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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
In der Welschschweiz, habe ich kürzlich gelernt, sind „Philosophy Slams“ richtig populär geworden, Wettbewerbe zwischen (oft) selbsterklärten Intellektuellen, die in Auftritten von wenigen Minuten versuchen, ihren Witz brillieren und ihre scharfe Zunge schneiden zu lassen. Vor Zuschauern aus Biel wagte ein Starter aus Lausanne das helvetische Maximum: Er fragte ebenso laut wie frech, wann sich die Nation denn endlich von ihrem Federer-Über-Ich erlösen werde und verwies mit angestrengter Schadenfreude auf Rogers Niederlagen während der vergangenen Saison als Symptome eines unumkehrbar beginnenden Abstiegs.
Allerdings scheiterte der eigentlich gut kalkulierte Auftritt. Schon nach den ersten Sätzen entstand Unruhe im Publikum, und bei der Jury-Abstimmung zum Schluss landete die Nummer auf einem der hinteren Plätze – obwohl sonst Helden, die alles richtig machen und fast immer gewinnen, eher unerträglich wirken. Doch genau dies ist das doppelte Federer-Paradox: Weitere Siege und mehr Vollkommenheit lassen Rogers Beliebtheit ebenso wachsen wie einsetzende Niederlagen.
Das doppelte Paradox kann man sogar logisch entfalten. Ein Leben verkörperter Vollkommenheit wird erstens zu einem Leben ohne Profil (über das zu schreiben übrigens auch sehr schwer fällt): Da Roger Federer so ziemlich alle Rekorde der Tennisgeschichte eingestellt oder gebrochen hat, bleibt unklar, auf welchen Aspekt man sich konzentrieren soll, um ihn zu loben: die Zahl der Grand-Slam-Siege, der Grand-Slam-Finals oder der Monate auf der ersten Stelle der Weltrangliste. Und warum muss das Leben zweitens ein solches Glückskind selbst außerhalb des Sports favorisieren? Vier Kinder, zwei eineiige Zwillinge, zwei Mädchen und zwei Jungen. Von den Einkünften als Werbeträger gar nicht zu reden – dank eines Gesichts, das offenbar zu jedem Luxusprodukt passt.
Trotzdem ist Federer zum positiven Emblem der modernen Schweiz wie zum Helden der Stadien weltweit (und auch der Einschaltquoten) geworden.
Zum „größten Tennisspieler aller Zeiten“ haben ihn nicht wenige Spezialisten gekürt – und zum herausragenden Sportler unserer Gegenwart. Dabei fällt es schwer, zu sagen (schon wieder das Paradox!), ob Roger Federer seinen Sport entscheidend verändert oder sogar verbessert hat wie John McEnroe zum Beispiel, mit dem das Tennis athletisch wurde.
Roger liegt eben einfach alles: Grundlinienspiel, Volleys, Kunstschläge, Spin, Slice und natürlich Aufschläge. Er ist ebenso schnell wie kräftig – und er hat den Kampf mit den Rackets gewiss schöner gemacht, allerdings auf schwer definierbare Weise. Statt darüber zu hadern, dass sie alle gegen Roger Federer häufiger verloren als gewonnen haben, sehen es gerade seine größten Rivalen als ihr Glück an, mit ihm die Bühne des weißen Sports zu teilen: Rafael Nadal vor allem, Novak Djokovic, Andy Murray. Aus ihren Matches stieg das „goldene Zeitalter des Männertennis“ auf, wo vor lauter Qualität und Spannung am Ende unwichtig wird, wer siegt – wie zum Beispiel beim vielleicht besten Tennismatch aller Zeiten, nämlich Nadals Sieg gegen Roger in Wimbledon 2008, oder beim längsten Wimbledon-Finale der Geschichte, seiner Niederlage gegen Djokovic vom vergangenen Sommer. Dabei weiß er sichtbar um seinen alle überragenden Status und wirkt dennoch bescheiden. Noch ein Federer-Paradox.
Am Ende des vergangenen Jahres aber, das – bei allen für einen Athleten im 39. Lebensjahr kaum glaublichen Erfolgen – Schatten des Karriereendes vorauswarf und endlich die Stärken einer neuen Generation zum Vorschein brachte, kommt unvermeidlich die Frage auf, wie denn ein Danach aussehen könnte – für Roger Federer ebenso wie für seine Fans. Ob er sich selbst diese Frage mehr als beiläufig stellt, ob er über den berühmten „rechten Moment“ zum Abtreten nachdenkt, wissen wir nicht. Und wieder heißt die eine Antwort, dass Roger Federer alle vorstellbaren Türen offen stehen. Er könnte – aus Spaß an der Sache – Trainer jüngerer Spieler werden oder Kapitän der Schweizer Davis-Cup-Mannschaft.
Einen ersten Schritt, um Einfluss auf die Organisation des globalen Tennis zu nehmen, hat er als Gründer des Laver Cup und mit der Beteiligung seiner Managementfirma Team 8 an den einschlägigen Vorbereitungen schon getan. Und wer wäre besser qualifiziert, zum Internationalen Olympischen Komitee zu gehören oder ihm eines Tages sogar vorzusitzen, als Roger Federer? Wer in besserer Startposition für einen Weg in der Schweizer oder gar in der internationalen Politik? Keine Partei wäre gut beraten, ein solches Interesse auf seiner Seite zu ignorieren.
Die größte, sich vielleicht schon abzeichnende Herausforderung liegt allerdings in einer ja wirklich denkbaren Zukunft, in der Federer während der nächsten Jahre von dem herausragenden zu einem sehr guten Tennisspieler werden könnte – und vielleicht am Ende zu einem Spieler, der nicht mehr gesetzt wird. Vergessen wird ihn die Tenniswelt jedenfalls nie, selbst wenn ihn seine Form eines Tages nicht mehr zum Mitspielen bei Profiturnieren qualifizierte. Möglicherweise könnte dies seine singuläre, weil unwahrscheinlichste Leistung werden.
Und die Fans? Eines – fernen oder nahen – Tages werden ihnen Matches mit Roger Federer fehlen, so wie die Schweiz ihre nicht nur sportlich zentrale Emblem- und Identifikationsfigur vermissen wird. Ein Jesse Owens, ein Muhammad Ali oder ein Roger Federer lassen sich nicht von den ehrgeizigsten nationalen Talentförderungsprogrammen oder gar auf Abruf produzieren.
Federers Spiel wird in lebenden Bilddokumenten und im Medium der E-Games für eine lange Weile nachhallen, ohne dort freilich Ereignis zu bleiben. So sollten wir beginnen, uns vorwegnehmend an eine nostalgische Dankbarkeit zu gewöhnen, an die Dankbarkeit für das Glück nämlich, den Tennissport während der goldenen Federer-Zeit verfolgt zu haben. Vor allem, weil für die meisten von uns die Chancen ja eher gering sind, Roger Federer selbst je dankbar die Hand zu drücken.
Dieser Artikel ist am 08. Januar unter dem Titel „Das doppelte Federer-Paradox“ in Die Weltwoche erschienen.
Titelbild:
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Bild im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm