Sie befinden sich im Archiv von ZU|Daily.

ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.

Eine Geste der Gerechtigkeit
NAVIGATION

Mindestlohn

Eine Geste der Gerechtigkeit

von Florian Gehm | Redaktion
31.10.2013
Wahrscheinlich wird der berühmte 10-Euro-Haarschnitt ein paar Euro teurer werden. Verglichen mit dem Missstand, dass es in Deutschland Menschen gibt, die trotz Vollzeitarbeit zu wenig zum Leben verdienen, scheint mir das ein sehr bescheidenes Opfer zu sein.

Professor Dr. Patrick Bernhagen
 
  •  
    Zur Person
    Professor Dr. Patrick Bernhagen

    Seit dem Herbstsemester 2012 ist Dr. Patrick Bernhagen Professor für Politikwissenschaft an der Zeppelin Universität. Bernhagen studierte Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Medienwissenschaft an der Phillips-Universität Marburg, dem Trinity College Dublin und der Duke University (USA). Er promovierte 2005 am Trinity College Dublin und wurde anschließend zunächst Lecturer und dann Senior Lecturer an der University of Aberdeen. Seine wichtigsten derzeitigen Arbeitsgebiete sind Fragen der politischen Beteiligung von Bürgern und Unternehmen an den politischen Prozessen verschiedener Staaten und internationaler Organisationen. 

  •  
    Factbox
    Christian Bauer: Warum der Mindestlohn ein waghalsiges Experiment ist

    Berlin gleicht dieser Tage einem großen Marktplatz. Da wird PKW-Maut gegen Mindestlohn getauscht, um Mütterrente und Betreuungsgeld geschachert. Gerade staatlich festgesetzte Löhne sorgen für heiße Diskussionen. „Ein waghalsiges Experiment“, warnt ZU-Volkswirt Christian Bauer.

    Der aktuelle Stand: Branchenspezifische Mindestlöhne in Deutschland

    Anders als in vielen europäischen Ländern, gibt es in Deutschland noch keinen Gesetzlichen Mindestlohn. Denn das deutsche Grundgesetz garantiert in Art. 9 Abs. 3 die Tarifautonomie und bewilligt allen Beteiligten, ihre Löhne ohne staatliche Eingriffe auszuhandeln. Trotzdem können die Tarifparteien unter sich bestimmte Lohnuntergrenzen aushandeln. Diese gelten sogar für nicht tarifgebundene Arbeitgeber, wenn sie für allgemein verbindliche erklärt werden.
    Diese sogenannten branchenspezifischen Mindestlöhne zahlen aktuell Arbeitgeber in 14 Branchen: Baugewerbe, Bergbau, Aus- und Weiterbildung, Dachdecker, Elektrohandwerk, Gebäudereinigung, Maler und Lackierer, Pflege, Sicherheitsdienstleistungen, Wäschereidienstleistungen, Abfallwirtschaft, Steinmetze, Frisörhandwerk und Zeitarbeit. So erhalten fast 4 Millionen Beschäftigte einen tariflich gesicherten Lohn und verdienen damit mindesten 7,50 Euro pro Stunde.

  •  
    Mehr ZU|Daily
    Finger weg von der Tarifautonomie!
    In Berlin wird PKW-Maut gegen Betreuungsgeld getauscht, um Mütterrente und Mindestlöhne geschachert. Gerade Letztere sorgen für heiße Diskussionen. „Ein waghalsiges Experiment“, warnt Christian Bauer.
    Es braucht mehr als Umverteilung
    Der Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichts der deutschen Bundesregierung hat eine Gerechtigkeitsdebatte losgetreten, die in vielen Fällen am Problem vorbeigehen, sagt Professor Dr. Marcel Tyrell.
    Ein Ergebnis - viele Fragen
    Am Wahlabend schien der Sieger fest zu stehen. Doch zur absoluten Mehrheit hat es für die Union nicht gereicht, und es drohen zähe Koalitionsverhandlungen. Politikwissenschaftler Joachim Behnke analysiert das Wahlergebnis.
  •  
     
    Hä...?
    Haben Sie Fragen zum Beitrag? Haben Sie Anregungen, die Berücksichtigung finden sollten?
    Hier haben Sie die Möglichkeit, sich an die Redaktion und die Forschenden im Beitrag zu wenden.
  •  
    Teilen
Christian Bauer: Warum der Mindestlohn ein waghalsiges Experiment ist


Eine Vielzahl europäischer Länder verfügt bereits über Regelungen zum Mindestlohn. Es gibt also genügend volkswirtschaftliche Praxiserfahrung auf diesem Gebiet. Warum sollte ein Mindestlohn also ausgerechnet für Deutschland eine Gefahr für die Volkswirtschaft sein?


Professor Dr. Patrick Bernhagen: Es gibt eine Vielzahl von Studien zu den volkswirtschaftlichen Folgen der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns – mit sehr widersprüchlichen Ergebnissen. Daran zeigt sich einerseits, wie schwierig es ist, auf der Basis statistischer Analysen und Simulationen Vorhersagen über zukünftige Wirkungen zu machen. Anderererseits wird hieran auch die ideologische Dimension der politikberatenden Forschung deutlich: Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die Ökonomen des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts keine bis sogar positive Beschäftigungseffekte erwarten, während beispielsweise die Wissenschaftler des Ifo-Instituts vor Arbeitsplatzverlusten warnen.


Natürlich wären Lohnerhöhungen im Niedriglohnbereich nicht gänzlich ohne unerwünschte Folgen. Diese aber dürften vielfach auf die Verbraucher umgelegt werden. Um das vielbeschworene Friseurgewerbe zu bemühen: Wahrscheinlich wird der berühmte 10-Euro-Haarschnitt ein paar Euro teurer werden. Verglichen mit dem Missstand, dass es in Deutschland Menschen gibt, die trotz Vollzeitarbeit zu wenig zum Leben verdienen, scheint mir das ein sehr bescheidenes Opfer zu sein. Vor allem aber dürfte eine derartige Verteuerung die wenigsten Menschen davon abhalten, regelmäßig zum Friseur zu gehen – auch nicht die Geringstverdiener, deren Einkommen durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ja steigen würde.

Stimmen für den Mindestlohn fordert ein StreetArt-Kunstwerk in Berlin gut sichtbar in der Nähe zum deutschen Bundestag. Gebracht hat es bis jetzt nichts - noch nicht.
Stimmen für den Mindestlohn fordert ein StreetArt-Kunstwerk in Berlin gut sichtbar in der Nähe zum deutschen Bundestag. Gebracht hat es bis jetzt nichts - noch nicht.
Der aktuelle Stand: Branchenspezifische Mindestlöhne in Deutschland


Das Verhältnis von Produktion und Arbeitseinsatz beträgt gegenwärtig in der BRD gut 41 Euro im Durchschnitt aller, also auch der mittleren und kleinen, Betriebe. Widerspricht dies nicht der Argumentation, dass sich nur Großbetriebe einen Mindestlohn leisten können?


Bernhagen: Nicht zwingend, da man, um diese Aussage zu treffen, die zugrundeliegende Verteilung betrachten muss. Die ist alles andere als flach, wenn wir uns beispielsweise die 10-Euro-Haarschnitte im Niedriglohnsektor des Friseurgewerbes ansehen, so dass ein Mindestlohn in einigen Betrieben und Branchen anders zu Buche schlagen würde als in anderen.


Muss nicht gerade Deutschland als wirtschaftsstärkstes Land Europas den Mut haben, in der Frage einer angemessenen Bezahlung als zentrale Bedeutung für die soziale Gerechtigkeit, ein Zeichen in Europa zu setzen?


Bernhagen: Das könnte es zumindest tun. Die Kosten einer derartigen Geste wären, wie oben erwähnt, wahrscheinlich äußerst gering. Möglicherweise könnten mit einer Anhebung im Niedriglohnbereich sogar die starke Exportabhängigkeit und das zunehmende wirtschaftliche Ungleichgewicht in der Eurozone etwas abgemildert werden.

Deutschland braucht einen Mindestlohn, fordert der Deutsche Gewerkschaftsbund in einer Plakatkampagne. Einen Schritt, den man laut Bernhagen durchaus wagen könnte.
Deutschland braucht einen Mindestlohn, fordert der Deutsche Gewerkschaftsbund in einer Plakatkampagne. Einen Schritt, den man laut Bernhagen durchaus wagen könnte.

Einen Eingriff in die Tarifautonomie kann es nur dort geben, wo es wirklich flächendeckende Tarife gibt. Lohnuntergrenzen in tariflosen Bereichen oder Zweigen, die keine bundeseinheitlich flächendeckenden Tarife haben, einzuführen, greift nicht in die Tarifautonomie ein.


Bernhagen: Ein Eingriff in die Tarifautonomie ist auch dann noch ein Eingriff, wenn die Autonomie in einigen Sektoren von den jeweiligen Akteuren nur unzulänglich ausgeübt wird. Verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber einem gesetzlichen Mindestlohn auf Bundesebene scheinen jedoch kaum jemanden ernsthaft umzutreiben. In Branchen wie dem Gastgewerbe und anderen Dienstleistungen fällt es den Gewerkschaften offensichtlich sehr schwer, die dünne Tarifbindung der Löhne auszuweiten. Dafür gibt es eine Vielzahl struktureller Gründe, die alle in der Zukunft eher zu- als abnehmen dürften. Daher kann es durchaus Sinn machen, entsprechenden Missständen mit gesetzlichen Maßnahmen entgegen zu wirken.


Zu den volkswirtschaftlichen Auswirkungen von Mindestlöhnen gibt es viele konträre Studien. Ist es nicht sinnvoller, sich auf praktische Erfahrungen in anderen Staaten zu verlassen?


Bernhagen: Streng genommen rechtfertigt die Tatsache, dass gesetzliche Mindestlöhne anderswo keinen Schaden anrichten, nicht die Erwartung, dass sie das in Deutschland nicht doch täten. Noch weniger rechtfertigt sie allerdings die Erwartung, dass hier Schäden eintreten würden.


Titelbild: Dennis Skley (CC BY-ND 2.0)

Bilder im TextRobert Agthe (CC BY 2.0) | Deutscher Gewerkschaftsbund

18
 
nach oben
Zeit, um zu entscheiden

Diese Webseite verwendet externe Medien, wie z.B. Videos und externe Analysewerkzeuge, welche alle dazu genutzt werden können, Daten über Ihr Verhalten zu sammeln. Dabei werden auch Cookies gesetzt. Die Einwilligung zur Nutzung der Cookies & Erweiterungen können Sie jederzeit anpassen bzw. widerrufen.

Eine Erklärung zur Funktionsweise unserer Datenschutzeinstellungen und eine Übersicht zu den verwendeten Analyse-/Marketingwerkzeugen und externen Medien finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.