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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Die vor allem vor wenigen Wochen in jahresendlicher Stimmung so selbstverständlich gewordene Geschichtsgliederung nach Dekaden könnte sich rückblickend als eine spezifische Formel des 20. Jahrhunderts erweisen: als ein Kompromiss vielleicht zwischen den 30 Jahren einer „Generation“, wie sie seit dem Mittelalter für die Gegenwart stand, und dem Gefühl einer laufenden „Beschleunigung“ des historischen Wandels, die bald nach 1900 zur emblematischen Beschreibung der laufenden Zeit wurde. Bis heute jedenfalls erfahren, denken und fragen wir gerne in einer Sequenz von Jahrzehnten; doch seit der Zerstörung der New Yorker Twin Towers am 11. September 2001 hat sich der Eindruck beharrlich verbreitet, dass die Zeit nicht mehr einen gerichtet linearen Kurs verfolgt, der beständig markante Schwellen – vor allem Schwellen zwischen Jahrzehnten – überschreitet.
Umso mehr überrascht angesichts dieser Veränderung der deutliche Kontrast zwischen dem zu Ende gegangenen Jahr 2019 und dem Jahr 2009. 2009 begann die Präsidentschaft von Barack Obama, der in seinem ersten Wahlkampf mit dem Motto „Yes, we can“ noch einmal die Energie und den Glauben an politischen wie sozialen Fortschritt als „Prozess der Moderne“ heraufbeschworen hatte. Ebenfalls 2009 machte Obamas sozialistischer Kollege Evo Morales für Bolivien zum ersten Mal in einem südamerikanischen Land das Recht vorkolonialer Bevölkerungsgruppen auf politische Selbstbestimmung zum Gesetz; und im Dezember 2009 schließlich trat jenes Bündel von 2007 in Lissabon verabschiedeten institutionellen Strukturen in Kraft, die Europa um den entscheidenden Schritt hin zu einer politischen Einigung führen sollten.
Diesen Eindruck einer Konvergenz von entscheidenden Bewegungen hin zu einer besseren, einer modernen Zukunft schien die eindrucksvolle Liste der im selben Jahr verstorbenen Protagonisten zu ergänzen. Zu ihnen gehörten Raúl Alfonsín, der erste nach einer blutigen Militärdiktatur demokratisch gewählte Präsident Argentiniens, und John F. Kennedys jüngerer Bruder Ted, dessen Lebenswerk auf einen (im amerikanischen Verständnis des Worts) liberalen Fortschritt gesetzt hatte; Claude Lévi-Strauss, der den Strukturalismus in die Sozialwissenschaften eingeführt hatte, und Ralf Dahrendorf, in dessen Werk zum ersten Mal eine nicht marxistische Theorie von Klassenkonflikten entstanden war; aber auch Pina Bausch, die eine Revolution des klassischen Balletts zum Tanztheater inspiriert hatte, und Michael Jackson als Verkörperung des entsprechenden Umbruchs in den populären Medien.
Hingegen legen die Namen der bekanntesten Toten von 2019 den Verdacht nahe, dass eine weitere Generation von Erneuerern nicht mehr nachgewachsen ist, wie es das Konzept der Moderne als Imperativ beständiger Veränderung voraussetzte. Zu den großen Verstorbenen des Vorjahres gehören etwa der Denker Michel Serres, in dessen Büchern einige der strukturalistischen Gedanken von Lévi-Strauss zu ihrer letzten Entfaltung gelangten, oder der Radrennfahrer Raymond Poulidor, dessen unvergleichliche Beliebtheit aus dem Charme des „ewigen Zweiten“ (vor allem bei der Tour de France) entstand. Dass also die seit dem späten zweiten Millennium schon ab und an totgesagte Moderne während des vergangenen Jahrzehnts endgültig und in einem doppelten Sinn zu Ende gegangen sein könnte, lassen uns vor allem politische Ereignisse und Strukturen aus der jüngsten Vergangenheit annehmen, welche in dramatischem Gegensatz zur Zeit um 2009 stehen.
Vor einigen Tagen erst ist der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union unumkehrbar geworden; vor mehreren Wochen zwangen Protestbewegungen Evo Morales ins zunächst mexikanische und nun argentinische Exil; und vor allem sind während der vergangenen Jahre in einer wachsenden Zahl von Nationen die Rollen der Macht Politikern zugefallen, die wie Donald Trump auf die Erzeugung affektiv intensiver Resonanz bei ihren Anhängern setzen und nicht mehr auf konkret umschriebene Positionen oder Projekte. Zwischen emphatischer Beistimmung und empörter Ablehnung hinsichtlich solcher Entwicklungen ist die nicht mehr durch „Streitkulturen“ zu überbrückende zweipolige Spaltung von Gesellschaften zu einem globalen Strukturmerkmal der Gegenwart geworden; und statt dieser Polarisierung als Konsensmedien verbindlich eindeutige Fakten und ihre normativen Konsequenzen entgegenzuhalten, verkommen die von den elektronischen Medien vermittelten Sturzbäche der Information in wechselseitig-polemischer Abwertung zu „Fake News“.
Wer diese vielfältigen Veränderungsbeobachtungen zum vergangenen Jahrzehnt in wechselseitigen Zusammenhang bringen möchte, kann bei einer Ablösung von Formen kollektiver Zeit einsetzen, wie sie sich seit dem Ende des zweiten Millenniums abgezeichnet hat. Die Zeitform der gerichteten Abfolge von Jahrzehnten in Entwicklungsbögen des Fortschritts, wie sie sich seit Ende des 18. Jahrhunderts ausgebildet hatte, nannten wir das „historische Weltbild“. Es brachte den Eindruck einer Existenz hervor, die beständig Vergangenheit hinter sich ließ, um im Übergang durch eine unwahrnehmbare kurze Gegenwart die als offen konzipierte Zukunft zu gestalten. Die vor allem auf Hegel zurückgehende „Geschichtsphilosophie“ hatte diese Zeitform zum Horizont und Rahmen des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Handelns überhöht.
Doch während wir in Momenten der Reflexion diesem Rahmen noch vertrauen, erscheint in unserem Alltag mittlerweile die früher offene Zukunft von Gefahren besetzt (Erderwärmung, drohende Erschöpfung der Rohstoffe, demografische Entwicklung), die unvermeidlich auf uns zukommen, während die Vergangenheit, statt hinter der Gegenwart zurückzubleiben – auch aufgrund elektronischer Speichertechnologien – die Gegenwart mit Wissen, Dokumenten und Bildern überschwemmt. Zwischen jener „blockierten“ Zukunft und dieser „aggressiven“ Vergangenheit ist aus der kurzen Gegenwart des Übergangs die Zeitform einer „breiten Gegenwart“ geworden, welche alles einschließt, was Menschen erleben und denken können – und mithin sowohl das früher (Vorstellbare, aber) Unmögliche als auch das früher (Unvermeidliche und deshalb) Notwendige zu Horizonten der individuellen menschlichen Auswahl macht. Die breite Gegenwart ist also eine Zeitform ungeheurer Freiheiten und deshalb zugleich eine Zeitform, die uns alle permanent überfordert.
Diese Ablösung in den dominanten Rahmenstrukturen unserer Existenz mag sich schon um die Jahrtausendschwelle – offenbar weitgehend hinter dem Rücken der kommentierenden Intellektuellen – vollzogen haben. Im zweiten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends aber sind zwei neue politische Stilarten entstanden, welche einerseits funktionsäquivalent sind, weil sie beide auf die Komplexitätsüberforderung der breiten Gegenwart mit Angeboten von Komplexitätsreduktion reagieren und sich andererseits in ihrem Ton und ihren Gesten so drastisch unterscheiden, dass eben dieser Gegensatz die Gesellschaftsspaltung als globales Phänomen erklärt.
Vor allem ins Auge fällt als Matrix der „Resonanzpolitik“ die Sehnsucht und der Glaube, sich an starken Persönlichkeiten festhalten zu können, deren Programme und Versprechungen so unbestimmt bleiben, wie ihr Authentizitätsgehabe für viele überzeugend wirkt. Der Resonanzpolitik steht als ein anderer, nur scheinbar mehr vertrauter Modus der Komplexitätsreduktion „politische Korrektheit“ gegenüber, welche vorgibt (und sich selbst permanent zu der Annahme überredet), wir lebten noch in der Zeitform des historischen Weltbilds mit all seinen Entwicklungsbögen, Fortschrittsversprechen und daraus ableitbaren „ethischen Normen“ des Verhaltens.
Politische Polarisierung und soziale Spaltung bilden das dominante Syndrom, das aus der neuen Zeitform der breiten Gegenwart hervorgegangen ist. Zugleich ist in ihr als intellektuellem Kraftfeld ein noch während des 20. Jahrhunderts erfundener Zeitbegriff in den Vordergrund getreten, der die Breite der Gegenwart zu ihrem chronologischen Maximum treibt: das Konzept des Anthropozäns, welches ökologisch inspiriert eine Gegenwart aufspannt zwischen den ersten Umweltschäden, die mit der Präsenz der Menschengattung auf dem Planten Erde zu assoziieren sind, und dem angeblich absehbaren Ende dieser Präsenz in einer nicht mehr unendlich fernen Zukunft.
Nichts eignet sich weniger, die kollektive Psyche in einer Gegenwart politisch-sozialer Spannung aufzuhellen, als die möglichen Reaktionen auf das Anthropozän als Gegenwartsbegriff. Denn man kann erstens das möglicherweise bevorstehende Ende der Menschheit zu einer Bestrafung für ökologische Sünden moralisieren; man kann zweitens über Strategien kollektiven Verzichts nachdenken, welche zum Aufschub dieses Endes beitragen könnten; und drittens steht die Frage zur Diskussion, wie denn ein Abtritt der Menschen vom Planeten in Würde aussehen müsste.
Dass die Resonanzpolitik ihr verzweifelt Bestes (oder Schlimmstes) tut, um solche Szenarien zu ignorieren, während politisch korrekte Diskurse mit der ihnen eigenen optimistischen Strenge auf Lösungen unter dem Druck ökologisch-moralischer Daumenschrauben setzen, nimmt der breiten Gegenwart des Anthropozäns mit ihren drohenden Zukunftsbildern nichts von ihrem Schrecken. Im Gegenteil, der freudianische Gedanke liegt nahe, dass die beiden entgegengesetzten Modi von mehr oder weniger erfolgreicher Verdrängung die kollektive Depression nur steigern.
Schwer zu sagen, warum diese Stimmung vor allem den deutschen Himmel verdunkelt hat, den Himmel einer Nation, die sich für die vermeintlichen oder wirklichen Herausforderungen der Zukunft besser gerüstet hält als viele andere. Es mag damit zu tun haben, dass jene nun definitiv versandete Dynamik der Moderne Deutschland eher spät erreicht hatte, obwohl sie ja die Populärversion der aus der deutschen Kultur entstandenen Geschichtsphilosophie war. Nirgends jedenfalls sind die Stimmen der Enttäuschung und Empörung über den Brexit derart schrill wie in Deutschland, nirgends hat der Glaube an die kollektive Lösung ökologischer Probleme so lange gehalten. Die Deutschen verdienen also gewiss den Trost- und Erinnerungspreis für die im zu Ende gegangenen Jahrzehnt untergegangene Moderne. Und, haben Sie darauf etwa angestoßen?
Dieser Beitrag ist am 28. Dezember in der WELT AM SONNTAG und am 30. Dezember unter dem Titel „Die Zeit des Fortschritts ist vorüber“ auf WELT.de erschienen.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm