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Dr. Dietmar Schirmer vertritt den Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft - Schwerpunkt Europäische Institutionen an der Zeppelin Universität. In der Vergangenheit hat er an folgenden Universitäten gelehrt: Freie Universität Berlin, Cornell University, Universität Wien, University of British Columbia und University of Florida. Sein Fachgebiet ist die Vergleichende Politikwissenschaft mit regionaler Spezialisierung in Europa. Seine Forschungsinteressen umfassen die historische Soziologie der Staatsbildung, Nationalismus, Populismus, europäische Integration und die Ästhetik des Politischen.
Vor wenigen Tagen ist die britische Premierministerin Theresa May mit dem Brexit-Deal, den ihre Regierung mit der EU ausgehandelt hatte, im Parlament krachend gescheitert. Das Scheitern kam nicht überraschend, die Lautstärke des Krachs schon. Zwei Tage später hat das gleiche Parlament ihr das Vertrauen ausgesprochen. Das Vertrauen? Nicht wirklich. Es war eher die Angst vor Neuwahlen, die Theresa May gerettet hat. Wiederum wenige Tage später: Die britische Premierministerin gibt eine Vorschau auf Plan B. Der jedoch scheint identisch zu sein mit Plan A, sämtliche „Red Lines“ inklusive, aber man wolle noch einmal mit der EU darüber reden, den sogenannten „Irish Backstop“ aufzuweichen.
Zur Erinnerung: Das ist die Auffanglösung, mit der die offene Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland garantiert werden soll. Die wiederum ist Kernbestandteil des „Good Friday Agreement“ von 1998, mit dem der Nordirlandkonflikt befriedet worden war; ihre Bewahrung hatte die britische Regierung früh im Brexit-Prozess verbindlich mit der EU vereinbart. Den Backstop mit einem Verfallsdatum zu versehen – seien es zwei Jahre, wie es viele Brexit-Parlamentarier gerne hätten, seien es fünf, wie der polnische Außenminister Jacek Czaputowicz neulich vorgeschlagen hat –, hieße Irland unter den Bus zu werfen und kann deswegen nicht in Betracht kommen.
Und so tanzen wenige Wochen vor dem Brexit-Stichdatum die Regierung May und das Parlament weiter ihren absurden Walzer, mit jeder Drehung ein bisschen näher am Abgrund des No-Deal-Brexit. In der Deutung der Situation häufen sich die Referenzen aufs britische Liedgut – von „I don’t know what I want, but I know how to get it“ aus dem Sex Pistols-Punk-Gassenhauer „Anarchy in the UK“ bis hin zu den Spice Girls: „Tell me what you want, what you really really want“ –, was man durchaus als Ausdruck wachsender Verzweiflung werten kann. Wir halten es eher mit John Lennons „Watching the Wheels“, geschrieben aus der Perspektive eines kontemplativen Betrachters, der sich der Welt entzogen hat und nun ein gewisses Vergnügen dabei empfindet, dem irren Treiben von außen zuzusehen.
Dabei ist es gar nicht so, dass Theresa May und die Brexiteers nicht wüssten, was sie wollten. Das Problem liegt eher darin, in der Artikulation dessen, was sie wollen, das Mögliche als begrenzende Bedingung anzuerkennen. Der Brexit-Prozess ist durch ein progressives Auseinandertreten von Erwartungs- und Möglichkeitshorizont geprägt. An keiner Stelle wird das so deutlich erkennbar wie im Phänomen des „Cakeism“: Die Redewendung „To want to have one’s cake and eat it too“ bezeichnet die Unvernunft, miteinander Unvereinbares gleichzeitig zu wollen. Boris Johnson aber hat es zum Prinzip seiner Brexit-Haltung erkoren, und in weniger kruder Form ist es spätestens seit dem „Chequers-Plan“ vom Juli vergangenen Jahres auch für die britische Premierministerin handlungsleitend.
Angesichts der Vielfalt der im Moment diskutierten Varianten hinsichtlich des weiteren Verfahrens – Plan B und ein Dutzend Änderungsanträge, Neuwahlen, Übernahme des Prozesses durch das Parlament, ein zweites Referendum, Bürgerversammlungen nach irischem Vorbild, Suspendierung von Artikel 50, eine Übergangsphase nach der Übergangsphase – sind Spekulationen über das, was kommen mag, nicht vielversprechend. Sprechen wir lieber darüber, wie es zu diesem Schlamassel kommen konnte.
1. Der Spieler
David Camerons Versprechen eines Brexit-Referendums war ein Wahlkampfmanöver, um die erstarkende UKIP zu schwächen, die EU-Gegner in den eigenen Reihen zu disziplinieren und um gegenüber Brüssel Druck in den Verhandlungen über die angestrebte Neuverhandlung der EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs – mehr Markt, weniger Supranationalismus, Einschränkung des „Freedom of Movement of People“ – aufzubauen. Camerons Verhandlungen mit der EU waren der erste Fall von Cakeism: Das Ansinnen, nicht-britischen EU-Bürgern das Niederlassungsrecht nur eingeschränkt und selektiv zuzubilligen, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Cameron war eine Wette darauf eingegangen, dass auf dem Rücken erfolgreicher Verhandlungen mit der EU die Pro-EU-Seite das Referendum gewinnen würde. Ohne große zählbare Erfolge misslangen auch die Schwächung von UKIP und die Disziplinierung der eigenen Partei. Cameron hatte gespielt und verloren.
2. Falsche Versprechungen
In der Referendumskampagne ritten Nigel Farage und UKIP einerseits und die harten Tory-Nationalisten um Boris Johnson andererseits die Welle des nationalistischen Populismus, der Europa und die Vereinigten Staaten erfasst hatte. Die Kosten der EU-Mitgliedschaft – materiell und immateriell – wurden maßlos übertrieben, die Kosten des Austritts ebenso maßlos minimiert. Auf dem Rücken von „They need us more than we need them“ wurden die Erwartungen an die Brexit-Verhandlungen mit der EU ins Unermessliche gesteigert – siehe, abermals, Cakeism.
Dabei hatten die Dinge, die die Pro-Brexit-Wähler vor allem bewegten, mit der EU selbst nur wenig zu tun: Austeritätspolitik, Deindustrialisierung im Norden, die enormen Wohnungs- und Immobilienpreise in und um das Londoner Finanzzentrum und Infrastrukturschwäche waren allesamt hausgemacht. Selbst die hohen Zuwandererzahlen aus den neuen postkommunistischen EU-Staaten waren selbstinduziert, weil Großbritannien darauf verzichtet hatte, die für eine siebenjährige Übergangsfrist möglichen Einschränkungen der Ansiedlungsfreiheit zu aktivieren. Als Sündenböcke waren die polnischen Klempner prima. Dass es viel mehr polnische Krankenpfleger als Klempner gab und der National Health Service ohne sie in arge Schwierigkeiten geraten würde, erwähnte man lieber nicht, ebenso wenig wie den Umstand, dass die Zahlen der EU-Einwanderer geringer waren als die Einwanderung von außerhalb der EU, über die das Vereinigte Königreich souverän verfügen konnte.
3. Fehleinschätzungen
In den Verhandlungen über den Brexit stellte sich bald heraus, dass die britische Regierung sich darunter etwas ganz anderes vorgestellt hatte als die EU zulassen wollte und konnte. Die EU insistierte auf einer strikten Trennung und Sequenzialisierung von einerseits den Modalitäten des EU-Austritts und andererseits der Regelung der Post-Brexit-Beziehungen. In der Frage des Austritts handelte es sich in der Perspektive der EU um einen quasi-rechtlichen Prozess der Rückabwicklung bestehender Verträge. Die Verhandlungsspielräume waren entsprechend gering; allenfalls am Rande gab es etwas Luft wie etwa bei der Bilanzierung der Austrittskosten, die sich aus bereits eingegangenen Verpflichtungen ergaben. Die Regelung der künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU war ebenfalls nicht frei, sondern wurde durch das Prinzip der Unteilbarkeit der EU-Mitgliedschaft begrenzt. Das bezog sich insbesondere auf die Unteilbarkeit der vier Freiheiten – also die freie Zirkulation von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Menschen –, die den Verfassungskern des gemeinsamen Marktes ausmachten.
Brexiteers in Regierung, Parlament und Öffentlichkeit dagegen interpretierten die Verhandlungen als eine transaktionale Angelegenheit, bei denen das Verhandlungsergebnis einzig durch Interesse und Macht bestimmt würde. Und weil wegen „They need us more than we need them“ die britische Seite am längeren Hebel sitzen würde, müsste die EU sich am Ende dem britischen Willen beugen. Und wenn sie sich stur stellte, würde die deutsche Autoindustrie sie zwingen.
Man sollte an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass die populäre Sprache von Deal und No Deal eine Verhandlungssituation suggeriert, die im Falle des Brexit nie existiert hat. Deal/No Deal ist die grundsätzliche Alternative in der Anbahnung von Verträgen, in denen ein kostenfreier Exit möglich ist. Wenn ich etwa ein Auto oder ein Unterhemd kaufen möchte, gibt es die Möglichkeiten, dass ich mich mit dem Anbieter einige (Deal) oder eben nicht (No Deal). Im negativen Falle bleibt es einfach beim Status quo: Ich habe kein Auto oder Unterhemd und suche weiter. Im Falle des Brexit aber repräsentiert die No-Deal-Option die dramatischste Abweichung vom Status quo, was allerdings durch den Assoziationsraum Deal/No Deal verschleiert wird; im Falle des Brexit entspricht No Deal eher einer Situation, in der ich mit einem Messer im Rücken in der Notaufnahme eines Krankenhauses lande und die Behandlung nicht stattfindet, weil ich mich mit dem Arzt nicht über die Bedingungen der Behandlung einigen kann.
4. Majoritarian Democracy
Westminster ist der Musterfall einer majoritären Demokratie, deren Funktionieren nicht auf Kompromiss, sondern auf Durchregieren angelegt ist. Das Gegenstück wäre – wie jeder Student der Politikwissenschaft seit Arend Lijphart „Patterns of Democracy“ weiß – eine Konsensdemokratie, wie wir sie auf dem europäischen Kontinent oder eben in den Institutionen der EU finden. Majoritäre Demokratien sind etwa durch Mehrheitswahlrecht, Zweiparteiensysteme, absolute Mehrheiten und starke Exekutiven geprägt; ihre Befürworter rühmen sie für die Fähigkeit, politische Entscheidungen beherzt, rasch und unverwässert durch die Kompromisssuche in Koalitionsregierungen treffen zu können.
Im Falle des Brexit allerdings erweist sich die durch den Majoritätscharakter der britischen Demokratie geprägte politische und Parlamentskultur als Bürde. Erstens liegt das Referendum selbst als direktdemokratisches Instrument quer zur durch die Souveränitätsidee von „Her Majesty’s Parliament“ geprägten Verfassung. Deswegen konnte es verfassungsmäßig auch keinen das Parlament bindenden Charakter haben – wurde aber informell bindend gemacht, indem seine Nichtbefolgung zu einem Verrat an der Demokratie stilisiert wurde: „Brexit means Brexit“. Zweitens findet sich das britische politische System mittlerweile in einer Situation, in der Wahlen nicht mehr zuverlässig absolute Parlamentsmehrheiten hervorbringen. So sind die regierenden Konservativen gegenwärtig auf Unterstützung durch die DUP als einer konservativ-unionistischen nordirischen Partei angewiesen. Die politische Kultur des Landes ist allerdings durch die Annahme absoluter Mehrheiten geprägt – eine Prägung, die etwa in dem Begriff „hung parliament“ für eine Situation, in der keine Partei über eine absolute Mehrheit der Sitze im Parlament verfügt, deutlich wird – und deswegen nicht auf Kompromissfindung zwischen den Parteien hin angelegt. In der Abstimmung über den May-EU-Deal etwa kam die Suche nach Mehrheiten durch Zusammenarbeit von Regierung und Opposition nie zur Sprache – was in einer konsensorientierten Demokratie gerade in einer Frage von so existentieller Wichtigkeit gewiss der Fall gewesen wäre. Sowohl Theresa May als MP als auch Jeremy Corbyn als Oppositionsführer haben die Einheit ihrer jeweiligen Parteien über das nationale Interesse an der Vermeidung eines No-Deal-Brexit gestellt.
Es ist nicht auszuschließen, dass das Desaster eines No-Deal-Brexit auf irgendeine Weise noch abgewendet wird. Die Vorstellung, wie das gelingen soll, fällt im Moment allerdings schwer, und noch schwerer, wenn man in den vergangenen Tagen die Stellungnahmen britischer Politiker verfolgt hat. Das Beste, auf das man hoffen mag, ist: mehr Zeit – was allerdings angesichts der im Mai anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament problematisch ist.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Dietmar Schirmer
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm