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Wütende weiße Männer
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Genese eines Stereotyps

Wütende weiße Männer

von Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht | Zeppelin Universität
31.07.2019
Statt unsere Sicht der Welt, wie es als ihr stärkstes Potenzial und als ihre Berufung gegolten hatte, durch riskantes Denken komplexer und manchmal auch komplizierter zu machen, haben sich die Geisteswissenschaften dazu herabgelassen, einigen der banalsten – und auch gefährlichsten – Vorurteile der Gegenwart eine Aura von akademischem Prestige zu geben.

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessur für Literaturwissenschaften
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.  

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Die Wendung vergisst man nicht so leicht. In einem Band mit Essays südafrikanischer Autoren zu Problemen der Geschlechterphilosophie stieß ich neulich auf die bemerkenswerte These, „der Phallus“ sei „derzeit wohl überstrapaziert“ („overworked“).

Gemeint ist, dass die Diskussionen vergangener Jahre das Potenzial des Konzepts „Phallus“ zur Klärung heißer Fragen zwischen Frauen und Männern ausgereizt hatten. Doch natürlich provozierte der Satz auch einen kaum beabsichtigten komischen Effekt, den ich dann unwillkürlich – und irgendwie erleichtert – mit der Vorgeschichte des Klischees vom „angry white male“ (oder „angry white man“) als Ursprung allen kulturellen, sozialen und politischen Übels verband. Diese Redeweise aus Nordamerika hat mittlerweile in den europäischen Alltagssprachen eingeschlagen – und wird erstaunlicherweise von den Medien mit einer intellektuellen Aura garniert.

Wer die Wörter ohne Anführungszeichen verwendet, unterstellt im Regelfall dreierlei: dass es an der Zeit sei, die seit Jahrtausenden etablierte Herrschaft eines bestimmten autoritären Verhaltensstils zu brechen; dass sich dieser Verhaltensstil als vernünftige, auf Gesetzen der Logik beruhende Norm präsentiere, um so seine Funktion als Instrument gesellschaftlicher Unterdrückung zu verdecken; und dass er am Ende nicht nur als spezifisch männlich und daher Phallus-verbunden einzuordnen sei, sondern auch – faschistisch klingende Begriffe scheinen wieder guter Ton zu werden – als ein Merkmal der „weißen Rasse“ gelten müsse.

Der US-Soziologe Michael Kimmel hat sich im Jahr 2013 einer Spezies angenommen, die sich offenbar auf dem absteigenden Ast befindet: des weißen amerikanischen Mannes – „angry white man“. Denn auch in den USA gefährden ökonomische und soziale Verschiebungen die mittleren und unteren Schichten. Vor allem Teile der männlichen weißen Bevölkerung empfinden ihren vermeintlichen Bedeutungsverlust und den Abbau überkommener Privilegien als tiefe Kränkung. Als Folge stilisieren sie sich als Opfer. Ihre Wut gilt angeblichen Konkurrenten der eigenen Ansprüche: Frauen, Schwarzen, Latinos, Migranten, Homosexuellen, Liberalen, religiösen Minderheiten. Sie äußert sich in Männlichkeitskult, rechten Radioshows, kruden Internetforen, fremdenfeindlichen Grenzpatrouillen und in letzter Konsequenz gar in Amokläufen. Der Soziologe Michael Kimmel bezeichnet das Phänomen als kulturelle Konstruktion einer „kränkenden Enteignung“. Ihre Protagonisten, die „zornigen weißen Männer“, bilden den Kern antifeministischer und rassistischer Initiativen und lassen sich dabei, so Kimmel, nur allzu bereitwillig von der äußersten politischen Rechten instrumentalisieren.
Der US-Soziologe Michael Kimmel hat sich im Jahr 2013 einer Spezies angenommen, die sich offenbar auf dem absteigenden Ast befindet: des weißen amerikanischen Mannes – „angry white man“. Denn auch in den USA gefährden ökonomische und soziale Verschiebungen die mittleren und unteren Schichten. Vor allem Teile der männlichen weißen Bevölkerung empfinden ihren vermeintlichen Bedeutungsverlust und den Abbau überkommener Privilegien als tiefe Kränkung. Als Folge stilisieren sie sich als Opfer. Ihre Wut gilt angeblichen Konkurrenten der eigenen Ansprüche: Frauen, Schwarzen, Latinos, Migranten, Homosexuellen, Liberalen, religiösen Minderheiten. Sie äußert sich in Männlichkeitskult, rechten Radioshows, kruden Internetforen, fremdenfeindlichen Grenzpatrouillen und in letzter Konsequenz gar in Amokläufen. Der Soziologe Michael Kimmel bezeichnet das Phänomen als kulturelle Konstruktion einer „kränkenden Enteignung“. Ihre Protagonisten, die „zornigen weißen Männer“, bilden den Kern antifeministischer und rassistischer Initiativen und lassen sich dabei, so Kimmel, nur allzu bereitwillig von der äußersten politischen Rechten instrumentalisieren.

Im Gegensatz zu anderen Stereotypen des Alltags gehört aber zu der Formel von den „wütenden weißen Männern“ die Voraussetzung, dass sie uns aus anspruchsvollen, vor allem französischen Theoriedebatten des späten 20. Jahrhunderts erreichen. Dort hieß das Konzept – akademisch veredelt – „Phallogozentrismus“ und sollte auf eine angeblich ebenso natürliche und logische, in Wirklichkeit aber kulturell hergestellte männliche Ordnung der Dominanz verweisen. Was einst amerikanischer Theorieimport war, kommt nun als intellektueller Exportartikel aus Amerika nach Europa zurück.

Man könnte und sollte der Öffentlichkeit die Details und Etappen dieser Theorievorgeschichte – wie so viele andere geisteswissenschaftliche Geschichten: ohne großen Verlust – ersparen, wenn sie als Unterstellung nicht eine wahrhaft entwaffnende Wirkung hätten. Denn offenbar wird so erstaunlich wenig Widerstand gegen die schon auf den ersten Blick ziemlich billig wirkenden Stereotype von den „wütenden weißen Männern“ und vom „Phallogozentrismus“ laut, weil sie durch die Aura einiger berühmter Autorennamen legitimiert erscheinen. Umgekehrt lohnt sich allerdings gerade deshalb ein Blick auf ihre in Wirklichkeit philosophisch recht brüchige Herkunft, weil daraus eine Ermutigung für kritische Einwände erwachsen kann.

Die Entwicklung hin zu einem dominanten Stereotyp unserer Zeit vollzog sich in drei deutlich voneinander abgesetzten Etappen. Am Anfang standen Sigmund Freuds gelegentliche Spekulationen über mögliche Auswirkungen des Phallus-Symbols auf die weibliche Psyche (Stichwort „Penisneid“). Es folgte die Erhöhung dieses Motivs zum „transzendentalen Symbol“ in der Freud-Interpretation des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan; und schließlich fand die Verknüpfung von Lacans Phallus-Begriff mit Jacques Derridas Kritik („Dekonstruktion“) der Logik als normativer westlicher Form des Denkens eine intensive Resonanz in den Geisteswissenschaften und unglücklicherweise auch in ihrem gesellschaftlich-medialen Umfeld.

Lacan und Derrida sind zu Recht als zwei jener Autoren unserer Vorzeit berüchtigt, deren Texte auch den Spezialisten bis heute Rätsel aufgegeben und deshalb viele unterschiedliche Deutungen ausgelöst haben. Erschwerend hinzu kommt ein Bruch – oder gar ein Missverständnis – beim Übergang des Phallus-Motivs von Lacan zu Derrida.

Lacan hatte die Freud-Interpretation in seinen nach der Mitte des 20. Jahrhunderts enorm einflussreichen Seminaren unter den Anspruch gestellt, den frühen Einsichten aus den psychoanalytischen Fallstudien durch prägnante begriffliche Unterscheidungen eine neue systematische Form zu geben, und wagte sich dabei bis zu der Vermutung vor, dass selbst das Unbewusste „wie eine Sprache strukturiert“ sei. Derridas „Dekonstruktion“ hingegen setzte gerade als eine radikale Kritik dieser Systematik an, was erklärt, warum er den angeblich von Plato herrührenden „Logozentrismus“ als eine Art Erbsünde der westlichen Kultur identifizierte.

Wer sich auf die Vernunft, die Logik oder die Wahrheit berufe, hörte und las man bald, müsse als potenziell totalitär gelten. Und so belegten die Anhänger von Derridas Dekonstruktion bald jede genaue („binäre“) Begriffsdifferenzierung mit einem Denkverbot.

Lacan hatte das ursprünglich so eindeutig männliche Phallus-Konzept auch auf Frauen angewandt, mit seiner ebenso elementar wirkenden wie dunkel bleibenden Formel, dass Männer den Phallus (und das heißt bei Lacan: das Begehren) besäßen, während Frauen (als Objekt des Begehrens) der Phallus seien. In einem Aufsatz der späten 60er-Jahre, wo Derrida anhand von Texten aus der griechischen Antike das angebliche Ur-Übel der Logik mit allerhand männlichen Gestalten aus Mythologie und Geschichte verband, erfand er nun – eher beiläufig – den Begriff des Phallogozentrismus und brachte so die traditionell binäre Unterscheidung zwischen Männern und Frauen (mit ihren angeblich typischen Lastern und typischen Tugenden) wieder in die französischen Diskurse zurück.

Die zugleich empirischen und alltäglich plausiblen Fragen freilich, ob denn Logik wirklich notwendig männlich sei und Männer wirklich notwendig autoritär seien, kam in der Höhenluft jener Debatten gar nicht mehr auf. Fortan beanspruchte eine lange Kette von Gleichungen normativen Status: Vernunft = Logik = binäres Denken = männliches Dominanzverhalten = totalitär.

Das „Patriachat“ ist wieder zu einem Kampfbegriff gegen „wütende weiße Männer“ geworden. Es beschreibt in der Soziologie, der Politikwissenschaft und verschiedenen Gesellschaftstheorien ein System von sozialen Beziehungen, maßgebenden Werten, Normen und Verhaltensmustern, das von Vätern und Männern geprägt, kontrolliert und repräsentiert wird. Synonyme für Patriarchat sind Phallokratie und die wenig gebräuchliche Neubildung Androkratie, wörtlich „Herrschaft des Mannes“.
Das „Patriachat“ ist wieder zu einem Kampfbegriff gegen „wütende weiße Männer“ geworden. Es beschreibt in der Soziologie, der Politikwissenschaft und verschiedenen Gesellschaftstheorien ein System von sozialen Beziehungen, maßgebenden Werten, Normen und Verhaltensmustern, das von Vätern und Männern geprägt, kontrolliert und repräsentiert wird. Synonyme für Patriarchat sind Phallokratie und die wenig gebräuchliche Neubildung Androkratie, wörtlich „Herrschaft des Mannes“.

Man könnte eine derartige Ansammlung von Umkehrungen, Verwirrungen und Unsinn als brüchiges Kapitel aus der Geschichte der Geisteswissenschaften abtun (oder auch als Satire auf das akademische Denken stehen lassen), wenn nicht speziell dieses Kapitel über das Konzept des Phallogozentrismus der heutigen Formel vom „angry white man“ ihr eigenartiges intellektuelles Prestige verliehe.

Kaum zufällig haben feministische Philosophinnen von Rang wie Hélène Cixous, Donna Haraway oder Judith Butler einen weiten Bogen um die Phallogozentrismus-Vereindeutigung gemacht und stattdessen weiter an nichtbinären Geschlechtsunterscheidungen gearbeitet. Doch nur selten haben sie leider auch den Gebrauch jenes bestenfalls unterkomplexen Bildes von den Männern als testosterongeladen-autoritären Monstern explizit kritisiert – wohl aus einem Gefühl geschlechtspolitischer Solidarität, das ihrer Geschlechterphilosophie nicht gutgetan hat.

Viel später erst, nämlich mit einer um die Jahrtausendwende aufbrandenden Theoriewelle, die unter den Namen der „Postcolonial“ und der „Identity Studies“ die Verteidigung kultureller Minderheiten auf ihr Banner geschrieben hatte, steigerte sich die Verknüpfung von Logozentrismus und Phallus zu einem auch ethnisch diskriminierenden Stereotyp. Nun wurden alle bis dahin schon existierenden Verteufelungen von Männern im Allgemeinen auf „weiße Männer“ im Speziellen verengt. Die schon zu Derridas Zeiten eingeklammerte Frage nach empirischer Evidenz für solche Assoziationen war im inzwischen – wahrlich nicht allein an amerikanischen Universitäten – etablierten Klima des politisch-korrekten Moralismus zu einem karriereschädigenden Symptom für „neokolonialistische Mentalität“ geworden, mit dem verbunden zu werden sich niemand mehr leisten kann.

Seither darf man – oder muss sogar – im Namen des minderheitenschützenden Antirassismus rassistisch sein, so wie ja eigentlich schon der Begriff des Phallogozentrismus ideologische Schwarz-Weiß-Malerei im Namen der Bejahung antiideologischer Vielfalt betrieben hatte. Auf ein tieferes Niveau intellektueller Schärfe waren die Geisteswissenschaften noch nie zuvor in ihrer Geschichte gesunken – und weil energische Gegenreaktionen ausgeblieben sind, haben sie sich nicht von diesem Status erholt, der sehr wohl zu ihrem institutionellen Ende führen könnte.

Statt unsere Sicht der Welt, wie es als ihr stärkstes Potenzial und als ihre Berufung gegolten hatte, durch riskantes Denken komplexer und manchmal auch komplizierter zu machen, haben sich die Geisteswissenschaften dazu herabgelassen, einigen der banalsten – und auch gefährlichsten – Vorurteile der Gegenwart eine Aura von akademischem Prestige zu geben.

Intellektuell faszinierende und politisch relevante Fragen sind dabei in weite Ferne gerückt. Die Frage zum Beispiel, ob wir heute mit einer Alternative zur Denkform der Logik lokal und auch global leben wollen – oder leben sollten; und vor allem das Problem, mit welchen neuen begrifflichen, kulturellen und politischen Strategien wir uns der Gleichheit unter mehr als zwei Geschlechtern – das heißt: der Geschlechter-Gerechtigkeit – annähern können.

Dieser Beitrag ist am 22. Juni unter dem Titel „Wütende weisse Männer: über die Genese, Wirkung und Idiotie eines neuen hässlichen Stereotyps“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen. 


Titelbild: 

| Michael Frattaroli / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

Roya Ann Miller / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link

Chloe S. / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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