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Anja Blanke ist seit November 2020 akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Moderne China-Studien. Sie studierte Regionalstudien Asien/Afrika an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Sinologie an der Freien Universität Berlin. Von 2016 bis 2020 war sie Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ sowie am Institut für Chinastudien an der Freien Universität Berlin. Während ihrer Promotion führten sie Forschungsaufenthalte nach Peking, Washington, D.C., und Stanford. Im Jahr 2018 war sie als Gastwissenschaftlerin am Institute of Asian Research an der University of British Columbia in Vancouver. In ihrer im April 2021 bei DeGruyter erschienenen Monographie beschäftigt sie sich mit konkurrierenden Narrativen zur Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas.
China selbst präsentiert sich als starker Player auf der Weltbühne. Westliche Kritiker stellen China gerne als aggressiven Akteur dar. Beides stimmt, aber das sind nur zwei Facetten – vielleicht sogar konstruierte Masken – von China. In Wirklichkeit hat China viele Gesichter, positive wie negative, junge wie alte, schöne und hässliche. Es gibt das Gesicht des Reichtums und der Armut, das Gesicht der erfolgreichen Privatunternehmen und der ineffizienten Staatsunternehmen, das Gesicht der gut ausgebildeten Kader und der armen Wanderarbeiter, das Gesicht der Innovation und das der Korruption, das Gesicht des Feminismus, das Gesicht der liberalen Jugend und viele andere. Sie alle gehören zu China und machen es für uns so kompliziert, mit China umzugehen. Julia Haes, Anja Blanke und Klaus Mühlhahn möchten mit den Zuhörern einmal pro Monat einen Blick hinter die Masken werfen und Chinas Gesichter ungeschminkt kennenlernen. Sie werden in den kommenden Folgen unter anderem über gefallene (korrupte) Politiker, Sportstars, Unternehmer, Frauenrechtlerinnen und (Umwelt-)Aktivisten, Karrieristen und Idealisten sprechen. Denn nur wenn wir China in all seinen Facetten kennenlernen und nicht mehr nur in Schubladen denken, können wir gute Entscheidungen treffen und den richtigen Umgang mit China finden. Auch zur Taiwan-Frage erschien bereits eine Folge des Podcasts „China ungeschminkt“.
Xi Jinping weist schon seit einigen Jahren mit Nachdruck darauf hin, dass die Frage der nationalen Wiedervereinigung nicht von Generation zu Generation weitergegeben werden dürfe. Das neue Weißbuch zur Taiwan-Frage unterstreicht nun erneut Pekings Bestreben einer „friedlichen“ – wie es in dem Dokument 54-mal erwähnt wird – Wiedervereinigung mit Taiwan als Sonderverwaltungszone. Doch dieses „Angebot“ erscheint aus mehreren Gründen zynisch. Die in den Jahren 1993 und 2000 veröffentlichten Weißbücher enthielten noch das Versprechen, keine Truppen nach Taiwan zu entsenden. Dieser Passus fehlt nun vollständig. Außerdem weist das Dokument nachdrücklich darauf hin, dass man separatistische Bestrebungen Taiwans notfalls auch mit militärischer Gewalt begegnen würde.
Hinzu kommt, dass es eine friedliche Wiedervereinigung schon deswegen nicht geben kann, weil das nicht dem Wunsch der Mehrheit der Taiwanesinnen und Taiwanesen entspricht. Dies unterstreicht auch die im Juli veröffentlichte Umfrage der National Chengchi University in Taipeh eindrücklich. Demnach befürworten nur 1,3 Prozent der Befragten einen Zusammenschluss mit dem Festland. Die überwältigende Mehrheit der Befragten spricht sich für die Beibehaltung des Status quo aus. Daran dürfte auch das Angebot Pekings, dass Taiwan als Sonderverwaltungszone mit Sonderrechten ausgestattet werden solle, nichts ändern. Denn wie ernst Peking es mit der Formel „Ein Land, zwei Systeme“ meint, konnten die Taiwanesinnen und Taiwanesen anhand der jüngeren Vorkommnisse in Hongkong und dem zunehmenden Niedergang der demokratischen Strukturen sehr genau beobachten.
Die größte Gefahr für Taiwan stellt derzeit die Tatsache dar, dass es in den vergangenen Jahren zunehmend zu einem Spielball des sich zuspitzenden Konfliktes zwischen China und den USA geworden ist. Und so ist es auch kein Zufall, dass das Weißbuch nur wenige Tage nach dem Taiwan-Besuch Nancy Pelosis veröffentlicht wurde. Es ist somit nicht nur als Fingerzeig Richtung Taiwan, sondern auch als Botschaft an die USA zu deuten. Auch wenn der Staatsbesuch Pelosis von der Mehrheit der Taiwanesinnen und Taiwanesen sehr positiv aufgenommen worden ist und es aus westlicher Sicht wenig nachvollziehbar erscheint, warum eine Vertreterin eines demokratischen Landes nicht ein anderes demokratisches Land besuchen können soll, ist es dennoch mehr als fraglich, ob solche Staatsbesuche tatsächlich einen Beitrag zur Sicherheit Taiwans leisten können.
Gegenwärtig deutet sich an, dass dem Besuch Pelosis in den kommenden Monaten noch eine Reihe weiterer Staatsbesuche westlicher Demokratien folgen werden. So haben auch einige Abgeordnete des Menschenrechtsausschusses des Bundestages bereits angekündigt, im Oktober nach Taiwan fliegen zu wollen. Sollten auf Taiwan die Befürworter einer formellen Unabhängigkeit Taiwans, die laut der Chengchi-Studie mit 5,1 Prozent noch in der deutlichen Minderheit sind, durch diese Staatsbesuche deutlichen Zulauf bekommen, wären die Folgen unkalkulierbar.
Klar ist jedoch auch: Der Westen zwingt China ebenso wenig zu einer Invasion Taiwans wie die NATO Russland zum Krieg in der Ukraine. Sollte es zu einer militärischen Aggression kommen, gäbe es nur einen Aggressor – und das wäre Peking. All dies ändert allerdings nichts an der politischen Realität, dass der chinesische Staatspräsident eine Unabhängigkeitserklärung Taiwans nicht hinnehmen würde und sich in einem solchen Falle die Wahrscheinlichkeit für eine militärische Invasion dramatisch erhöhen würde. Für die Kommunistische Partei wäre es undenkbar, von ihrem Ein-China-Prinzip abzuweichen. Die Angst vor einem Verlust der Herrschaftslegitimation dürfte für Xi Jinping zu groß sein, stellt doch die „nationale Wiederbelebung“ Chinas – bei der die Taiwan-Frage eine wichtige Rolle spielt als Teil des chinesischen Traums – den Grundpfeiler der politischen Ideologie der Kommunistischen Partei dar.
Ein militärischer Konflikt um Taiwan, von dem nahezu die gesamte Welt betroffen wäre, würde nur Verlierer hervorbringen. Diesem Risiko dürfte sich auch Xi Jining bewusst sein, deswegen ist eine zeitnahe Invasion Taiwans – trotz der jüngsten Militärübungen der chinesischen Volksbefreiungsarmee – derzeit noch recht unwahrscheinlich. Der Krieg in der Ukraine hat jedoch auf dramatische Art und Weise gezeigt, dass man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein sollte – nicht zuletzt deswegen, weil wirksame Sanktionen gegen China noch komplizierter umzusetzen sein dürften als gegen Russland. Insofern sollte der Westen, allen voran die USA, alles daran setzen, zu einer Stabilisierung des Status quo beizutragen, denn mehr wird man realistischerweise nicht erreichen können – dazu sollte auch die Stärkung der Dialogfähigkeit zwischen beiden Seiten gehören.
Titelbild:
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Bild im Text:
| Timo Volz / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Anja Blanke
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm