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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Kein amerikanischer Präsident im letzten halben Jahrhundert, ja vielleicht kein international sichtbarer Politiker überhaupt in unserer Zeit war so schnell zu einem Teil seiner eigenen Vergangenheit geworden wie Barack Obama – und daraus ist mittlerweile der Eindruck einer geschlossenen Vergangenheit entstanden, eine versiegelte Vor-Vergangenheit beinahe, während er noch zwei Jahre zu regieren hat. Nach der historisch deutlichen Niederlage der demokratischen Partei bei den Parlamentswahlen in der Mitte seiner zweiten und notwendig letzten Amtsperiode hat sich dieser Eindruck zu einem kaum mehr überbietbaren Grad gesteigert – offenbar, wie die Medien aus Washington berichten, in ebenso deutlicher wie eigenartiger Weise: zur Erleichterung des Präsidenten, der inzwischen, von wenigen signifikanten Fällen abgesehen, kaum noch entscheidende innenpolitische Auseinandersetzungen zu gewinnen – und deshalb auch kaum mehr weiter an Ansehen zu verlieren hat.
Denn während es zu den langfristig etablierten Rhythmen der amerikanischen Politik gehört, dass ein Präsident nach zwei und vor allem nach sechs Jahren auf einen Tiefpunkt des Prestiges auf der anderen, ihm als „Opposition“ entgegengesetzten Seite der Wählerschaft absinkt, ist es längst zu einer nur anfangs überraschenden, und jetzt selbstverständlichen Position auf der demokratischen Seite der politischen Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten geworden, sehr deutlich Enttäuschung über Obama zu artikulieren – und diese Lage wiederholt sich weltweit, unter je spezifischen lokalen Konstellationen. Als amerikanischer Wähler von höchstens durchschnittlicher politischer Kompetenz und Passion empfinde ich diese Situation als derart bedrückend, dass ich als Gegendruck die Lust spüre, eine – letzte — Lanze für Obama zu brechen.
Denn wenn noch selten ein Präsident vor ihm derart schnell Teil der eigenen Vergangenheit geworden ist, so scheinen jetzt gerade seine früheren Anhänger übermotiviert, ein historisch definitives — negatives — Urteil vorwegzunehmen. Es ist, als müsse man sich eilig vor einem virtuellen und sozusagen transzendenten Gremium entschuldigen oder rechtfertigen, das neben den politischen Protagonisten auch den Rang der jeweils etablierten politischen Öffentlichkeit zu bewerten hat; es ist, als wollten die ehemaligen Obama-Anhänger ihren ursprünglichen Enthusiasmus vor anderen – und besonders vor sich selbst — vergessen machen; es ist, schließlich, als versuchten sie, etwas streberhaft, von einer potentiellen Mit-Verantwortung für gerade diesen Präsidenten befreit zu werden. Dabei kann man doch – weitgehend Perspektiven-unabhängig, meine ich – gar nicht übersehen, dass sich die Vereinigten Staaten heute sowohl außenpolitisch als auch innenpolitisch in einer unvergleichlich besseren Position befinden als vor sechs Jahren, bei Obamas Amtsantritt.
Gegen alle weiter bestehenden politischen Anfechtungen ist vor allem die tatsächlich schon seit einem Jahrhundert anstehende Gesundheits- und Versicherungsreform durchgesetzt und etabliert, von der mittlerweile beinahe dreißig Millionen vorher nicht Versicherungs-geschützte Amerikaner profitieren; ein seit Jahrzehnten (und auch durch die Clinton-Zeit) anhaltender Verlust am Real-Einkommen der Durchschnitts-Familien scheint angesichts der (selten erwähnten) positiven Wirtschaftslage zum ersten Mal zu einem Stillstand gekommen zu sein; darüber hinaus bestehen gute Aussichten, dass es Obama noch gelingen wird, den Status von mehreren Millionen der illegalen Einwanderer, welche derzeit im Land leben und arbeiten, endlich zu legalisieren (darin liegt die eine, derzeit sichtbare Erfolgschance für die letzten beiden Jahre im Amt).
International hat sich das in der Bush-Zeit ruinierte Ansehen der Vereinigten Staaten zwar nicht ins positive Gegenteil verkehrt, aber doch deutlich normalisiert. Keine der außenpolitischen und militärischen Interventionen der beiden Obama-Regierungen stieß auf breite Ablehnung. Die meisten Entmilitarisierungs-Versprechen aus dem Wahlkampf von 2008 sind (in einigen Fällen mit erheblicher Verspätung) eingelöst worden, so dass wieder der Eindruck besteht, das Land treffe solche Entscheidungen prinzipiell im Bemühen um internationale Abstimmung. Die Vereinigten Staaten von heute bleiben zwar immer noch denkbar weit davon entfernt, im Westen oder gar global als Führungsmacht begrüßt zu werden – doch hat es eine solche Situation überhaupt je gegeben, entspricht sie tatsächlich irgendeinem amerikanischen Anspruch, und soll man sie denn als national oder international wünschenswert ansehen?
Bei all dem ist mir sehr wohl bewusst, dass eine solche – in ihrer Evidenz ja eigentlich banale – Beschreibung von Obamas Verdiensten das Potential hat, nicht nur Dissens, sondern gerade unter seinen ehemaligen Anhängern Protest und Empörung auszulösen. Diese allenthalben als Status quo akzeptierte Situation und ihre Bewertungs-Implikationen halte ich für gegen-intuitiv und deshalb für erklärungsbedürftig — umso mehr als niemand mehr eine Erklärung einzufordern scheint. Der Beginn des Wegs zu einer solchen Erklärung zeichnete sich für mich zum erstmals ab, als ich im Blog eines politisch versierten Kollegen deutscher Herkunft (und mit deutlich sozialdemokratischer Prägung) vor einigen Wochen las, unser Präsident sei „beratungsresistent, kontaktschwach und ungeschickt im Führungsmanagement“. Meine Reaktion war minimalistisch und entschlossen. Natürlich kann es nicht darum gehen, sich dem vorweggenommenen historische Urteil über Obama entgegenzustemmen, ja nicht einmal um die Absicht, „ihm gerecht zu werden“ (denn was wären die Maßstäbe einer solchen Gerechtigkeit?). Eigentlich genügte es mir schon, die letzte für Obama gebrochene Lanze wie eine Boje der Skepsis in der selbstgewissen Flutwelle des linksliberalen Verurteilungs-Konsensus zu verankern.
Die Insistenz meines Freundes auf „Beratungsresistenz“ und „Kontaktschwäche“ brachte mich zurück zu der Erinnerung, dass die Obama-Zeit schon vor der ersten Präsidentschaftswahl unter einem Syndrom grundsätzlich inadäquater Erwartungen stand, welche vom ersten Tag der Regierungszeit an zu einem Verhängnis des Ansehens und der Beistimmung wurden. Retrospektiv wirkt in dieser Hinsicht die Verleihung des Friedensnobelpreises 2009 an den damals eben gewählten Präsidenten wie eine erste Katastrophe und – tatsächlich auch — wie eine erste Schließung. Denn die Entscheidung des norwegischen Komitees konnte sich zu jenem Zeitpunkt ja nur auf von Obama geweckte Hoffnungen, nicht auf irgendwelche Leistungen beziehen, und heute wissen wir, wie grundsätzlich unangemessen viele dieser Hoffnungen waren.
Prinzipiell unangemessen war – erstens – die Verwechslung der ersten Wahl eines Afro-Amerikaners zum amerikanischen Präsidenten mit der Erwartung, dass dieser Präsident nun auch eine maximale Verkörperung aller demokratischen Führungskompetenzen sein müsse (woher kam zum Beispiel der Vermutung, dass Obama besonders „kontaktfreudig“ sein soll?). Zweitens war es seinem rhetorischen Talent gelungen, eine unrealistisch hohe Erwartung der Offenheit gegenüber vielfältig-exzentrischen Meinungen zu etablieren. Vor dem Hintergrund dieser Annahme konnte ein Präsident im Amt eigentlich nur „beratungsresistent“ wirken. Der mittlerweile seit einem Jahrhundert (spätestens seit dem Ersten Weltkrieg) als Dauer-Latenz existierende internationale Anti-Amerikanismus hatte drittens während der Bush-Jahre eine Intensität erreicht, die auf Reaktionen in der Form einer „symmetrischen Umkehrung“ hoffen ließ, auf ein Amerika, das in idealer Weise den jeweils lokal spezifischen Selbstbildern von Normalität entsprechen sollte. Schließlich hatte das „Yes, we can“ als zentrales Motiv aus dem Wahlkampf von 2008 – vielleicht zum letzten Mal – die Zweifel an einer Grundvoraussetzung allen modernen politischen Lebens verdrängt, an der Voraussetzung nämlich, dass es möglich sei, aus einer Position der Gegenwart und im Rückgriff auf in der Vergangenheit gewonnene Erfahrungen gestaltend die Zukunft zu bestimmen.
Mittlerweile wissen wir – nicht nur „wir Amerikaner“ — dass jenes Feuerwerk des charismatischen Wahlkämpfers Obama dann im Weißen Haus schnell verloschen ist, und dass ein afroamerikanischer Präsident nicht notwendig besonders populär sein muss (ohne dass er deshalb schon „kontaktarm“ zu nennen wäre); dass er – wie jeder seiner Vorgänger – einer begrenzten und allein von ihm ausgewählten Gruppe von Beratern traut (ohne wirklich „beratungsresistent“ zu sein), Beratern, die meistens dem Stereotyp der Ostküsten-Elite entsprechen. In Europa und unter amerikanischen Intellektuellen hat Obama enttäuscht, weil sein „typisch amerikanisches“ Vertrauen auf militärische Technologie und auf militärische Macht im Widerspruch zum de facto-Pazifismus der europäischen Mehrheiten steht, und weil andererseits seinen ökopolitischen Entscheidungen das in Europa (und vor allem in Deutschland) mittlerweile üblich gewordene Pathos fehlt. Viele der vor gut sechs Jahren auf Barack Obama projizierten Hoffnungen und Erwartungen haben sich als Missverständnisse und sogar als Vorurteile aus der Global-Version eines milden Antiamerikanismus erwiesen.
Diese Sicht kann allerdings noch nicht erklären, warum Obama auch in der amerikanischen Gesellschaft so deutlich an Unterstützung verloren hat, wie es sich ja schon im Wahlkampf von 2012 abzeichnete, den er ebenso distanziert (im Stil einer lästigen Verpflichtung) abwickelte, wie er ihn am Ende gewann. Damals spätestens wurde deutlich, dass aus dem mitreißenden Visionär des „Yes We Can“ ein effizienter, aber deshalb auch fast unsichtbarer Krisen-Manager geworden war, dessen geduldige Interventionen sich inzwischen akkumuliert haben zum Beitrag und zur Wirkung einer deutlich verbesserten nationalen und internationalen Situation. Und die nicht auf unser Land begrenzte Frage muss dann heißen, ob es irgendwo im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert Politiker gibt, denen es wirklich gelingt, Zukunft zu gestalten – oder ob Barack Obama nur der für unsere Gegenwart durchaus typische und unvermeidliche Fall eines Politikers ist. Der Normal-Fall eines Politikers der Gegenwart, dem allerdings die Rolle des Krisenmanagers besonders angekreidet wird, weil er der letzte Wahlkämpfer gewesen war, der den Glauben an die Möglichkeit von Zukunftsgestaltung noch einmal hatte aufleben lassen (allenfalls die Enttäuschungs-Geschichte des französischen Präsidenten Hollande lässt sich in dieser Hinsicht mit der Obama-Zeit vergleichen).
Die meisten Regionen der Welt leben heute in einer „Konstruktion des Alltags“ (wie man seit einigen Jahrzehnten gerne sagt), deren Zukunft nicht mehr wie ein offener Horizont der Möglichkeiten wirkt, sondern wie eine Dimension, aus der Gefahren sowohl im täglich Rhythmus als auch in langfristiger Unvermeidlichkeit auf uns zuzukommen scheinen. „Politik“ als proaktive Gestaltung der Zukunft, „Politik“, wie man sie in der westlichen Kultur seit der Aufklärung gedacht und praktiziert hat, ist unter der Voraussetzung dieses globalen Eindrucks eigentlich nicht mehr praktizierbar, ja sie rückt sogar langsam aus dem Horizont des für uns überhaupt Vorstellbaren heraus. Unter diesen Vorzeichen haben Politiker Konjunktur, die sich in der Abwendung vielfältiger Krisen bewähren, ohne je euphorische Hoffnungen geweckt zu haben – wie zum Beispiel die deutsche Kanzlerin, die mangels Erwartungen eigentlich nie enttäuschen konnte (nicht einmal mit den Präferenzen ihrer Modeberaterinnen) — und für die mittlerweile jede sympathische Geste (wie etwa ihre spät entdeckte Begeisterung für den Fußball und seine Spieler) Charisma-Effekte erzeugt. Auf Obamas Konto hingegen schlagen sich selbst ähnliche Gesten immer noch als Enttäuschungen einer maximalen Charisma-Erwartung nieder, als die beständig erneuerte Bestätigung eines frühen Gesichtsverlusts.
Deshalb, meine ich, hat er es verdient, dass frühere Wähler eine Lanze für ihn brechen – unhörbar, vorsichtig und ohne sich dabei die Hand zu verstauchen. Und die Diskussion, welche heute vorwegnehmend entschieden und geschlossen scheint, die Diskussion über den historischen Stellenwert der Obama-Jahre, hat noch nicht einmal begonnen.
Der Artikel ist im FAZ-Blog „Digital/Pausen“ von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Thomas Hawk / flickr.com (CC BY-NC 2.0)
Bilder im Text: Barack Obama / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0),
„Barack Obama family portrait 2011“ von Pete Souza,
official White House photographer -http://www.whitehouse.gov/sites/default/files/image/
12152011-family-portrait-high-res.jpg. Lizenziert unter
Public domain über Wikimedia Commons,
jorge hernandez / flickr.com (CC BY 2.0)
NSA HQ PHOTO / flickr.com (CC BY-NC 2.0)
Barack Obama / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0),
Marc Nozell / flickr. com (CC BY 2.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm und Alina Zimmermann