form von Erzählungen.
Worin das Erzählen den heute dominierenden Methoden der Analyse und empirischen Erforschung unterlegen ist, wird aus Balzacs Entwurf leicht ersichtlich: Der Romancier ist nicht in der Lage, Erkenntnisse zu objektivieren, durch quantitative Erhebungen zu prüfen, Verallgemeinerungen methodisch zu sichern und kritisch zu hinterfragen. Damit sind die Evidenzen des Erzählten nur scheinbar welche.
Zugleich tritt aber auch die Beschränktheit der nicht erzählenden Wissenschaften zutage. Im Glauben, das menschliche Leben in der „Erstellung wissenschaftlicher Tatsachen“ (wie Ludwik Fleck es nannte) erschließen zu können, liegt eine ungeheure Naivität. Das wird klar, wenn man eine sozialhistorische Studie über das Paris des frühen 19. Jahrhunderts in diejenige erlebte Fülle zu verwandeln versucht, die Balzacs „Menschliche Komödie“ bietet: Der Weg von der Analyse zur lebendigen Welt ist weit – und es ist fraglich, wie gut man etwas verstanden hat, wenn man nicht in der Lage ist, es zumindest in konkreten Gedankenspielen auf plausible und runde Weise lebendig zu machen.
Wie aber und inwiefern sind Balzacs Erzählungen hier überlegen? Zunächst einmal leben sie von Zufällen. All das, was aus dem verstehend erklärenden Blickwinkel der Soziologie bloß kontingent ist, ist für den Erzähler relevant: die Unberechenbarkeit charakterlicher Eigenheiten und persönlicher Willkür, die in zufälligen Begegnungen, Situationen und Konflikten manifest wird; der oft absurd scheinende Verlauf von Ereignissen; die besonderen Wendungen des Lebens, in denen Menschen sich offenbaren oder zu dem werden, was sie sind. Dadurch ergibt sich ein anderes, breiteres Verständnis für das Spiel von Rollen, Identitäten und Entscheidungsfindung: Erzählungen erlauben Ausblicke auf das, was für die exakteren Methoden eine Blackbox sein muss.
Zu den Zufällen kommen die Details. Balzac lenkt den Blick auf Feinheiten, die selbst einem Sherlock Holmes unter den Soziologen entgehen. Dennoch versinkt er nicht in der Masse der zu vielen Details. Diese ordnen sich vielmehr von selbst, da die Dynamik der Handlung ein Relevanzmagnet ist, der alles Unnötige mit schlafwandlerischer Sicherheit liegen lässt – während die beschreibenden und analysierenden Wissenschaften für eine solche Unterscheidung komplexe Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten bemühen müssten. Erzählungen bringen Sinndeutung und Kausalität so in einen anderen, näher beim Leben liegenden Zusammenhang.
Das liegt, zuletzt, vor allem an ihrer Zeitlichkeit. In der Erzählung ist Zeit als Gerichtetheit und Verlauf organisiert; nicht als stillgestellte Struktur wie in der Beobachtung und der Analyse. Vielleicht ist es an dieser Stelle sinnvoll anzumerken, dass das Wort methodos „Weg“ bedeutet – gemeint ist dabei ein Weg zum Gehen, nicht eine Landkarte wie für die vermeintlich exakten, nicht erzählenden Verfahren. Erzählungen richten den Fokus aufs erlebende Unterwegssein, sie führen genau an der Stelle ins Leben hinein, wo die analytische Distanznahme herausführt.
Dass es bei erzählerischen Methoden an der Überprüfbarkeit hapert, bleibt, um es noch einmal zu sagen, unbestritten. Aber man kann erzählerisch-erlebte Erkenntnis insofern kontrollieren, als man sie mit deutend-verstehenden und kausal-erklärenden Verfahren ins Gleichgewicht setzt – so, wie man eine Reise mit dem Blick auf die Karte begleitet. Erzählende Philosophen wie Kierkegaard, Sartre oder Camus, aber auch große theoretisierende Erzähler wie Dante, Musil oder Proust haben schier mühelos gezeigt, dass Reflexion, Deutung, Analyse und Beschreibung auch komplementär mit erzählerischen Verfahren vereinbar und dadurch in einen Modus wechselseitiger Kontrolle überführbar sind.
Diese Methode des Erzählens könnte heute besonders wichtig sein, denn in Zeiten des Populismus hängen Krisen immer mehr von Dingen ab, welche die analysierenden Wissenschaften ausblenden müssen: von Zufall, Charakter und Willkür. Wer wissen will, was Donald Trump oder Kim Jong Un als Nächstes tun werden, fragt am besten einen heutigen Balzac. Warum also sollten die Geisteswissenschafter gerade heute auf das Erzählen verzichten? Wenn es ans Eingemachte geht, erzählt man, und wenn die Geisteswissenschaften eine große Zukunft haben, dann liegt sie vielleicht gerade hier.
Der Artikel ist am 27.08.2018 unter dem Titel „Wenn die Geisteswissenschaften eine grosse Zukunft haben wollen, müssen sie wieder mehr erzählen“ in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Jan Söffner
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm