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Prof. Dr. Wolfgang H. Schulz studierte Wirtschaftswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Nach seiner Habilitation zum Thema „Industrieökonomik und Transportsektor – Marktdynamik und Marktanpassungen im Güterverkehr" an der Universität zu Köln und seiner Tätigkeit als Studiendekan für Logistik und Handel an der Hochschule Fresenius, ist er seit März 2014 Inhaber des Lehrstuhls für Mobilität, Handel und Logistik sowie Direktor des Center for Mobility Studies | CfM an der Zeppelin Universität.
Im Zentrum der Forschung und der Arbeit des Lehrstuhls für Mobilität, Handel und Logistik stehen neue Mobilitätskonzepte und -lösungen. Hierbei werden unter der Anwendung neuer theoretischer Ansätze lohnende Konzepte für die betriebswirtschaftliche Praxis abgeleitet, welche darüber hinaus vor allem einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen stiften.
Schulz ist unter anderem Mitglied im Beirat „Bündnis für Mobilität“ des NRW-Verkehrsministers und langjähriger wissenschaftlicher Experte im Verkehrsausschuss des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen e.V. (BGA).
In der Wirtschaftspolitik gab es vor gut 40 Jahren einen Paradigmenwechsel, der dazu führte, dass das Transportgewerbe und andere Netzindustrien nicht mehr als Aufgabe der staatlichen Daseinsvorsorge angesehen wurden. Sowohl das Transportgewerbe als auch die Netzindustrien wurden privatisiert und dereguliert, um Wettbewerb zu ermöglichen, Effizienzverbesserungen zu erreichen und Wachstumspotenziale zu heben.
Jetzt in der aktuellen Corona-Krise zeigt sich, dass das Transportgewerbe für die Stabilität der Gesellschaft und für die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Volkswirtschaft unverzichtbar ist – was unter anderem auch die Gründe sind, weshalb die Gründerväter der deutschen sozialen Marktwirtschaft zu Recht den Transportsektor als wettbewerblichen Ausnahmebereich aufgefasst haben. Jene Auffassung bewährt sich insbesondere in Krisenzeiten, in denen Krankenhäuser mit physisch verfügbaren Medikamenten versorgt werden müssen, die ihrerseits lediglich physisch transportiert werden können – dies trifft genauso auf die Versorgung der Bevölkerung etwa mit Lebensmitteln oder die Rückholung von Staatsbürgern aus dem Ausland zu, die nicht einfach „zurückgebeamt“ werden können.
Jetzt in der aktuellen Corona-Krise bestätigt sich, dass das Digitale keine Lösung darstellt, um die Funktionsfähigkeit einer Volkswirtschaft sicherzustellen; das Digitale hilft nur, dass die über das Transportgewerbe mit Gütern versorgte Bevölkerung, soweit es ihre Arbeitsprozesse erlauben, von zu Hause arbeiten kann. In der Krise siegt weiterhin das Analoge über das Digitale.
Jetzt in der aktuellen Corona-Krise müssen sich der Staat, die Politik sowie die Bundesregierung bewusstwerden, dass sie den Preis für die zurückliegenden Privatisierungen und Deregulierungen bezahlen müssen. Mehr als 40 Jahre lang hat der Staat Geld gespart, weil er sich für eine marktliche Organisation entschieden hat, was die Haushaltspolitiker erfreut hat. Nun müssen diese Haushaltspolitiker sicherstellen, dass das von ihnen geschaffene marktliche System nicht angesichts der realen Corona-Krise kollabiert. Daher müssen nicht nur die Verhaltensregeln mit aller notwendigen Schärfe durchgesetzt werden, sondern genauso schnell muss das systemrelevante Transportgewerbe gestützt werden.
Erst wenn der Staat in der aktuellen Corona-Krise seinen Verpflichtungen gegenüber dem Transportgewerbe nachgekommen ist, können anschließend die Weichen neugestellt und über neue Marktordnungen für den Transportsektor nachgedacht werden. Dann gehören sowohl für den Güter- als auch für den Personenverkehr neue Konzepte auf den Tisch, die berücksichtigen, dass Mobilität, Handel und Logistik die Funktionsträger unseres Wirtschaftssystems sind, um in einer digitalen Zeit die Bevölkerung mit physischen Gütern versorgen zu können, die zum Überleben notwendig sind.
Der Bundeswirtschaftsminister sieht offenkundig den Lösungsweg darin, dass er etwa bei der Lufthansa Eigentümer wird. Das hilft zwar der Lufthansa, ist aber keine nachhaltige Lösung des Problems. Denn im Gegensatz zum Luftverkehr ist der Straßengüterverkehr mittelständisch organisiert. Wenn der Staat sich an der Lufthansa beteiligt, beteiligt er sich dann auch an jedem mittelständischen Straßengüterverkehrsunternehmen? Da das nicht geschehen wird, muss eine Lösung her, die nicht über Eigentumsrechte – also einen Eingriff in die Unternehmensstruktur –, sondern über die Ausgestaltung der Marktordnung erfolgt. Mit einer solchen Vorgehensweise wird berücksichtigt, dass zwischen den einzelnen Verkehrsträgern marktstrukturelle Unterschiede bestehen. Die neuen Marktordnungen müssen berücksichtigen, dass ein Teil des Verkehrsleistungsangebotes notwendig ist, um die Daseinsvorsorge abzudecken.
Diese neuen Marktordnungen werden einen hybriden Aufbau haben: Das gesamte Verkehrsleistungsangebot setzt sich zusammen aus einem Basisangebot, das die Daseinsvorsorge ermöglicht, sowie einem nachfrageinduzierten zusätzlichen Verkehrsleistungsangebot. Der Markt kann sich aber weiter nach marktwirtschaftlichen Prinzipien entwickeln – und wettbewerbsbestimmte Preise werden sich durchsetzen. Heißt im Detail: Mithilfe von system-dynamischen Marktmodellen ist es möglich zu ermitteln, welches Verkehrsleistungsangebot ein Verkehrsträger bereitstellen muss, damit die Funktionsfähigkeit des jeweiligen Verkehrsmarktes sichergestellt werden kann. Dieses Basisverkehrsleistungsangebot kauft der Staat im Rahmen der Daseinsvorsorge zu kostendeckenden Preisen ein. Der jeweilige Verkehrsträger hat aber trotzdem die Möglichkeit, marktwirtschaftlich zu operieren. Er hat somit den Spielraum, auch ein höheres Verkehrsleistungsangebot zur Verfügung zu stellen, wenn die Verkehrsleistungsnachfrage deutlich höher ausfällt.
Ein solches Vorgehen hätte den Vorteil, dass jeder Verkehrsträger Krisensituationen überlebt, auch wenn eine marktliche Leistungsabgabe nicht möglich ist. Marktwirtschaftliche Anreize gehen trotzdem nicht verloren, weil zwischen den Verkehrsträgern und den Nachfragern nach Verkehrsleistungen ein wettbewerbsbestimmter Preis zustande kommen kann. Ist der Preis höher als die Kosten, kann sogar der Staat für seine Vorauszahlung mit einer Rendite belohnt werden. Konkret würde das beispielsweise bedeuten, dass der Staat zum Beispiel bei einer Fluggesellschaft eine bestimmte Verkehrsleistung im Personenverkehr (Personenkilometer) und eine bestimmte Verkehrsleistung im Frachtverkehr (Tonnenkilometer) einkauft, in dem er die Kosten für diese Verkehrsleistungen trägt. Die Lufthansa verkauft wie immer ihre Flugtickets und legt die Frachtraten fest. Einen Teil der erzielten Gewinne führt sie als Rendite an den Staat ab, der die Vorauszahlungen für die Kosten dieses Verkehrsleistungsangebotes übernommen hat. Wenn der Markt Chancen bietet, kann die Fluggesellschaft ihr Verkehrsleistungsangebot erhöhen. Die über diese zusätzlichen Verkehrsleistungen realisierten Gewinne kommen dann der Fluggesellschaft vollumfänglich zugute.
Wenn diese Vorgehensweise für jeden Verkehrsträger durchgeführt wird, kann der Markt langfristig stabilisiert werden. Hinzu kommt, dass bei einem solchen hybriden Marktaufbau (Angebot einer Verkehrsleistung zur Sicherstellung der Daseinsvorsorge und Angebot einer nachfrageinduzierten Verkehrsleistung) der Staat auch viel leichter klimapolitische oder verkehrspolitische Ziele, wie die Reduzierung von Verkehrsunfällen, verankern und umsetzen kann.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Wolfgang H. Schulz
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm