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Die Bremse lockern!
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Finanzpolitik

Die Bremse lockern!

von Prof. Dr. Marcel Tyrell | Zeppelin Universität
29.01.2020
Die Schuldenbremse, wie sie im Grundgesetz verankert ist und mehr noch die schwarze Null ist aus vielfältigen Gründen reformbedürftig.

Prof. Dr. Marcel Tyrell
Gastprofessur für Economics of Financial Institutions
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Marcel Tyrell

    Seit 2009 leitete Prof. Dr. Marcel Tyrell das Buchanan Institut für Unternehmer- und Finanzwissenschaften an der Zeppelin Universität. Vorher lehrte er unter anderem an der Universität Frankfurt, der University of Pennsylvania und der European Business School. Schwerpunktmäßig forscht er zu Veränderungen von Finanzsystemstrukturen, mikro- und makroökonomischen Auswirkungen von Finanzkrisen und der Verschuldungsdynamik von Volkswirtschaften. 2017 übernahm er den Lehrstuhl Banking and Finance an der Universität Witten/Herdecke und blieb der Zeppelin Universität als Gastprofessor für Economics of Financial Institutions erhalten.  

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Wenn sich in einem gemeinsamen Beitrag der Chefökonom des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Michael Hüther und der der SPD nahestehende Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum für eine Aufhebung der Schuldenbremse aussprechen, wird ersichtlich, dass hier Wirtschaftswissenschaftler eine gemeinsame Haltung vertreten, die in ihrem Begründungszusammenhang auf fundamentale Veränderungen in der Wirtschaft, die nicht zu negieren sind, rekurriert.


Welche sind diese Entwicklungen? Oliver Blanchard, der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF) und viele andere Ökonomen haben auf einen Zusammenhang hingewiesen, der immer mehr an die Öffentlichkeit tritt: Die langfristigen Zinsen in fast allen Industrieländern sind seit ungefähr 30 Jahren – in Deutschland seit ungefähr 40 Jahren – tendenziell rückläufig, was auf dauerhafte strukturelle Ursachen und eine Veränderungsdynamik in Wirtschaft und Gesellschaft hindeutet, auf die ich auch schon in einem früheren ZU|Ruf hingewiesen habe. Dieser Rückgang der Zinsen hat dazu geführt, dass in Deutschland seit etwa zehn Jahren die Wachstumsrate des nominalen Bruttoinlandsprodukts über dem durchschnittlichen Zinssatz des ausstehenden Bestandes an Staatsverschuldung liegt. Die Folge davon ist, dass die fiskalischen Kosten der Staatsverschuldung nunmehr sehr stark gesunken sind beziehungsweise es zudem in Zukunft keine fiskalischen Kosten mehr gäbe, wenn man davon ausgehen könnte, dass der Zinssatz mit Sicherheit unterhalb der Wachstumsrate verbleiben würde.


Der Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit, die als einer der Hauptgründe für eine Schuldenbremse eingeführt wurde, damit zukünftige Generationen nicht durch ungebremste Schuldentätigkeit der jetzigen Generation belastet werden würde, hat in einer solchen Konstellation, in der rapide steigende Zinsen für einen absehbaren Zeitraum sehr unwahrscheinlich sind, kaum mehr Relevanz. Es spräche, so Blanchard, zumindest dann wenig gegen eine Finanzierung von langfristigen Investitionen des Staates durch eine zusätzliche heutige Kreditaufnahme. Die Erwartung, dass das Zinsniveau in Deutschland auch in Zukunft sehr niedrig sein wird, lasse sich zum Beispiel daran erkennen, dass selbst die 30-jährige Bundesanleihe momentan nur zu einem Zinssatz von knapp über null notiert. Öffentliche Verschuldung könnte somit im Angesicht der Zinskonstellationen auch für zukünftige Generationen einen Wohlfahrtsgewinn darstellen, wenn durch die öffentlichen Investitionen starke Wachstumsimpulse ausgelöst werden würden, es also nicht zu einem „crowding out“ – der Verdrängung von Investitionen des privaten Sektors durch Investitionstätigkeit des Staates – kommt. Diesbezüglich befindet sich aber gerade Deutschland nach Auffassung vieler Ökonomen in einer Konstellation, die sogar eher für eine „crowding in“-Situation sprechen würde – eine Komplementarität von öffentlichen und privaten Investitionen.

Die Zinsen dauerhaft im Keller, die Konjunktur am Ende eines Zyklus. Wie soll da die Wirtschaft wieder brummen, der Konsum florieren? Das fragen sich aktuell auch viele Ökonomen – und haben eine einfache Antwort parat: Artikel 115 im Grundgesetz muss weg. Denn dort steht die Schuldenbremse – im Gesetzesdeutsch heißt das: „Einnahmen und Ausgaben sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen.“ Sie wurde Anfang 2009 von der Föderalismuskommission beschlossen, um die Staatsverschuldung zu begrenzen. Seit 2011 macht sie Bund und Ländern verbindliche Vorgaben zur Reduzierung des Haushaltsdefizits. Mit der Schuldenbremse im Grundgesetz wird die „strukturelle“, also von der Konjunktur unabhängige, staatliche Neuverschuldung für die Länder verboten und für den Bund auf maximal 0,35 Prozent des nominellen Bruttoinlandsprodukts beschränkt. Ausnahmen für Naturkatastrophen oder Wirtschaftskrisen sind allerdings weiterhin vorgesehen – und genau letzteres könnte angesichts einer drohenden Rezession jederzeit drohen, so die Sorge der Experten.
Die Zinsen dauerhaft im Keller, die Konjunktur am Ende eines Zyklus. Wie soll da die Wirtschaft wieder brummen, der Konsum florieren? Das fragen sich aktuell auch viele Ökonomen – und haben eine einfache Antwort parat: Artikel 115 im Grundgesetz muss weg. Denn dort steht die Schuldenbremse – im Gesetzesdeutsch heißt das: „Einnahmen und Ausgaben sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen.“ Sie wurde Anfang 2009 von der Föderalismuskommission beschlossen, um die Staatsverschuldung zu begrenzen. Seit 2011 macht sie Bund und Ländern verbindliche Vorgaben zur Reduzierung des Haushaltsdefizits. Mit der Schuldenbremse im Grundgesetz wird die „strukturelle“, also von der Konjunktur unabhängige, staatliche Neuverschuldung für die Länder verboten und für den Bund auf maximal 0,35 Prozent des nominellen Bruttoinlandsprodukts beschränkt. Ausnahmen für Naturkatastrophen oder Wirtschaftskrisen sind allerdings weiterhin vorgesehen – und genau letzteres könnte angesichts einer drohenden Rezession jederzeit drohen, so die Sorge der Experten.

Welches wären diese Investitionen? Ich möchte hier nur auf einige wenige Aspekte eingehen, die momentan in Deutschland intensiv diskutiert werden. Zum einen sind dies Infrastrukturinvestitionen: Investitionen in die digitale Infrastruktur, in die Verkehrsinfrastruktur und Konzepte, die Mobilität mit geringen Ressourcenverbrauch und hoher Klimafreundlichkeit fördert, und gerade in die (frühkindliche) Bildung gehören dazu. Eine gut ausgebaute öffentliche Infrastruktur führt zu einer besseren Verteilung von Lebenschancen und damit zu einer gerechteren Gesellschaft.


Ein besonderes Augenmerk der Diskussion liegt in Deutschland zur Zeit jedoch auch darauf, was der Bonner Ökonom Moritz Schularick „die neue Wohnungsfrage“ nennt: Es wird argumentiert, dass die Situation am deutschen Wohnungsmarkt sich in nächster Zeit weiter verschärfen wird, wenn die Bautätigkeit nicht zügig und massiv ausgeweitet wird. In den städtischen Ballungsräumen herrscht ein Mangel an bezahlbaren Wohnraum. Ein umfassendes öffentliches Wohnungsprogramm als Investition hätte dabei nicht nur zur Folge, dass das Angebot an Wohnraum gerade in den Städten und Stadtrandgebieten erhöht werden könnte, sondern es kann auch zu einer effizienteren Ressourcenallokation führen. In den Städten bleiben vielfach gut bezahlte Stellen unbesetzt, weil die Mieten zu hoch sind oder es nicht möglich ist, für die Familie bezahlbaren Wohnraum zu finden. Deshalb nehmen Arbeitnehmer weniger produktive Arbeitsangebote außerhalb von Städten an.


Staatliche Investitionen in diesen Bereich könnten zudem der Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken. Die Preisentwicklung am Immobilienmarkt seit 2011 hat Immobilienbesitzern insgesamt einen Vermögenszuwachs von ungefähr drei Billionen Euro beschert und somit maßgeblich die Vermögensverteilung beeinflusst. Verlierer des Booms sind städtische Mieterhaushalte mit geringen Einkommen. Öffentliche Investitionen in den Wohnungsbau könnten demzufolge Verteilungswirkungen haben, die in der Lage wären, das soziale Konfliktpotential des deutschen Immobilienbooms zu entschärfen.

In eine ähnliche Richtung gehen Initiativen, die es – oft als Folgeerscheinung von Globalisierung – strukturschwachen und hochverschuldeten Kommunen ermöglichen sollen, den Investitionsstau in den von ihnen verantworteten Infrastrukturbereichen aufzulösen. Eine Entschuldung dieser Kommunen sei notwendig. Hierzu gehöre eine Altschuldentilgung und eine Neuordnung der kommunalen Finanzausstattung, wie es in einer im vergangenen Jahr erschienenen Regionalstudie des IW heißt. Nur wenn sich die finanzielle Handlungsfähigkeit dieser Kommunen verbessere, könnten sie die lokale Daseinsvorsorge und die Infrastruktur vor Ort erhalten; damit würde zudem die Attraktivität dieser Kommunen für Privathaushalte und Unternehmen gleichermaßen gesteigert werden. Einem weiteren Auseinanderklaffen des Ausmaßes der wirtschaftlichen Aktivität könnte somit entgegengewirkt werden und die Abwärtsspirale in bestimmten Regionen gestoppt werden.


Dass diese Verlierer(-regionen) zudem politisch sich immer stärker polarisieren und damit dem Aufkommen des Populismus Vorschub leisten, zeigt sich anhand empirischer Analysen des Wahlverhaltens in jüngerer Zeit in Deutschland. Die Entschuldung der Kommunen, unabhängig davon, wie der konkrete Lösungsmechanismus im Spannungsverhältnis von Bund und Ländern aussieht, hätte das Potenzial, die kommunale Finanz- und Investitionskrise zu bereinigen und könnte aufgrund ihrer Komplementaritätseigenschaften zu Privatinvestitionen eine bessere Chancengerechtigkeit für die Menschen in Deutschland bedeuten.


Zu guter Letzt soll auf die Idee eines Staatsfonds verwiesen werden, der sich die Renditedifferenz zwischen den (negativen) Zinsen, die der deutsche Staat bei Schuldenaufnahme zu entrichten hat, und dem erwarteten Ertrag aus der Anlage dieser zusätzlich aufgenommenen Mittel international diversifiziert in Aktien, Immobilien und Anleihen zu eigen macht. Wir wissen aus empirischen Untersuchungen zu den Renditedifferenzen aus einer solchen Anlagestrategie – basierend auf einen Zeithorizont von knapp 150 Jahren und auf Zahlen aus 15 industrialisierten Ländern –, dass in der längeren Frist Renditedifferenzen von mehr als fünf Prozent nicht unüblich sind. Der erzielte Ertrag übersteigt somit die auf die Schulden zu entrichtenden Zinsen im beträchtlichen Maße.


Durch diese Investitionen erzielte Ertragsüberschüsse könnten genutzt werden, um wie es der Ökonom Giacomo Corneo vorschlägt, eine „soziale Dividende“ zu finanzieren oder, wie im Vorschlag von Clemens Fuest vom ifo Institut für Wirtschaftsforschung München, eine zusätzliche Säule der Alterssicherung zu schaffen. Selbstredend muss ein solcher Staatsfonds in seiner institutionellen Architektur so ausgestaltet sein, dass die Mittel nicht zweckentfremdet werden können. Gerade dann bietet er in der aktuellen Zinskonstellation die Chance, die Gesamtwohlfahrt zu erhöhen und im Interesse der gesamten Bevölkerung die Situation zu nutzen.


Die Schuldenbremse, wie sie im Grundgesetz verankert ist und mehr noch die schwarze Null ist also aus vielfältigen Gründen reformbedürftig. Sie läuft den Ansprüchen, die an das Gemeinwesen im 21. Jahrhundert gestellt werden, in der vorliegenden Form zuwider und entbehrt einer ökonomischen Grundlage.

Titelbild: 

| Olichel / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link


Bild im Text: 

| InstagramFotografin / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Marcel Tyrell

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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