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Seit 2009 leitete Prof. Dr. Marcel Tyrell das Buchanan Institut für Unternehmer- und Finanzwissenschaften an der Zeppelin Universität. Vorher lehrte er unter anderem an der Universität Frankfurt, der University of Pennsylvania und der European Business School. Schwerpunktmäßig forscht er zu Veränderungen von Finanzsystemstrukturen, mikro- und makroökonomischen Auswirkungen von Finanzkrisen und der Verschuldungsdynamik von Volkswirtschaften. 2017 übernahm er den Lehrstuhl Banking and Finance an der Universität Witten/Herdecke und blieb der Zeppelin Universität als Gastprofessor für Economics of Financial Institutions erhalten.
Ende Oktober ist die Amtszeit von Mario Draghi als Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) zu Ende gegangen. Er wurde 2011 inmitten der bisher größten Krise der Euro-Zone gewählt, sodass die Frage gerechtfertigt ist, ob er als oberster Lenker der europäischen Zentralbankpolitik erfolgreich war? Eine Antwort auf diese Frage ist nicht einfach, denn zum einen ist Geldpolitik ein schwieriges Geschäft in den vergangenen zehn Jahren geworden, zum anderen bedingt die Zentralbankpolitik für eine Währungsunion ansonsten größtenteils souveräner Staaten eine zusätzliche Komplexitätsdimension.
Warum ist Zentralbankpolitik heutzutage so kompliziert? Eine erste Antwort hat ihren Ausgangspunkt in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008. Diese Krise traf nicht nur die Finanzbranche, sondern auch die bedeutenden Zentralbanken dieser Welt sehr unvermittelt. Regierungen in fast allen großen Industrieländern schnürten hektisch Rettungspakete für ihre in Schwierigkeiten geratenen Finanzunternehmen, die Notenbanken, die noch Zinsspielraum hatten, reduzierten in schneller Abfolge ihre Leitzinsen auf ein Niveau nahe Null.
Schnell merkten jedoch einige Zentralbanken – allen voran die amerikanische Federal Reserve –, dass ihre konventionelle Geldpolitik in einem zutiefst verunsicherten Finanzsektor an ihre Grenzen stößt. Da sich die Finanzintermediäre spätestens nach der Lehman Brother-Pleite gegenseitig grundlegend misstrauten, parkten sie Liquidität und gaben die geldpolitischen Impulse nicht an den Realsektor weiter. Die Fed begann daraufhin schon im Jahre 2009 mit ihrer „quantitative easing“-Politik, indem sie massiv zumeist langfristige Anleihen von den Banken kaufte, um dem Wirtschaftskreislauf Liquidität zur Verfügung zu stellen und die Zinsen am langen Ende der Zinsstrukturkurve zu beeinflussen. Damit begab sich die Fed allerdings auf unbekanntes Terrain, denn es gab bis dahin kaum Erfahrung mit einer derartigen Geldpolitik, die auf komplexen Wechselwirkungen beruht.
Die EZB war sehr viel zögerlicher in ihrer ersten Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise. Sie reduzierte zwar 2008/2009 ihre Leitzinsen ebenfalls und startete 2009 mit einem limitierten Aufkaufprogramm von Pfandbriefen sowie im Jahre 2010 mit Staatsanleihekäufen, die jedoch damals kaum Wirkung entfalteten, da die zusätzliche Liquidität von der EZB an anderer Stelle wieder entzogen wurde. Zudem erhöhte die EZB die Leitzinsen kurzzeitig im Jahre 2011 wieder, weil sie glaubte, dass Inflationsgefahren drohen würden.
Als Mario Draghi also 2011 die Position des Präsidenten in der EZB übernahm, stand einerseits die Zentralbankpolitik der EZB in einem Gegensatz zur umfassenden geldpolitischen Lockerung der Fed, andererseits hatte sich gerade in einigen südeuropäischen Ländern – zuvorderst Griechenland – die wirtschaftliche Situation in Verbindung mit hohen Staatsschulden so verschlechtert, dass rezessive Tendenzen in diesen Ländern Überhand gewannen und eine Staatsinsolvenz zumindest in Griechenland als immer wahrscheinlicher angesehen wurde. Das hätte jedoch die gesamte europäische Währungsunion ins Wanken gebracht.
Mario Draghi musste also reagieren – und er tat es. Nicht nur, dass er kurz nach Amtsantritt die Staatsanleihekäufe erhöhte und die dadurch zusätzlich zur Verfügung gestellte Liquidität im Markt beließ, er wirkte zudem auch durch seine kommunikative Strategie: Auf einer Investorenkonferenz im Juli 2012 in London sagte er ohne jede Vorankündigung, dass die EZB „alles Notwendige“ tun werde („Whatever it takes“), um die Euro-Zone zu stabilisieren und den Euro zu erhalten. In Verbindung mit der zusätzlichen Versicherung „Und glauben sie mir, es wird genug sein“ wirkten diese Worte extrem beruhigend auf die Kapitalmärkte, die Zinsaufschläge auf Krisenstaatsanleihen reduzierten sich schlagartig, der Euro stabilisierte sich und auch die Börsenkurse in der Euro-Zone stiegen wieder.
Aber allein „magische Worte“ langten nicht. Die EZB startete nach Draghis Amtsantritt mit erweiterten Wertpapierkaufprogrammen nach dem Vorbild der Fed, die nicht nur Pfandbriefkäufe und Staatsanleihekäufe in einem bis dato kaum vorstellbaren Ausmaß beinhalteten, sondern auch den Kauf von Unternehmensanleihen umfasste. Als Folge davon hat sich die Bilanzgröße der EZB zwischen 2014 und 2018 mehr als verdoppelt. Der Zusammenbruch der Euro-Zone konnte vermieden werden, die schwere Rezession in den Krisenländern wurde überwunden, ein leichter Aufschwung setzte ein. Wie weit allerdings diese Entwicklungen ursächlich mit der EZB-Politik zusammenhängen, ist zumindest unter Ökonomen in Deutschland umstritten.
Hier kommt nun die Währungsunion ins Spiel. Die EZB agiert in einem Währungsverbund, der Staaten mit sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Voraussetzungen und makroökonomischen Bedingungen umfasst. Hoch verschuldete Länder waren und sind auf niedrige Zinsen und eine Politik des lockeren Geldes angewiesen, während in stabileren Volkswirtschaften wie beispielsweise Deutschland diese Niedrigzinspolitik in großen Teilen der Bevölkerung und auch im Bankensektor als eine immer größer werdende Belastung empfunden wurde. Es würde Sparer „enteignen“ und das Bankensystem unter so großen Margendruck setzen, dass es destabilisiert werden könnte. Aus Rücksichtnahme auf bestimmte südeuropäische Länder, so die Kritiker, hätte Mario Draghi eine Geldpolitik verfolgt, die für die deutsche Wirtschaft nicht angemessen gewesen wäre.
Ist dieser Vorwurf zutreffend? Zweifelsohne hat die EZB unter Mario Draghi ihr geldpolitisches Mandat sehr weit ausgelegt. Insbesondere in Teilen der europäischen Währungsunion, jedoch auch in anderen Ländern wie beispielsweise den USA wird von der Politikerklasse die Zentralbankpolitik heute zunehmend wie ein Versicherung angesehen, die in Zeiten eines konjunkturellen Schwächeanfalls zu Hilfe zu eilen habe. Geldpolitik kann aber nicht Wirtschafts- und Fiskalpolitik ersetzen.
Diesbezüglich hat Mario Draghi gerade im letzten Jahr seiner Amtszeit die EZB in eine schwierige Lage gebracht. Er hat zu lange an Anleihekaufprogrammen und negativen Zinsen festgehalten und damit den geldpolitischen Spielraum für seine Nachfolgerin Christine Lagarde in einer drohenden Rezession sehr stark eingeschränkt. Zudem hat er durch seine Kommunikationspolitik gerade zuletzt die EZB zutiefst gespalten. Trotz immer größer werdender Kritik an seiner Politik auch aus dem EZB-Rat hat er durch nicht abgestimmte voreilige Ankündigungen im Vorfeld von Ratssitzungen die Diskussion im EZB-Rat unterdrückt und seine Kritiker massiv unter Druck gesetzt, seiner Politik zuzustimmen, um etwaigen sonstigen Turbulenzen auf dem Kapitalmarkt vorzubeugen. Auch dies wird Christine Lagarde ändern müssen, um der EZB-Politik in Zukunft wieder mehr Glaubwürdigkeit im Rahmen ihres Mandats zu verleihen.
Das Fazit der Amtszeit von Mario Draghi ist zwiespältig. Er hat in den ersten Jahren seiner Amtszeit durch sein kraftvolles Auftreten und eine kluge Kommunikationspolitik die Kapitalmärkte stabilisiert und geholfen, den Zusammenbruch der europäischen Währungsunion zu vermeiden. Er hat jedoch zu lange an einer Politik festgehalten, die nur für den Krisenmodus der europäischen Währungsunion adäquat war. Die „Whatever it takes“-Politik währte zu lange.
Titelbild:
| Aichi8Seiran / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Paul Fiedler / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
| World Economic Forum, Cologny in der Schweiz / Women in Economic Decision-making: Christine Lagarde, hochgeladen im Januar (CC BY-SA 2.0) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Marcel Tyrell
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm