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Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der Zeppelin Universität lehrt und forscht Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften.
Krisen werden von Charakteren geprägt. Mit dem Wort Krise meine ich nicht jene kleineren Unfälle, die sich in einer an sich stabilen Ordnung ereignen: Naturkatastrophen, Terrorattacken oder Wirtschaftsflauten sind keine Krisen, sondern Probleme, die nach einer Lösung schreien. Krisen sind stattdessen – frei nach Reinhart Koselleck – Zeiten einer fälligen, aber noch nicht gefallenen Entscheidung.
Ob sich die gegenwärtige Unsicherheit zu einer manifesten Krise auswachsen wird, ist zwar noch nicht auszumachen. Dem Empfinden des Zeitgeistes nach steuern wir aber auf eine Krise zu. Und selbst wenn unsere ökonomischen, politischen und ökologischen Systeme sich letztlich als stabiler erweisen sollten, als es für viele zurzeit den Anschein hat, ist ein Indiz für die Krise doch nicht zu übersehen: In die Politik kehrt das persönliche Charisma zurück. Und sind solche Charaktere einmal maßgeblich geworden, ist meistens auch die Krise nicht fern.
Der Grund für das Erstarken der Charaktere in Krisen ist recht einfach und wurde schon oft beschrieben: In ruhigen Zeiten wird das Charakterliche der Entscheidungsträger von Sachzwängen und Sachbearbeitern unter einer rationalen Kontrolle gehalten. Es weicht der Verwaltung einzelner Probleme. In Krisenzeiten indes erweitert sich das Spektrum der Möglichkeiten in derart unkontrollierbarem Maß, dass immer mehr Entscheidungen an einzelnen Personen hängenbleiben. Entscheidungen werden damit unkontrollierbar, und der Charakter des Entscheiders bestimmt über die Rationalität einer Sache, so dass – wie in Shakespeares Königsdramen – politische Charaktere und Landesgeschicke tendenziell zu einer Einheit verwachsen.
Max Weber beschrieb diese Ordnung als diejenige eines persönlichen Charismas, welches das in ruhigen Zeiten auf die Ämter und Verwaltungen übertragene Charisma ablöse. Carl Schmitt sprach von einem Ausnahmezustand, in dem Souveränität insofern zur Erscheinung komme, als sie über selbigen entscheide. Niccolò Machiavelli, der seinerseits kaum andere Zeiten als Krisenzeiten kannte, beschrieb das Zusammenspiel von Charakterkraft (virtù) und Zufall (fortuna), das es brauche, um die Grundlagen einer stabilen Ordnung zu schaffen.
Wenn er sich da nicht getäuscht hat. Diejenigen Politiker, deren Charaktere sich derzeit über die Sachzwänge erheben und die persönliche Unberechenbarkeit zum weltpolitischen Faktor machen, scheinen wenig Interesse an Stabilität zu haben. Ikonisch lässt sich bei Donald Trump und Boris Johnson vielmehr beobachten, dass sie die Krise, die sie als Habitat ihres Politikstils brauchen, durchaus auch erst zu schaffen angetan sind.
Bei Charakteren wie Emmanuel Macron oder auch Matteo Renzi lässt sich zwar die von Machiavelli vorausgesetzte Gesinnung zur stabilen Herrschaft ausmachen, sie verstehen aber nur reaktiv mit den gegenwärtigen Herausforderungen umzugehen. Die in Zeiten großer Stabilität politisch sozialisierte Angela Merkel scheint demgegenüber kaum zu verstehen, warum sie auf einmal eine so blasse Figur abgibt – oder sie versteht es, ist charakterlich aber nicht dazu disponiert, sich auf die neue Zeit einzustellen.
Politische Charaktere wie die gerade genannten sind ebenso wenig etwas grundsätzlich Neues, wie es etwas Neues ist, dass es in Krisenzeiten auf sie ankommt. Ein ziemlich neuer charismatischer Charakter ist indes Greta Thunberg. Gewiss ist die Geschichte nicht arm an jugendlichen Figuren, die in Krisenzeiten die Unerbittlichkeit ihrer Unschuld als politisches Charisma zur Geltung brachten; ich denke etwa an Jeanne d’Arc, Ulrike Meinhof oder Che Guevara. Doch insofern persönliches Charisma ein Phänomen ist, das sehr viel über die Gesellschaft sagt, die bestimmte Charakterformen als charismatisch erlebt, lohnt es sich, einen genaueren Blick auf den neuen Charakter dieses Typus zu werfen, um die gegenwärtige Krise zu verstehen.
Es sei dem Folgenden vorausgeschickt: Ich stimme mit den meisten der Anliegen, die Thunberg vertritt, durchaus überein und halte auch die Fridays for Future-Bewegung, die sie ins Leben gerufen hat, für einen Segen. Es soll hier auch kein Aber folgen, das diese Dinge irgendwie relativieren könnte. Jedoch soll die Frage gestellt werden, warum gerade dieser Charakter in der gegenwärtigen Krise charismatische Qualitäten entfaltet.
Hierfür ist zunächst eine Besonderheit festzuhalten. Das Charisma der Unschuld war in früheren Zeiten an Erlösungstheorien und Utopien gekoppelt. Thunberg wirkt dagegen extrem kontrolliert und sachlich, selten spontan oder gar inspiriert, und selbst wenn sie emotional auftritt, beruft sie sich bloß auf allgemein verfügbares Common Sense-Wissen. Insofern ist Thunberg eher eine Problemlöserin als eine Visionärin. Das ist eine merkwürdige Haltung für einen Krisencharakter, denn Krisen sind ja eben diejenigen Entscheidungszeiten, in denen die Logik der Problemlösung eigentlich außer Kraft gesetzt ist: Krisen spülen für gewöhnlich ideologische, soziale oder auch persönliche Konflikte an die politische Oberfläche – nicht Problembewusstsein und Wissenschaftlichkeit.
Was sagt das über unsere Gesellschaft und unsere Krise? Zunächst einmal sagt es etwas über Generationen. Denn die oft als populistisch bezeichneten Politiker, die vor Spontaneität und Charisma strotzen und die Krise zur Selbstermächtigung nutzen, werden maßgeblich von den älteren Generationen gewählt, während Thunberg genau das entfacht hat, was es lange Zeit nicht mehr gab: eine Jugendbewegung.
Sie schlägt damit in der Generation der sogenannten Digital Natives ein, das heißt derjenigen, die es nicht nur gelernt haben, den eigenen Charakter in sozialen Netzwerken zu stilisieren (was auch die Twitter-Politiker der älteren Generation schnell verstanden haben), sondern ihn auch durch die Verwendung von Apps zu optimieren. Sie haben sich daran gewöhnt, ihre Entscheidungen nicht mehr einem subjektiven und aus eigener Erfahrung gesättigten Gespür zu überlassen, sondern sie in Symbiose mit einem hinter einer Benutzeroberfläche für sie arbeitenden, objektivierten Wissen zu treffen.
Apps aber lösen Probleme. Sie tragen keine Konflikte aus und kennen keine Krisen. Und entsprechend stellt sich die Welt für Thunberg auch nicht als eine der fälligen, aber noch nicht gefallenen Entscheidungen dar, sondern als eine der falsch gefallenen Entscheidungen. Die Faszinationskraft dieser einfachen Haltung liegt darin, dass für Thunberg eine wissenschaftliche Rahmung der Welt offenbar unumstößlich ist und dass politische Konflikte und politische Souveränität daher keine Rolle spielen: Der Klimawandel soll einer wissenschaftlich fundierten Problemlösungsstrategie zugeführt werden – und damit basta.
Der Generationenkonflikt, der hier zum Ausdruck kommt, entspinnt sich damit vor allem zwischen einer älteren Position, die in Krisen noch auf persönliche, teilweise irrationale Entscheidungen und Souveränitätskonflikte setzt – und einer jüngeren, der das Konzept der Krise als grundlegende Entscheidungssituation fremd ist: Krisen sind für sie eben doch nichts weiter als Probleme – bloß sind sie größer und damit existenzieller als andere und brauchen daher Vorfahrt im Lösungsreigen.
Ein bisschen erinnert dieser Generationenkonflikt an Sophokles’ Antigone-Tragödie, in der ein Mädchen desselben Alters wie Greta Thunberg sich auf sein Wissen um alte und unumstößliche Gesetze beruft, die vorschreiben, dass es seinen Bruder Polyneikes bestatte. Antigone setzt dieses Wissen absolut: Die Gesetze gelten, obwohl Polyneikes die Stadt als Verräter angegriffen und sich zugleich des Brudermordes schuldig gemacht hat.
Indem sie sich auf diese Weise unbeeindruckt von der politischen Krise zeigt, übersieht Antigone auch den neuerlichen Souveränitätskonflikt, den sie selbst anzettelt. Ihren Onkel Kreon, der seinerseits nur den krisenhaften Souveränitätskonflikt und die Ordnung der Polis, nicht aber die allgemein gültigen Gesetze im Auge hat, kanzelt Antigone ähnlich ab, wie Thunberg es mit Trump tut: Er solle auf die ewigen Gesetze hören. Kreon wiederum nimmt Antigone und ihr Anliegen zunächst nicht ernst. Wie es Tragödien so an sich haben, endet die Krise ungut. Für beide Parteien.
Dieser Artikel ist am 10. November unter dem Titel „Warum sich in Krisenzeiten viele charismatische Köpfe zeigen“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Jan Söffner
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm