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Urteil mit Folgeschäden
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Europäische Zentralbank

Urteil mit Folgeschäden

Interview: Sebastian Paul | Redaktion
11.05.2020
Es steht zu befürchten, dass die inzwischen auf Regierungslinie gebrachten Verfassungsgerichte in Polen und Ungarn die argumentative Steilvorlage des Bundesverfassungsgerichts nutzen werden, um Urteile des Europäischen Gerichtshofs wegen Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze in diesen Staaten für nicht anwendbar zu erklären.

Prof. Dr. Georg Jochum
Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Steuer- und Europarecht und Recht der Regulierung
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Georg Jochum

    Georg Jochum, geboren 1968 in Köln, studierte als Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln und schloss sein Studium 1993 mit der ersten juristischen Staatsprüfung ab. Im Jahr 1996 promovierte er zum Thema „Materielle Anforderungen an das Entscheidungsverfahren in der Demokratie“, ein Jahr später folgte die zweite juristische Staatsprüfung, im Jahr 2003 habilitierte Jochum zum Thema „Die Steuervergünstigung“. Nach Tätigkeiten als Rechtsanwalt, wissenschaftlicher Assistent und Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen wurde er im Jahr 2007 zum außerplanmäßigen Professor an der Uni Konstanz ernannt. Im gleichen Jahr wurde Jochum Mitglied in der wissenschaftlichen Kommission der Anti-Diskriminierungsstelle des Bundes.  

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Das Bundesverfassungsgericht hat den Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank für teilweise verfassungswidrig erklärt. Das ist viel Wirtschaftslatein für einen Laien. Worum ging es im Kern des Streits überhaupt?

Prof. Dr. Georg Jochum: Es ging um Verfassungsbeschwerden, in denen der Europäischen Zentralbank (EZB) vorgeworfen wurde, sie betreibe eine nach Artikel 123 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verbotene Staatsfinanzierung, in dem sie Staatsanleihen der Mitgliedstaaten den Banken abkaufe. Diese Anleihekäufe wurden durch Beschlüsse der EZB legitimiert, die gemeinhin als „Anleihekaufprogramme“ bezeichnet werden. 


Warum gelten Anleihekäufe denn überhaupt als so problematisch? Wir wirken sie und welche Nebenwirkung haben sie?

Jochum: Es geht um das Problem der Defizitfinanzierung durch die Notenbank. Für den Euroraum gilt dabei die Besonderheit, dass anders als in anderen Währungsräumen kein großer zentraler Haushalt vorhanden ist, der finanziert werden müsste. Die Mitgliedstaaten haben sich zwar auf eine einheitliche Währung geeinigt, wollten allerdings im Rahmen ihrer Wirtschaftspolitik die Souveränität nicht abgeben. Um dennoch eine einheitliche Geldpolitik zu ermöglichen, wurden die Mitgliedstaaten verpflichtet, ihre Wirtschaftspolitik zu koordinieren und insbesondere Defizitgrenzen einzuhalten. Die Mitgliedstaaten sollten dabei weiterhin in ihrer Haushalts- und Wirtschaftspolitik dem Urteil des Kapitalmarktes ausgesetzt sein, das heißt für ihre Staatsanleihen entsprechend ihrer Haushalts- und Wirtschaftspolitik angemessene Zinsen bezahlen.


In der Finanzkrise gerieten allerdings einige Mitgliedstaaten infolge der hohen Ausgaben für die Bankenrettung in die Krise, weil die Anleger am Kapitalmarkt die Staatsanleihen dieser Staaten nur noch kaufen wollten, wenn sie entsprechend hohe Zinsen erhielten. Diese erhöhten Zinszahlungen führten zu einem erhöhten Risiko eines Staatsbankrotts vor allem auch in Italien, was wiederum zu erneut höheren Zinsen führte. Um dies zu vermeiden, kündigte die EZB an, Anleihen auf dem Markt aufzukaufen. Damit waren die Banken nicht mehr gezwungen, für die Anleihen, die sie von den Staaten erwerben, private Käufer zu finden, sondern konnten diese im Zweifel an die EZB weitergeben. Das Anleihekaufprogramm hat somit sichergestellt, dass Schuldscheine der Mitgliedstaaten immer eine ausreichende Nachfrage finden, was logischerweise dazu führt, dass die Papiere quasi risikolos sind und deswegen auch nur niedrige Zinsen gezahlt werden müssen, um diese Papiere an den Markt zu bringen.


Die mögliche Nebenwirkung eines solchen Kaufprogramms liegt nun darin, dass die Staaten geneigt sind, ihre Defizite auszuweiten und dass dadurch Inflationsgefahren entstehen. Allerdings hat sich gezeigt, dass die Inflation im Euroraum trotz dieser Anleihekaufprogramme nicht wesentlich gestiegen ist – sie haben allerdings an anderer Stelle durchaus inflationäre Folgen gehabt, nämlich insbesondere bei Geldanlagen wie Aktien oder Immobilien.

„Kompetenzwidrig“: So nennt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB). Damit hat es mehreren Klagen gegen das milliardenschwere Vorgehen der EZB teilweise stattgegeben. Die Verhältnismäßigkeit der Käufe sei nicht ausreichend begründet worden. Bundesregierung und Bundestag hätten durch ihr tatenloses Zusehen dabei sogar Grundrechte verletzt. Allerdings stellte der Senat des Gerichts keine verbotene Staatsfinanzierung fest. Auch seien die Käufe nicht grundsätzlich rechtswidrig. Das Bundesverfassungsgericht stelle damit aber erstmals in seiner Geschichte fest, dass Handlungen und Entscheidungen europäischer Organe nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt seien, erklärte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung. Sie könnten daher in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten. Zwischen März 2015 und Ende 2018 hatte die Notenbank rund 2,6 Billionen Euro in Staatsanleihen und andere Wertpapiere gesteckt – den größten Teil über das Public Sector Purchase Programm (PSPP), auf das sich das Urteil bezieht. Zum 1. November 2019 wurden die umstrittenen Käufe neu aufgelegt, zunächst in vergleichsweise geringem Umfang von 20 Milliarden Euro im Monat.
„Kompetenzwidrig“: So nennt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB). Damit hat es mehreren Klagen gegen das milliardenschwere Vorgehen der EZB teilweise stattgegeben. Die Verhältnismäßigkeit der Käufe sei nicht ausreichend begründet worden. Bundesregierung und Bundestag hätten durch ihr tatenloses Zusehen dabei sogar Grundrechte verletzt. Allerdings stellte der Senat des Gerichts keine verbotene Staatsfinanzierung fest. Auch seien die Käufe nicht grundsätzlich rechtswidrig. Das Bundesverfassungsgericht stelle damit aber erstmals in seiner Geschichte fest, dass Handlungen und Entscheidungen europäischer Organe nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt seien, erklärte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung. Sie könnten daher in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten. Zwischen März 2015 und Ende 2018 hatte die Notenbank rund 2,6 Billionen Euro in Staatsanleihen und andere Wertpapiere gesteckt – den größten Teil über das Public Sector Purchase Programm (PSPP), auf das sich das Urteil bezieht. Zum 1. November 2019 wurden die umstrittenen Käufe neu aufgelegt, zunächst in vergleichsweise geringem Umfang von 20 Milliarden Euro im Monat.

Was sagt das Urteil über die Bundesregierung, den Bundestag und die Bundesbank?

Jochum: Das Urteil sagt über die genannten Institutionen zunächst einmal selbst nichts. Das Verhalten dieser Institutionen ist auch nicht Gegenstand des Urteils. Aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts folgt allerdings aus dem Urteil eine Verpflichtung für diese Institutionen, nämlich gegebenenfalls geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um den Rat der EZB daran zu hindern, Anleihekaufprogramme zu erlassen, ohne ausreichend zu prüfen und darzulegen ob diese Programme auch verhältnismäßig sind, das heißt insbesondere hinreichend die wirtschaftspolitischen Auswirkungen beachten.


Und nun? Welche Szenarien sind jetzt denkbar?

Jochum: Für das Programm der EZB sind die Folgen dieses Urteils überschaubar. Die EZB wird nun in ihren Beschlüssen ein paar Absätze dazu schreiben, welche Auswirkungen sich auf die Wirtschaft ergeben und wird diese mit den währungspolitischen Zielen abwägen. Dies geschieht in den internen Papieren der EZB ohnehin, sodass eine Änderung der Politik der EZB gerade vor dem Hinblick der durch die Corona-Krise ausgelösten Finanzprobleme nicht zu erwarten ist. Zu befürchten ist allerdings, dass das Urteil an ganz anderer Stelle negative Folgen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat sich hier über eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs hinweggesetzt und dies mit einer Kompetenzüberschreitung des Gerichtshofs begründet. Es steht zu befürchten, dass die inzwischen auf Regierungslinie gebrachten Verfassungsgerichte in Polen und Ungarn diese argumentative Steilvorlage nutzen werden, um Urteile des Europäischen Gerichtshofs wegen Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze in diesen Staaten für nicht anwendbar zu erklären.


Kritiker der Eurorettung und der Nullzinspolitik wie der frühere CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler und der AfD-Mitgründer Bernd von Lucke hatten die Klage seinerzeit eingereicht: Was bedeutet das Urteil für sie?

Jochum: Viel gewonnen haben sie, angesichts dessen, was sie in ihren Verfassungsbeschwerden verlangt haben, nicht. Welche darüber hinaus gehende Bedeutung das Urteil für die Beteiligten Beschwerdeführer hat, kann ich nicht beantworten.

Das Bundesverfassungsgericht geht mit seinem Urteil auf Konfrontationskurs zum Europäischen Gerichtshof, der übrigens die EZB-Käufe im Dezember 2018 für rechtens erklärt hatte. Das hat es in der europäischen Integrationsgeschichte noch nicht gegeben. Wie überrascht sind Sie von dem Urteil?

Jochum: In der Tat liegt in diesem Umstand das eigentliche Problem dieses Urteils. Das Bundesverfassungsgericht stellt sich schon seit Jahren auf den juristisch problematischen Standpunkt, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch einmal im Hinblick darauf überprüfen zu dürfen, ob der Gerichtshof die Grenzen der Kompetenz eingehalten oder überschritten hat. Mit diesem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht erstmalig dem Europäischen Gerichtshof eine Überschreitung seiner Kompetenz bescheinigt, weil er ein willkürliches Urteil gefällt habe. Dieser Tenor hat mich in der Tat überrascht. Vor allem hat mich überrascht, dass das Bundesverfassungsgericht lediglich die Frage der Verhältnismäßigkeit, das heißt eine Frage der Begründung von Maßnahmen, zum Anlass genommen hat, hier eine Überschreitung zu sehen. Das ist ein sehr kleinliches Urteil. Eine rechtsstaatliche Begrenzung des Europäischen Gerichtshofs mag durchaus sinnvoll sein, wenn es darum geht, als Sicherung fundamentaler Rechte und Befugnisse der Mitgliedstaaten zu dienen. Hier wird allerdings eine Detailfrage, die dazu auch keine großen praktischen Konsequenzen hat, herangezogen, um dem Europäischen Gerichtshof eine Kompetenzüberschreitung zu bescheinigen. Damit wird für einen relativ kleinen Anlass das Risiko eingegangen, dass die Autorität des Europäischen Gerichtshofs gerade in den Ländern untergraben wird, in denen der Europäischer Gerichtshof die Gerichtsinstanz darstellt, die noch nicht den Zugriff der Regierung zum Opfer gefallen und die letzte wirklich unabhängige Justizinstanz ist.


Die EZB hat auf die Corona-Krise frühzeitig reagiert und erneut ein Programm im Umfang von 750 Milliarden Euro zum Aufkauf von Staats- und Unternehmensanleihen in Gang gesetzt. Für wie sinnvoll erachten Sie die EZB-Anleihepolitik?

Jochum: Ich bin kein Ökonom und daher kann ich nicht beurteilen, ob die EZB-Anleihepolitik sinnvoll ist oder nicht. Aus der Rückschau kann man allerdings festhalten, dass das Anleihekaufprogramm nicht zu einer Hyperinflation geführt hat. Ob das so bleibt, wird die Zukunft zeigen. Rechtlich sind derartig komplexe Entscheidungen sowieso kaum zu erfassen. Dies zeigt sich auch an dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das letztlich nur eine ausführlichere Begründung vermisst hat.

Titelbild: 

| Jannik Selz / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bild im Text: 

| Paul Fiedler / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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