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PD Dr. Hanno Scholtz ist akademischer Mitarbeiter mit Lehraufgaben am Lehrstuhl für Soziologie mit dem Schwerpunkt Sozialstrukturanalyse. Er habilitierte 2015 an der Universität Zürich im Fachgebiet Soziologie. Vor seinem Lehrauftrag am Bodensee war er unter anderem an der Universität Konstanz, der Universität Fribourg und am soziologischen Institut der Universität Zürich beschäftigt. Seine Forschungsschwerpunkte sind ländervergleichende Forschungen unter anderem zur Entwicklung sozialer Ungleichheit und zur Demokratie.
Damals wurden die Grenzen des Römischen Reiches absehbar. Über Jahrhunderte hatte es davon gelebt, immer neuen Legionären Land aus immer neuen Eroberungen zu versprechen, und darüber erst Italien und dann fast ganz Europa eingenommen. Aber schon 50 Jahre zuvor hatte Kaiser Diocletian (284-305) eine Lösung für ein Problem gesucht: die stabile militärische Beherrschung Europas. Zu erobern stellte kein Problem dar, und die Römerstraßen hatten bereits eine kommunikative Vernetzung hergestellt. Aber anders als China war Europa zu gebirgig, um überall den Willen eines zentralen Herrschers durchsetzen zu können. Daher hatte Diocletian das Reich an vier sogenannte Tetrarchen aufgeteilt, aber das ging zunächst schief. Kaiser Konstantin (306-337), Sohn eines der Tetrarchen, vereinte es erst wieder, dann löste er das Problem mit einer neuen Policy: Er begünstigte das Christentum. Die neue Religion bot nämlich drei hilfreiche Aspekte:
| Erstens erlaubte sie mit der Trennung von Staat und Kirche die Definition zweier unabhängiger Sphären. Die Kirche war für die kommunikative Macht zuständig, die sich dank der Römerstraßen mit einzelnen Reisenden durch ganz Europa bewegen konnte. In der Sphäre der Macht hingegen konnte jeder, der in Schwert und Schild investierte, als Ritter sein Glück versuchen und regional Bauern beherrschen und gegen andere Schwert- und Schildbesitzer beschützen.
| Zweitens machte das Nebeneinander von Gottvater und Gottsohn deutlich, dass solche unterschiedlichen Ansprüche auszuhalten waren. Zu den genialen Entdeckungen der Kirchenväter gehörte die Aufwertung des Heiligen Geistes, der dieses Gegenüber vor dem Abgleiten in einen zerstörerischen Dualismus bewahrte.
| Drittens wertete die Betonung des Glaubens an eine dogmatisch zusammenhängend – statt wie in der polytheistischen Antike prinzipiell offen – geglaubte Welt Loyalität auf. Die Beherrschung durch einen Adligen machte seine Untertanen so zu einer Gruppe, die aber immer wusste, dass sie Teil in einem überwölbenden und prinzipiell ergebnisoffenen größeren Ganzen war.
Diese Modellvorstellung dessen, was tatsächlich passierte, erlaubt einen Blick auf empirisch sichtbare Aspekte. Denn die soziale Strukturierung von Menschen in Gruppen, die akzeptieren, Teile in einem übergeordneten und prinzipiell ergebnisoffenen größeren Ganzen zu sein, prägte Europa von 330 bis 1968: Es bot die Grundlage für Territorialstaaten, die im Wettbewerb die Grenzen des Wissens ausloteten und so die moderne Wissenschaft schufen. Es ermöglichte, dass europäische Stadtbürger sich in Sestieri oder Zünften zusammenschlossen und so Autonomie und Stadtfreiheit erkämpften. Und als die Industrialisierung Gesellschaften bildete, die für zentrale hierarchische Beherrschung zu komplex wurden, ermöglichte es, die Bevölkerungen der neuen Industriegesellschaften durch Parteibindungen in politische Entscheidungen einzubeziehen.
Das Jahr 1918 – als erstmals die hierarchischen Entscheider in großem Maße abdankten – hatte zunächst Ansätze der Basisdemokratie versucht. Aber die Basisdemokratie war nicht stabil, weil jeder nur ein Leben hat und der Tag nur 24 Stunden. Da ist es sinnvoll, politische Entscheidungen an Menschen abzugeben, denen man vertraut. In der Industriegesellschaft funktionierte es, dieses Vertrauen in einem Paket abzugeben und sich mit der Stimmabgabe genau einer Gruppe zuzuordnen, weil moderne Offenheit und Deliberation erst einmal nur ganz oben in der Gesellschaft einzogen, während die Individuen in ihrem täglichen Leben noch ganz in traditionelle und autoritär-hierarchische Verhältnisse und damit eben in Gruppen eingebunden waren. Und der Erfolg der Industriegesellschaft exportierte gruppenbasierte Institutionen in die ganze Welt, bis hoch zu den Vereinten Nationen, die ja auch eine Ansammlung konstruierter Gruppen sind.
1968 nun, nach 20 Jahrzehnten steigenden Wohlstands, begehrten die bestausgebildeten jungen Leute dagegen auf und verlangten, nicht mehr in hierarchische Gruppen hineingepresst zu werden, sondern individualistisch sie selbst sein zu können. Wir blicken also zurück auf 50 Jahre Individualisierung, und Netzwerkforscher wie Mark Granovetter und Ronald Burt zeigen, wie es sich lohnt, gruppenübergreifende Beziehungen zu pflegen. Aber Beziehungen lassen sich nicht einfach ausbeuten, sie verändern uns auch. Wir alle sind individualistischer geworden, und das ist gut so.
Aber es bedeutet das Ende des europäischen Modells, das außerhalb Europas schon immer nur begrenzt gut funktioniert hat. Weil die Gesellschaft strukturell individualistisch geworden ist, hat die Demokratie an Stabilität verloren. Und wo sie das schon immer war, ist sie nie stabil geworden. Stabile Demokratie kann es erst dann (wieder) geben, wenn sie die individualistische Vielfalt von Vertrauensbeziehungen in die Entscheidungsfindung einbezieht, die jetzt noch in den verantwortungsfreien und intransparenten Raum des Lobbyismus abgedrängt ist. Aber heute ist das möglich – und wenn sich genug Menschen finden, die bereit sind, etwas dafür zu tun, dann werden wir es in den nächsten Jahren auch erleben.
Titelbild:
| Immanuel Giel / Eigenes Werk (CC BY-SA 4.0) | Link
Bild im Text:
| Randy Colas / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): PD Dr. Hanno Scholtz
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm