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Die chinesische Regierung hat aggressiv auf die Entscheidungen der litauischen Regierung reagiert. Sie will nicht dulden, dass ein osteuropäisches Land aus dem 17+1-Dialog aussteigt, einem der Prestigeprojekte von Präsident Xi Jinping. Noch wichtiger ist es, Litauen daran zu hindern, Beziehungen zu Taiwan aufzubauen. Die chinesische Führung befürchtet, dass die Duldung eines solchen Vorgehens andere Länder ermutigen könnte, den gleichen Schritt zu tun.
Die Europäische Kommission versucht zwar, das EU-Mitgliedsland Litauen zu unterstützen, will dabei aber die wirtschaftlichen Beziehungen zu China nicht gefährden. Auch wenn sie noch nicht sicher sind, wie sie mit Peking umgehen sollen, sind sich viele europäischen Politiker zumindest der Herausforderung bewusst, die China darstellt. Die 2019 erstmals veröffentlichte Losung, dass China ein Partner, zugleich aber auch ein Konkurrent und Systemrivale ist, bringt die Zweideutigkeit der europäischen Politik gegenüber diesem Land auf den Punkt. Der Fall Litauen zwingt die EU nun dazu, entweder die chinesische Politik zu tolerieren, um ihre Handelsinteressen zu schützen, oder ein kleines Mitgliedsland zu verteidigen, das nicht in der Lage ist, sich ohne die Unterstützung der anderen Mitgliedsländer gegen Peking zu behaupten.
Während Litauen nie viel Handel mit China betrieb, ist Deutschland vom chinesischen Handel deutlich stärker abhängig. Litauen liefert etwa 1 Prozent seiner Exporte nach China, Deutschland dagegen rund 7 Prozent. Im Jahr 2021 exportierte Deutschland Waren im Wert von 104,6 Milliarden Euro (110 Milliarden US-Dollar) nach China – mehr als die nächsten zehn EU-Länder zusammen. Im deutschen politischen Diskurs wird der Außenhandel seit langem von der Außenpolitik getrennt. Geschäfte sowohl mit China als auch mit Russland wurden lange als legitim angesehen, weil man davon ausging, dass der Handel mit der Zeit dazu beitragen würde, diese Länder offener und demokratischer zu machen.
Im Februar des vergangenen Jahres behauptete der Vorstandsvorsitzende von Volkswagen, Herbert Diess, dass nur 5,7 Prozent der Weltbevölkerung in Demokratien, „wie wir sie kennen“, lebten. Doch der Economist Democracy Index, auf den sich Diess bezog, listet Länder wie Belgien, Italien, Frankreich und die Vereinigten Staaten als „beschädigte“ Demokratien auf. Bemerkenswerterweise hat keine einzige deutsche Zeitung diese Rechtfertigung für Geschäfte in China und anderen nicht-demokratischen Ländern in Frage gestellt.
Deutschland gehörte zu den EU-Ländern, die zunächst ihre Sympathie für Litauen zum Ausdruck brachten. Eine gemeinsame Antwort auf Chinas Schikanen gab es jedoch nicht. Das könnte sich ändern, denn Brüssel erwägt einen Katalog von Sanktionen gegen Länder, die versuchen, politische Prozesse zu beeinflussen. Das sogenannte Anti-Coercion-Instrument würde es der Europäischen Kommission ermöglichen, Zölle und Quoten zu verhängen und den Zugang zu den Finanzmärkten der EU, zum öffentlichen Beschaffungswesen und zu EU-finanzierten Forschungsprojekten zu beschränken.
Die deutschen Unternehmen sind auf das Litauen-Problem aufmerksam geworden. Der unmittelbare Grund ist, dass China nicht nur direkte Ausfuhren aus Litauen boykottiert hat, sondern auch Waren, die in Litauen hergestellte Komponenten enthalten – was einigen deutschen Autozulieferern schadet. Diese Boykotte haben die Europäische Kommission veranlasst, bei der Welthandelsorganisation eine Klage gegen China einzureichen.
Es gibt jedoch Gründe, skeptisch zu sein, was die Aussichten der EU betrifft, China in diesem Konflikt zu bezwingen. Erstens gibt es nur wenige Beweise dafür, dass die chinesische Regierung die Einfuhren offiziell beschränkt hat. Peking behauptet, dass Unternehmen des Privatsektors ihre Zulieferer gewechselt hätten, und es wird für die EU schwierig sein, ausreichende Beweise dafür vorzulegen, dass die Einfuhrbeschränkungen auf Anordnungen der Regierung und nicht auf betriebswirtschaftliche Entscheidungen zurückzuführen sind.
Die Unterstützung der EU für die litauische Politik, ein Regierungsbüro für Taiwan und nicht ein Büro für die Beziehungen zu Taipeh zu unterhalten, scheint zu schwinden. Selbst der litauische Präsident Gitanas Nausėda erklärte vor kurzem, es sei ein Fehler gewesen, die Eröffnung des taiwanesischen Büros unter diesem die Regierung der Volksrepublik herausfordernden Namen zuzulassen.
Schließlich will sich Peking ohnehin von westlichen Lieferanten abkoppeln. Die meisten Beobachter meinen, dass China für seine wirtschaftliche Entwicklung Importe aus den OECD-Ländern braucht. Präsident Xi hat jedoch bei zahlreichen Gelegenheiten erklärt, dass weniger Importe anzustreben sind. Peking dürfte daher daran interessiert sein, dass die Importe aus OECD-Ländern für chinesische Unternehmen mit Risiken verbunden sein werden und sie ihre Lieferketten umstrukturieren.
Die EU entwickelt ihre Außenwirtschaftsbeziehungen weiter, angetrieben durch den Krieg in der Ukraine. Die EU-Mitgliedsländer beobachten eine Schwächung der Normen in den internationalen Beziehungen, und das Festhalten an der Seite der baltischen Länder ist ein wichtiger Bestandteil der Brüsseler Reaktion. Die Erfahrung Litauens zeigt, wie anfällig kleinere Volkswirtschaften für wirtschaftlichen Sanktionen sind, und die EU muss versuchen, die Auswirkungen dieser Sanktionen zu minimieren.
Gleichzeitig muss sich Brüssel mit China und Russland auseinandersetzen. Während einige Beobachter meinen, dies sei eine gute Gelegenheit, die wirtschaftlichen Verflechtungen mit den beiden autokratischen Staaten zu verringern, befürchten andere, dass eine wertebasierte Außenpolitik Einkommen und Arbeitsplätze kosten wird. In dem sich verschärfenden geopolitischen Konflikt sollte die Europäische Union dennoch keine Allianz mit China schmieden, sondern die Vereinigten Staaten und andere demokratischen Staaten wie Australien, Indien und Japan unterstützen.
Dieser Artikel ist am 9. Mai unter dem Titel „European solidarity meets self-interest amid China’s beef with Lithuania“ im East Asia Forum erschienen.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Heribert Dieter
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm