ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Said D. Werner ist in Frankfurt am Main geboren und in Neuss aufgewachsen, wo er auch sein Abitur machte. Er ist Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit sowie der MLP SE und seit dem Frühjahrssemester 2016 Bachelorstudent an der ZU im Studiengang Soziologie, Politik und Ökonomie. Über das Studium hinaus engagierte sich Werner an der ZU als achter studentischer Vizepräsident. Außerdem war er als Berater im In- und Ausland, unter anderem für Stiftungen, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen tätig. Zuletzt forschte er an der Berkeley Division ob Computing, Data Science, and Society in Kalifornien zum digitalen Strukturwandel in Organisationen. Derzeit ist er Projektmitarbeiter im Hauptstadtbüro des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft.
Könnten Sie für den Leser kurz den Inhalt der Studie zusammenfassen und wie Sie dabei methodisch vorgegangen sind?
Said D. Werner: Die gemeinsam von Stifterverband und McKinsey vorgelegte Studie analysiert die Folgen der COVID-19-Pandemie für die Lehre an deutschen Hochschulen während des Sommersemesters. Dafür wurden von Juli bis August 2020 die Erfahrungsdaten von mehr als 1.800 Lehrenden und 11.000 Studierenden an mehr als 50 Hochschulen durch zwei vollstrukturierte Befragungen erhoben. Auf Basis unserer Befunde, den mehrjährigen Erkenntnissen des Future-Skills-Frameworks von Stifterverband und McKinsey sowie Arbeiten des Hochschulforums Digitalisierung haben wir außerdem Handlungsempfehlungen für die Lehre und Hochschulorganisation entwickelt.
Inwiefern waren deutsche Hochschulen auf eine Krise wie die Corona-Pandemie vorbereitet und welche Probleme hat die Corona-Krise offengelegt?
Werner: Vollumfänglich war keine Hochschule auf die gewissermaßen zwangsweise erfolgte Digitalisierung des Lehrapparates vorbereitet. Im Wintersemester 2019/20 standen nach Angaben der befragten Lehrenden gerade einmal 12 Prozent der Lehrangebote digital zur Verfügung. Im Sommersemester erhöhte sich dieser Anteil auf ganze 91 Prozent der Lehrdeputate. Insgesamt zeigten sich kleine Hochschulen in der akuten Krisenbewältigung geringfügig agiler. Hier decken sich unsere Beobachtungen mit Erkenntnissen der Organisationsforschung, die kleineren Organisationen aufgrund kürzerer Kommunikationswege und weniger ausgeprägten Informationsasymmetrien schnellere Reaktionsfähigkeiten attestiert.
Allerdings haben die Universitäten etwa gegenüber den Fachhochschulen auch aufgeholt. Gab es vor dem Sommersemester nur an etwa 16 Prozent der Universitäten und 25 Prozent der befragten Fachhochschulen Konzepte für die digitale Lehre, liegt das Verhältnis nun bei 60 zu 47 Prozent zugunsten der Universitäten. Konzepte allein sind aber nie Erfolgsgarant. Die Pandemie hat hier deutliche Defizite aufgedeckt, die die didaktische Qualität digitaler Lehre, aber auch die Fähigkeiten der Hochschulen betreffen, Bedürfnisse der Studierenden zu adressieren, die sich außerhalb der vom Lehrplan vorgesehenen Wissensvermittlung bewegen.
Von dem einen auf den anderen Tag musste die Lehre auf digitale Formate umgestellt werden: Wie haben sich die deutschen Hochschulen dabei geschlagen?
Werner: Überraschend gut. Trotz sehr unterschiedlicher Startvoraussetzungen haben laut 89 Prozent der befragten Lehrenden Hochschulen die Umstellung innerhalb von nur 30 Tagen realisiert. Bei 54 Prozent dauerte es sogar nur 14 Tage. Auch gaben 60 Prozent beider befragten Statusgruppen an, mit der Umstellung auf digitale Lehrformate zufrieden zu sein, wobei seitens der Studierenden vor allem Lehrformate in größeren Gruppen positiv bewertet wurden. Ein anderes Bild zeichnete sich bei der Umstellung von Formaten in Kleingruppen, etwa Tutorien, Übungen oder gar Laborarbeiten. Dies betraf erwartungsgemäß vor allem Fächer mit großen Praxisanteilen wie Humanmedizin, Naturwissenschaften, Kunst, Musik oder Sport. Nichtsdestotrotz darf man festhalten: Bei der plötzlichen Umstellung des Lehrbetriebs haben die deutschen Hochschulen, die gerne mal als schwerfällige Tanker bezeichnet werden, Wind in den Segeln gehabt.
Wie gut sind die Hochschulen inzwischen digital aufgestellt?
Werner: Um diese Frage adäquat beantworten zu können, muss man vom akuten Krisenmodus Abstand nehmen und differenzieren, welche Dimensionen eine Digitalisierung in Hochschulen umfassen sollte. In erster Linie beschäftigt sich Hochschulverwaltung mit der technischen Infrastruktur, also der Ausstattung mit Hardware und dem Einsatz spezifischer Software. Letztere übt nicht nur großen Einfluss auf die Hochschullehre aus, sondern ist auch für die Bereitstellung digitaler Verwaltungsprozesse von Relevanz. Unsere Befragung zeigt, dass sich 38 Prozent der Lehrenden und 43 Prozent der Studierenden hier Verbesserungen wünschen. Was die Lehre betrifft, hielten 35 Prozent der befragten Studierenden die Digitalkompetenzen der Lehrenden für ausbaufähig. Bedenkt man, dass Hochschulen heute vor allem als Dienstleister fungieren, ist das ein eher durchwachsenes Bild.
Genauso wie ein digitaler Strukturwandel die Wirtschaft herausfordert, müssen sich also auch Hochschulleitungen fragen, welche unternehmerischen Strategien im Feld der Organisations- und Personalentwicklung zielführend sein können, um dem spezifischen Bedarf von Fakultäten und Fächerkulturen, vor allem aber den Ansprüchen der Lernenden gerecht zu werden.
Wie zufrieden sind die befragten Studierenden mit der Qualität digitaler Lehrformate?
Werner: Hier zeigt sich die Kehrseite einer erzwungenen Umstellung in Rekordzeit. Trotz der kompetenten Umstellung auf digitale Lehrformate sank die Zufriedenheit mit der Lernerfahrung allein unter den Studierenden von 85 Prozent im Wintersemester auf 51 Prozent im Sommersemester. Hier gaben 43 Prozent der befragten Studierenden an, dass digitale Lernformate in Zukunft mehr Interaktivität benötigten. Dabei variierte die Qualität zwischen den Formaten erheblich. Vor allem Großveranstaltungen ließen sich laut 55 Prozent der befragten Studierenden ohne signifikanten Qualitätsverlust im digitalen Format durchführen. Bei Formaten kleinerer Gruppen stellte die Digitalisierung eine größere Herausforderung dar. Etwa 60 Prozent der Befragten gaben an, dass sich die Qualität von Seminaren, Tutorien und Übungen durch die Digitalisierung verschlechtert hat.
Eine zu erwägende Möglichkeit für die Hochschuldidaktik kann daher sein, Veranstaltungen mit hoher Teilnehmerzahl und geringem Potential zum diskursiven Austausch vermehrt in digitaler Form anzubieten. Auf diese Weise könnte man für die Lernenden Chancen auf individuellere und persönlichere Lehrumgebungen schaffen, während Lehrende zusätzliche Kapazitäten für Forschungstätigkeiten oder aber den direkten Austausch mit Studierenden nutzen könnten.
Das universitäre Leben besteht ja nicht nur aus Forschung und Lehre, sondern auch aus Begegnungen am Campusleben und sozialen Interaktionen. Was offenbart die Studie diesbezüglich?
Werner: Zugespitzt könnte man sagen, dass klassische Vorlesungen für die eigentliche Bildungserfahrung eines Studiums so entscheidend sind wie Vorträge auf Konferenzen. Nämlich gar nicht. Viel wichtiger sind persönliche Begegnungen während der Kaffeepausen. Tatsächlich haben Hochschulen solche informellen Kaffeepausen als Blaupausen akademischer und nichtakademischer Erfahrungsräume institutionalisiert, beispielsweise in Form interaktionsstarker Seminare, studentischer Initiativen oder Einführungswochen.
Unsere Studie zeigt hier gemischte Erfahrungswerte. Während der Austausch mit Lehrenden etwa in der digitalen Betreuung von Seminar- oder Abschlussarbeiten kaum qualitative Einbußen verzeichnete, bemängelten etwa drei Viertel der befragten Studierenden, dass sich die Qualität extracurricularer Aktivitäten verschlechtert hat. Insbesondere die Bedürfnisse von Studienanfängern und internationalen Studierenden, die bisher kaum Erfahrungen mit dem regulären Campusleben gesammelt haben, müssen hier seitens der Hochschulen vermehrt adressiert werden. 69 Prozent der befragten Studierenden beklagten mangelnde Sozialkontakte zu anderen Studierenden. Zudem kämpften sie mit Motivationsproblemen und Konzentrationsschwierigkeiten (59 Prozent) sowie einer erhöhten Arbeitslast (42 Prozent).
Was sollten deutsche Hochschulen tun, um ihren Studierenden Zukunftsängste und Belastungen zu nehmen?
Werner: Die Frage nach Zukunftsängsten und Belastungen bezieht sich sowohl auf den pandemiebedingt gewandelten Studienmodus als auch auf einen veränderten Qualifizierungsbedarf am Arbeitsmarkt. Hier gilt es zwischen kurz- und langfristigen Maßnahmen zu unterscheiden.
Wenn der Studienverlauf unklar ist, Praktika und Auslandsaufenthalte abgesagt oder abgebrochen werden und die Finanzierung des Studiums bedroht ist, müssen Hochschulen darauf unbürokratisch reagieren. Als effektive Mittel zur Soforthilfe haben sich beispielsweise flexible Anrechnungsmodalitäten, Nothilfefonds oder aber Sozialstipendien erwiesen, wie es sie auch an der Zeppelin Universität (ZU) gibt.
Vor dem Hintergrund ihrer Dienstleistungsfunktion müssen Hochschulen jedoch auch die langfristige Anschlussfähigkeit ihrer Ausbildungsprofile gewährleisten. Dazu müssen Curricula aktualisiert werden, um zukunftsfähige Kompetenzen etwa im Umgang mit Daten zu vermitteln. Idealerweise geschieht dies fächerübergreifend, zum Beispiel nach Vorbild der Berkeley Division of Computing, Data Science, and Society.
In unserer Studie gab jeder zweite Lehrende an, innerhalb künftiger Lehrveranstaltungen überfachliche digitale Kompetenzen vermitteln zu wollen. Welche Fähigkeiten hier sinnvoll sein können, zeigt etwa das Future-Skills-Framework von Stifterverband und McKinsey.
Blicken wir auf die Zukunft der Lehre: Wird und kann das Digitale die Präsenz ersetzen?
Werner: Nur wenn man an eine Revolution der Fernhochschulen glaubt.
Wie kann eine dauerhafte Ergänzung der Präsenzlehre durch digitale Formate gelingen?
Werner: Diese binäre Unterscheidung verliert gerade dann ihre Notwendigkeit, wenn Hochschulen mittel- wie langfristig innovative Lehr- und Lernkonzepte erarbeiten, die je nach Organisationskultur, Fächergruppe und Studiengang eine didaktisch sinnvolle Verbindung analoger und digitaler Formate zulassen. Die Zukunft der Lehre ist gerade deshalb nicht hybrid, sondern didaktisch integrativ. Dabei sollte jedoch nicht jede Hochschule neue Formate im Alleingang erproben, sondern Skaleneffekte nutzen und in Lehrallianzen mit anderen Hochschulen und auch Unternehmen anspruchsvolle Lösungen gemeinsam entwickeln.
Insgesamt gilt, dass Hochschulen Kompetenzen bündeln sollten, um Studierenden organisationsübergreifende Lernerfahrungen in individuellen Bildungsarchitekturen zum forschenden und interaktiven Studium zu ermöglichen. Blicken wir ans VR Lab der Universität Ulm, dann zeigt sich, dass diese Architekturen sogar virtuell sein können und es künftig vermehrt sein werden. Organisatorisch sollten Hochschulen dafür Anrechnungsmodalitäten von bei Dritten erbrachten Leistungen vereinfachen und die Entwicklung nachfrageorientierter Studienmodelle nach dem Vorbild moderner Plattformen akzelerieren. Der Unternehmensberater und ZU-Student Philipp Riederle hat dazu in der Deutschen Universitätszeitschrift übrigens interessante Vorschläge geliefert.
Welche Fähigkeiten braucht es dann von Seiten der Lehrenden wie Lernenden?
Werner: Aus unserer Studie ergibt sich, dass Lehrende und Studierende die Digitalkompetenzen der Lehrenden erstaunlich ähnlich einschätzten. Mehr als ein Drittel der Lehrenden benötigt zusätzliche Qualifikationen im Feld digitaler Didaktik. Diejenigen, die bereits an Weiterbildungen teilgenommen haben (42 Prozent), zeigten sich dabei äußerst zufrieden. Hochschulen sollten daher erwägen, Lehrende für Fort- und Weiterbildungen freizustellen.
Auf Seiten der Studierenden stellen unzureichende Fähigkeiten zur aktiven Teilnahme an digitalen Formaten nach unseren Erkenntnissen kein signifikantes Problem dar. Allerdings ist die Verteilung der technischen Ausstattung je nach sozialem Hintergrund sehr unterschiedlich. Dem Gesetzgeber empfehlen wir daher die Verankerung einer zusätzlichen Technikpauschale im Bundesausbildungsförderungsgesetz.
Wie können sich Hochschulen für die Zukunft aufstellen?
Werner: Erfolgreiche Hochschulen der Zukunft werden nachfrageorientierte Plattformen sein. Um den skizzierten Anforderungen neuer Lehr- und Lernformate zu entsprechen, die idealerweise in Fachbereichen aber auch organisationsübergreifenden Clustern entwickelt werden, müssen Hochschulen deshalb ihre Governance-Strukturen forcieren. Zum Beispiel ist es sinnvoll, strukturelle Digitalisierungsmaßnahmen zentral zu steuern, etwa über die Ernennung eines Chief Digital Officer nach dem Vorbild der Universität Bremen oder der Universität Witten/Herdecke, die unlängst einen administrativen Vizepräsidenten im Feld der strategischen Organisationsentwicklung eingesetzt hat. Um die Bedürfnisse der Lernenden als größte Statusgruppe jeder Hochschule jenseits der Mitbestimmungsrechte im akademischen Senat konsequent zu adressieren, wäre außerdem eine vermehrte Einführung studentischer Vizepräsidentschaften von Vorteil.
Darüber hinaus sollten Hochschulen abgeleitet von der Empfehlung des Wissenschaftsrates, die Anwendungsorientierung in der Forschung zu stärken, auch interaktive Formate der Hochschullehre in Zusammenarbeit mit Unternehmen entwickeln, um Transferfähigkeiten von Lernenden etwa in der Bearbeitung praktischer Fragestellungen zu stärken. Insgesamt gilt: Hochschulen müssen offener werden.
Titelbild:
| Siora Photography / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Florian Gehm / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)
| Mikael Kristenson / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm