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1968 in Mainz geboren, studierte Muno Politik, Ethnologie und öffentliches Recht in Mainz und Venezuela. Danach hat die Region ihn nicht mehr los gelassen – es folgten Forschungsaufenthalte in Venezuela, Argentinien, Uruguay und auch Thailand.
Er forscht vor allem zu Entwicklung und Unterentwicklung, warum einige Länder dieser Welt reich sind, andere arm, einige Länder gut funktionierende Demokratien haben, andere große politische Probleme, was Entwicklung fördert oder behindert.
Nach seiner Promotion 2003 lehrte er in Koblenz, Würzburg und Erfurt.
Seit Herbst 2014 ist er Vertretungsprofessor für Internationale Beziehungen an der Zeppelin Universität.
Oft begegnet man im Alltag dem Wort Lateinamerika, ohne genau zu wissen, was man eigentlich damit meint und welche Eigenschaften es ausmachen. Können Sie uns kurz Ihre Definition von Lateinamerika geben?
Dr. Wolfang Muno: Lateinamerika ist ungefähr die Region südlich des Río Grande bis nach Feuerland. Warum ist das mein Wort? Als ich mit dem Studium in Mainz anfing, gab es einen argentinischen Professor, der Veranstaltungen zu Lateinamerika anbot. Davor hatte ich mit der Region wenig zu tun gehabt, aber das hat mich gepackt. Wissenschaftlich gesehen ist Lateinamerika nicht nur Analyseobjekt, sondern auch Geburtsort bedeutender Beiträge zur Entwicklungsforschung. Da die Länder dort bereits seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts unabhängig sind, gibt es eine lange Tradition des Nachdenkens und der Diskussion über Entwicklung und Unterentwicklung, insbesondere zu Dependenztheorien und Post-Development kamen originäre Beiträge aus der Region.
Bernhard Thibault formulierte vor einigen Jahren treffend: „Man kann sogar sagen, daß Lateinamerika in hohem Maß die empirische Grundlage konkurrierender Globaltheorien über diesen Zusammenhang abgegeben hat. Die lateinamerikanische Entwicklung der letzten Jahrzehnte spiegelt auf politischer wie auf wissenschaftlich-theoretischer Ebene die Auseinandersetzung über Wege und Ziele wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Modernisierung wider, wie dies in kaum einer anderen Region der Erde der Fall ist“.
Zudem zeigt sich in Lateinamerika eine spezifische entwicklungsrelevante Konstellation, Armut und Ungleichheit gehen Hand in Hand mit Demokratie. Seit den 1980er Jahren, inmitten steigender Armut und Ungleichheit, demokratisierten sich fast alle lateinamerikanischen Länder, mit Ausnahme Kubas gibt es heute in der Region zumindest elektorale Demokratien. Diese spezifische sozio-politische Situation hat die UNDP in einem Report über Demokratie in Lateinamerika als „lateinamerikanisches Dreieck“ bezeichnet. Da trotz der Demokratisierung zunächst weder Armut noch Ungleichheit abnahmen, drückte die UNDP ihre Besorgnis über diesen “extremely paradoxical state of affairs” aus. Mangelnde soziale Entwicklung wurde Teil einer Debatte über Defizite lateinamerikanischer Demokratien. In den letzten Jahren, genauer gesagt seit dem Wahlsieg von Hugo Chávez in Venezuela 1999, haben linke Kandidaten und Parteien die Regierungen der meisten Länder Lateinamerikas errungen, in Venezuela, Chile, Brasilien, Argentinien, Uruguay und Bolivien die gewonnenen Ämter in weiteren Wahlen verteidigt. Durch diesen „Linksruck“ kam die soziale Frage ganz oben auf die politische Agenda, die linken Regierungen wollten insbesondere die soziale Entwicklung Lateinamerikas fördern und Armut und Ungleichheit abbauen.
Das sind alles genau die Themen, mit ich mich seit meinem Studium beschäftige.
Auch rein forschungspragmatisch sind die lateinamerikanischen Länder als gute "Objekte" der Wissenschaft anzusehen, aufgrund ähnlicher Historie, Kultur und gewissen ähnlichen politischen Strukturmerkmalen sind sie gut vergleichbare Fälle, weisen aber gleichzeitig ausreichend Divergenz auf, um sinnvolle Analysen zu ermöglichen. Schließlich kann man mit einer Fremdsprache und etwas Flexibilität einen ganzen Subkontinent abdecken.
Lateinamerika ist übrigens ein Begriffskonstrukt. Napoleon III., der Neffe von Napoleon und Kaiser von Frankreich bis 1870, erfand "Lateinamerika", um seine kolonialen Ansprüche in der Region mit der kulturellen Nähe der "lateinischen" Kulturen Frankreich, Spanien und Lateinamerika zu legitimieren. War nicht ganz so erfolgreich, Napoleon schickte Truppen nach Mexiko und setze den Österreicher Maximilian als Kaiser von Mexiko ein. Nach ein paar Jahren Bürgerkrieg wurden die Franzosen besiegt, Maximilian standrechtlich erschossen, aber der Begriff etablierte sich.
Was verbindet Sie selbst mit Lateinamerika? Was fasziniert Sie daran?
Muno: Persönlich bin ich durch Freunde und etliche Aufenthalte in Lateinamerika mit der Region verbunden. Ich war seit meinem Studium 10 mal vor Ort, darunter viermal in Argentinien, als Gastdozent oder zu Forschungszwecken. Als Student habe ich an der Universidad Central in Venezuela ein Auslandssemester verbracht. Geplant war eigentlich ein Jahr, aber öffentliche Universitäten sind in Lateinamerika oftmals mehr durch strukturelle Probleme als durch gute Lehre gekennzeichnet. Schon damals protestierten die Studenten einmal in der Woche gegen das Regime - damals für Hugo Chávez -, die Polizei antwortete mit Tränengas und Beschuss. Ich beschloss, ausgiebig das Land zu erkunden, statt in der Hauptstadt zu bleiben. Ich besuchte den Salto Angel, ein Wasserfall, der fast 1000 Meter Fallhöge hat, und bestieg den Roraima, einen Tafelberg, auf dem sich eine einzigartige Flora und Fauna aus der Vorzeit erhalten hat. Außerdem gab es schneebedeckte Anden, das Dschungelgebiet des Orinoco und fantastische Karibik-Strände...Das ging aber so ins Geld, dass nach einem Semester Schluss war. Hat sich aber auf jeden Fall gelohnt!
Weihnachten 1997 habe ich an den Fällen von Iguazu an der Grenze von Aregntinien und Brasilien verbracht! In diesem Sinne: Feliz Navidad!
Können Sie noch eine Prognose wagen: Wie sieht die Zukunft Lateinamerikas aus?
Muno: Prognosen sind schwierig, besonders, wenn sie sich auf die Zukunft beziehen, wie es so schön heißt. Es gibt einen sehr positiven und einen sehr negativen Trend. Der positive Trend ist die Demokratisierung, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat, Bis auf Kuba sind heute alle Staaten Lateinamerikas demokratisch (mal mehr, mal weniger). Die linken Regierungen, die in den letzten Jahren an die Regierungen gekommen sind, haben auch eine substanzielle Verbesserung der Lebensbedingungen vieler Menschen erreicht, es gibt heute weniger Armut und weniger Ungleichheit als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten. Das ist sehr erfreulich! Es ist nicht zu erwarten, dass sich dieser Trend wendet. Die jüngsten Wahlerfolge von Tabaré Vazquez in Uruguay, von Bachelet in Chile, von Morales in Bolivien, von Dilma Rousseff in Brasilien lassen auf eine Fortsetzung dies Trends hoffe.
Weniger erfreulich ist der Trend, der insbesondere Mexiko, Zentralamerika und auch Kolumbien und Venezuela erfasst: Drogenkriminalität und Gewalt wird nicht weniger. Das ist ein Problem, das auf absehbare Zeit die Region im Griff haben wird. Eine teilweise Legalisierung zumindest weicher Drogen würde für etwas Entlastung sorgen, aber die Macht der Kartelle nicht wesentlich einschränken. Hierfür wäre der Aufbau eines funktionierenden Rechtsstaates notwendig, einer funktionierenden Polizei, einer funktionierenden Justiz, mit wenig Korruption. Das ist derzeit die Achillesferse vieler schwacher Demokratien der Region. Das es aber grundsätzlich möglich ist, eine starke Demokratie mit sozialem Ausgleich zu etablieren, zeigen die Positivbeispiele Uruguay und Costa Rica, teilweise auch Chile und Brasilien. Wo Licht ist, gibt es auch immer Schatten.
Titelbild: Nicolas de Camaret / flickr.com (CC BY 2.0)
Bilder im Text: Gonzalo Viera Azpiroz / flickr.com (CC BY-NC 2.0)
"Death of Pablo Escobar" by Steve Murphy - U.S. Government. Licensed under Public domain via Wikimedia Commons.
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm & Alina Zimmermann