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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Was ist bei der EM eigentlich los? Nachrichten von Schlägereien und Terrorgefahr sind vorhanden, Begeisterung über die Spiele ist hingegen kaum wahrnehmbar. Woran liegt es, dass die Menschen von den EM-Spielen nicht begeistert zu sein scheinen?
Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht: Die Zahl der teilnehmenden Mannschaften, was zu ästhetisch eher minderwertigen „Abnutzungsschlachten“ führt, wie der Bundestrainer sagte, das Ausbleiben einer begeisternden Leistung der deutschen Mannschaft in den ersten Spielen vor dem Hintergrund allzu hoher Erwartungen und vielleicht auch die gerade gängige Überbewertung von „Strategien“ und „Spielsystemen“: All das erklärt, warum bisher noch kein Funke übergesprungen ist – und vielleicht auch gar nicht überspringen konnte. Aber zugleich und unabhängig davon gibt es wohl auch eine allgemeine Tendenz zur Über-Moralisierung in der deutschen Öffentlichkeit. Jedes aufscheinende Problem wird schier endlos nach angeblich „ethischen“ Gesichtspunkten diskutiert und kritisiert – besonders wenn dieses Problem andere Nationen betrifft.
Kann es sein, dass die Menschen andere Dinge im Kopf haben?
Gumbrecht: Andere Dinge (und Sorgen) gibt es immer – und es steht ja dieser Tage nicht gerade eine Wirtschaftskrise oder gar ein Weltkrieg bevor. Hätte Deutschland mit einem begeisternden Spiel begonnen wie bei der WM 2014, dann wäre alles ganz anders. Man müsste sich dann auch nicht den Vergleich mit Mannschaften verbieten, die bisher mehr geglänzt haben als Deutschland.
Hat das was mit dem Wetter zu tun? Fußball gucken im Biergarten ist ja bislang ausgefallen.
Gumbrecht: Sicher, das Wetter ist immer ein Faktor, der sich nicht manipulieren lässt. Sollte Deutschland aber das Endspiel erreichen, dann werden die Kneipen auch im Falle eines Wolkenbruchs brechend voll sein.
Bleibt die Stimmung so oder könnte sich das im Verlauf des Turnieres noch ändern?
Gumbrecht: Scheidet Deutschland vor dem Halbfinale aus, wird einerseits die moralische Fußball-Diskussion in die allgemeine politische Diskussion übergehen, und andererseits werden sich nur noch Fußballexperten für die verbleibenden Spiele interessieren. Den Fall hat es ja schon gegeben. Und die objektive Qualität der Spiele, vor allem ihre Dramatik wird sich gewiss steigern, sobald die K.o.-Phase des Turniers erreicht ist, weil unter dieser – veränderten – Voraussetzung keine Mannschaft mehr auf Unentschieden spielen kann.
Könnte es also etwas mit der Qualität der Spiele zu tun haben?
Gumbrecht: Ich denke, es gibt in der Geschichte des Fußballs (und auch den meisten anderen Sportarten) bestimmte Zyklen. Phasen des vor allem offensiven Spiels lösen sich mit eher defensiv orientierten Phasen ab. Das lässt sich sogar statistisch belegen. Nicht undenkbar, dass wir uns gerade am Beginn einer Defensiv-Epoche befinden. Das macht die Spiele torärmer – und also weniger attraktiv, zumindest für die Halb-Experten und die nur gelegentlichen Zuschauer.
Wer wird Europameister? Und warum?
Gumbrecht: Die Spezialisten waren sich vor Beginn einig: Es gab diesmal keine deutliche Favoritengruppen, noch viel weniger einen einsamen Favoriten. Und bisher hat weder einer der üblichen Favoriten enttäuscht noch eine der Geheimtipp-Mannschaften (wie Belgien) wirklich begeistert. Trotzdem wünsche ich mir Belgien als Europameister, weil diese Mannschaft einige großartige Einzelspieler hat – und auch weil dies zu einer Ermutigung für die weniger prominenten Fußball-Nationen würde. Italien ist – wie Deutschland – eine traditionelle Turniermannschaft und sieht diesmal „italienischer“ aus als je zuvor. Ich sehe keinen Konkurrenten, der gegen Italien siegessicher sein dürfte. Also setze ich – ohne große Passion – auf die Italiener. Deutschland als Sieger kann ich mir nur schwer vorstellen, nicht zuletzt, weil Manuel Neuer eigentlich der einzige verbleibende Spieler von Weltklasse geblieben ist. Das übersieht man leicht in einem Land, das so gerne alle Spieler des Aufgebots von 2014 „Weltmeister“ nennt.
Das Interview ist am 21.06.2016 in der Schwäbischen Zeitung erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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| Super Victor / Maskottchen der UEFA EURO 2016 / UEFA.com
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm