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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Zu hell strahlen die Erinnerungen aus dem aus Covid-Gründen kompakt gespielten Finalturnier in Lissabon noch, um sich auf den Beginn der neuen Champions-League-Saison einzustellen. Und dass man aus finanziellen Gründen zum spannungsarmen Modus der Hin- und Rückspiele zurückkehrt, steigert die Vorfreude nicht gerade. Aber hatte es denn eigentlich sportliche Überraschungen in den portugiesischen Wochen gegeben?
Obwohl die Qualität des jährlichen Clubwettbewerbs mittlerweile die Weltmeisterschaft der Nationalteams klar in den Schatten stellt, waren die sieben Spiele Mitte August ausgerechnet zum Triumph der beiden letzten Weltmeisterländer geworden. Je zwei Mannschaften aus der deutschen wie der französischen Liga erreichten die Halbfinals und distanzierten die sonst als stärker eingeschätzten Ligen von England und Spanien. Im Endspiel siegte eher erwartungsgemäß Bayern München über Paris Saint Germain – mit dem Tor eines französischen Stürmers.
Als echte Sensation jedoch wurde die Tatsache von den Medien verbucht, dass drei der vier Halbfinaltrainer aus Deutschland kamen: Hansi Flick (Bayern), Thomas Tuchel (PSG) und Julian Nagelsmann (RB Leipzig). Selbstredend gehört zu dieser Gruppe auch Jürgen Klopp, der aktuelle „Welttrainer“ der vorigen Saison, dessen FC Liverpool dieses Jahr die englische Liga und 2019 die Champions League gewann.
Nie zuvor haben deutsche Fußballlehrer auf so hohem Niveau und in solcher Breite geglänzt. Glanz an sich wirkt ja schon atypisch im Kontext ihrer Tradition, die man primär mit Hingabe, Härte und Schweiß assoziiert. Den Eindruck des Durchbruchs bestärkt weiter der Kontrast einer Stimmung, die Joachim Löw, den Weltmeistercoach von 2014, nach einem Jahr mit nur einem Sieg der in Deutschland früher besonders beliebten Nationalmannschaft nun als „Ritter von der traurigen Gestalt“ infrage stellt. Außerdem machen solche Beobachtungen klar, wie die Trainerrolle zu einem Grad von Bedeutung und Aura aufgestiegen ist, der vor einem Vierteljahrhundert noch nicht vorstellbar war.
Dahin führte eine Folge von Momenten geschichtlicher Diskontinuität. Bei der ersten Weltmeisterschaft 1930 in Montevideo waren etwa im uruguayischen Siegerteam die Rollen von Captain José Nasazzi und dem gleichaltrigen Trainer Alberto Suppici kaum voneinander abgegrenzt. Als erste große Trainergestalt prägte sich dann Vittorio Pozzo ein, der Italien bei den Weltmeisterschaften von 1934 und 1938, aber auch bei den Olympischen Spielen von 1936 zum Sieg führte. Mit seiner Dauerreflexion über Aufstellungen in Pyramidenform eröffnete er eine Epoche, deren Coaches individuelle Strategieideen repräsentierten. Dies galt für den Schweizer Nationaltrainer Karl Rappan aus Wien mit seinem „Riegel“ ebenso wie Jahrzehnte später für Helenio Herrera und die Weiterentwicklung des Riegels zum italienischen Defensivstil des „Catenaccio“.
Den entscheidenden Übergang zur Gegenwart markierte nach 1990 der vormalige niederländische Starspieler Johan Cruyff als Trainer des FC Barcelona, der den von seinem Nationalcoach Rinus Michels erfundenen „totalen Fußball“ als Aufhebung aller stabilen Raumzuordnungen zum globalen Standard machte. Von Cruyff inspiriert, schrieb Pep Guardiola die Offenheit des totalen Fußballs wieder in ein System um und rivalisierte mit dem auf Motivationskompetenz setzenden José Mourinho um die Weltführung.
Inzwischen liegen die letzten internationalen Erfolge von Guardiola und Mourinho schon gegen ein Jahrzehnt zurück, sodass die Frage aufkommt, ob die deutschen Trainer der Gegenwart ein überlegenes Paradigma verkörpern. Ein gemeinsamer Nenner unter ihnen zeichnet sich allerdings auf den ersten – und auch auf den zweiten – Blick nicht ab.
Zum Beispiel sind die Geburtsjahre der vier deutschen Kollegen zwischen 1965 (Flick), 1967 (Klopp), 1973 (Tuchel) und 1987 (Nagelsmann) zu weit voneinander entfernt, um auch nur von einer Generation innerhalb ihres Berufs zu reden. Und abgesehen davon, dass sie alle ihre Ausbildung nach den Vorschriften des Deutschen Fußballbunds absolvierten, gibt es nur gelegentliche Affinitäten, aber keinen Standardweg ihrer Karrieren: Klopp und Tuchel lösten einander in Mainz und Dortmund ab, bei einem der kleineren und dem wahrscheinlich populärsten Club der Bundesliga; Tuchel und Nagelsmann waren sich als Jugendtrainer in Augsburg begegnet; Flick und Nagelsmann besetzten in zeitlichem Abstand verschiedene Funktionen bei der TSG Hoffenheim, dem von SAP-Chef Dietmar Hopp zum Spitzenteam geformten früheren Dorfverein.
Für eine besondere Strategieform steht allein Jürgen Klopp mit dem sogenannten Gegenpressing, der offensiven Stil fördernden Vorgabe, nach Ballverlusten den Ball sofort wieder zurückzuerobern, statt sich als Abwehr zu formieren. Zum Gegenpressing passt es, dass Klopp auch für seine Fähigkeit der intensiven Motivation berühmt geworden ist, die freilich nach mehreren Jahren auf maximalem Energieniveau offenbar bei einem Status von Erschöpfung enden kann.
Schließlich können Tuchel, Nagelsmann und selbst Klopp als „Fußball-Intellektuelle“ gelten, wenn man darunter Trainer versteht, die mit dem Gedanken an eine akademische Ausbildung außerhalb des Sports gespielt haben und in Interviews gelegentlich mit brillanten Formulierungen oder gar Pointen beeindrucken. Flick hingegen ist selbst nach seinem kaum zu überbietenden Erfolgsjahr in München dem betont nüchternen Stil eines ehemals am Rande stehenden Trainerassistenten treu geblieben.
Nichts außer ihrem Erfolg und ihrer Staatsangehörigkeit scheint also Nagelsmann, Tuchel, Klopp und Flick zu verbinden. Darüber hinaus teilen sie nur die vage Kontur von drei Eigenschaften ohne primäre Fußballrelevanz: Sie alle stammen aus den beiden süddeutschen Bundesländern, Flick und Klopp aus Baden-Württemberg, Tuchel und Nagelsmann aus Bayern, genauer aus dem an Baden-Württemberg grenzenden westlichen Bayern (auch Joachim Löw wuchs – wie Jürgen Klopp – im südwestdeutschen Schwarzwald auf). Ein norddeutsches Stereotyp würde von dieser Region wohl erfolgsorientierte Flexibilität und Freundlichkeit erwarten.
Zweitens brachte es keiner der vier Erfolgstrainer je zu wahrer Prominenz als Spieler. Flick erreichte immerhin an die 200 Bundesligaspiele für Bayern München und den 1. FC Köln, während Jürgen Klopp selbstironisch von seinem „Viertliga-Fuß“ beim damaligen Zweitligisten Mainz spricht. Weder Tuchel noch Nagelsmann nahmen aufgrund früher Verletzungen je wirklich eine Laufbahn jenseits der Jugendebene auf. Dies mag drittens erklären, warum keiner von ihnen explizit und öffentlich eine Hierarchie- oder gar Vaterrolle gegenüber den Spielern einnimmt.
Jürgen Klopp scheint es zu gelingen, die eigene Begeisterung über Liverpools Erfolge in Motivationsschübe für die Mannschaft umzusetzen (natürlich könnte es sich dabei um eine Selbstinszenierung handeln). Es ist beeindruckend zu sehen, wie Thomas Tuchel das Training vor allem nutzt, um die Spielfreude von Stars wie Mbappé oder Neymar zu wecken und wach zu halten. Hansi Flick sind seine Profis für die Geduld dankbar, mit der er sportliche und bei Bedarf auch private Probleme durchdiskutiert. Und da Julian Nagelsmann die Rolle als Bundesligatrainer in einem Alter anvertraut wurde, das dem Durchschnitt seiner Spieler entsprach, muss er vor allem Autorität ganz ohne strukturelle Vorgaben gewonnen haben.
Sollte also – paradoxerweise – gerade ein Profil aus solch schwachen Konturen, ein Profil aus demonstrativer Hierarchieabstinenz, offener Wertschätzung für die eigenen Spieler und südlich-erfolgsorientierter Freundlichkeit die Stärke und sogar den Glanz der neuen deutschen Trainer ausmachen? Diese Einstellung mag zu der gemeinsamen Bereitschaft geführt haben, sich von Spiel zu Spiel speziell auf den jeweiligen Gegner und die je gegebene eigene Situation einzustellen, statt bestimmte Strategieformeln hochzuhalten. So kommen die vier Trainer, ganz ohne Programm, zu Johan Cruyffs Aufhebung aller stabilen Schemata zurück und gewinnen Resonanz bei einer Generation von Spielern, die sich mit der Rolle eines koordinierenden Kollegen in ihrer Mitte wohler fühlen als mit Autoritätsfiguren.
Oder sollte die deutsche Trainersensation des vergangenen Sommers doch nur ein schöner Zufall ohne Konsequenzen für die Zukunft gewesen sein?
Dieser Artikel ist am 20. Oktober unter dem Titel „So eroberten die deutschen Trainer Europa“ im Tages-Anzeiger erschienen.
Titelbild:
| Michael Ungacta / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Fars News Agency (CC BY 4.0) | Link
| Tomukas / Thomas Holbach, Eigenes Werk (CC BY-SA 3.0) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm