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ZU-Master-Alumna Alexandra-Maria Pipos studierte Internationale Beziehungen in Dresden und absolvierte ein Auslandssemester in China, bevor sie im September 2013 ihr Masterstudium der Kultur- und Kommunikationswissenschaften an der Zeppelin Universität startete. Praktische Erfahrungen sammelte sie unter anderem am Goethe Institut Bukarest, an der Deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl und als freie Autorin und Redakteurin für verschiedene Zeitungen und Magazine. An der Zeppelin Universität brachte sich Pipos als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Marketing ein und unterstützte die ZU|Daily-Redaktion als Autorin.
Die Times kürt Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Person des Jahres 2015. Sie ist die „Chancellor of the Free World“ und wird insbesondere für ihre Flüchtlingspolitik gelobt: „,Wir schaffen das', she has said over and over. ,We can do this'“. In Deutschland sah die Situation vor einigen Monaten noch ganz anders aus. Während im Mittelmeer Boote mit Flüchtlingen an Bord kenterten, schien die Bundesregierung überfordert. „Tut was!“, forderten die Medien. Diese Forderung nahmen sich aber andere zu Herzen. Zwischen Statistiken ertrunkener Flüchtlinge und der Sprachlosigkeit der Regierung tauchten sie auf einmal auf: die toten Flüchtlinge. Das Künstlerkollektiv „Zentrum für Politische Schönheit“ (ZPS) holte im Rahmen der Aktion „Die Toten kommen“ zwei verstorbene Flüchtlinge nach Berlin und beerdigte sie dort. Die Aktion versammelte 5.000 Demonstranten, die in einem ,Marsch der Entschlossenen‘ durch Berlin zogen und vor dem Reichstag symbolische Gräber aushoben. Die Demonstranten riefen „Feuer und Flamme den Abschiebebehörden!“, auf den Plakaten stand: „Borders kill“. Die Botschaft der Demonstranten war eindeutig.
Die Aktion polarisierte. Während sich die Bild-Zeitung darüber echauffierte, dass der Rasen vor dem Reichstagsgebäude zertrampelt wurde, gab es auf der Facebookseite des Zentrums jede Menge Likes. „Die Frage, die ich mir gestellt habe, ist: Warum polarisiert diese Aktion so sehr? Und wodurch zeichnet sie sich aus?“, sagt Alexandra-Maria Pipos. Diesen Fragen ist die CCM-Studierende in ihrer Masterarbeit nachgegangen. Hintergrund der Untersuchung war der allgemeine Flüchtlingsdiskurs. „Schließlich hat die Aktion auf etwas reagiert. Doch die Frage war: Auf was?“ Sie entschied sich, eine bestimmte Anzahl an Artikeln überregionaler Tages- und Wochenzeitungen zu untersuchen, die sich mit der Flüchtlingsthematik beschäftigten. Schließlich prägen Medien ganz besonders das gesellschaftliche Meinungsbild zu vielen Themen. Sie wollte im Bezug auf die Flüchtlinge wissen, wie über sie berichtet wird und welche verschiedenen Aspekte und Konnotationen mit dieser Thematik einhergehen.
Die theoretische Brille für die Untersuchung der Artikel war die Kritische Diskursanalyse (KDA) nach Siegfried Jäger, die auf Ansätzen des französischen Philosophen Michel Foucault basieren. Dieser soziologisch-linguistische Ansatz geht davon aus, dass alles Wissen, das in den Diskursen herrscht, an Macht gekoppelt ist. Dies bedeutet beispielsweise etwa, dass die Darstellung des Flüchtlings als ‚Wirtschaftsflüchtling‘ keine vermeintlich neutrale Beschreibung ist. „Es gibt immer einen Akteur, der durch sein Wissen versucht, Macht auszuüben oder seine Macht nutzt, um bestimmtes Wissen in den Diskurs zu streuen“, sagt die 26-Jährige. Im Falle des ‚Wirtschaftsflüchtlings‘ könnte dies etwa bedeuten, dass dieses Wissen gebraucht wird, um sich für strengere Kontrollen oder Abschiebungen einzusetzen.
Ihre Analyse gliederte die Masterandin in drei Schritte: Zunächst untersuchte sie die ausgewählten Artikel, anschließend die Aktion „Die Toten kommen". In einem letzten Schritt schaute sie sich die Reaktionen derselben Medien auf die Aktion an. „Somit sollte auch untersucht werden, ob beispielsweise die Medien ihre eigene Haltung in Bezug auf die Darstellung der Flüchtlinge reflektieren.“
Bei der Analyse der Artikel, die zwischen April und Juni veröffentlicht worden waren, fiel auf, dass sich der vermeintliche ‚Flüchtlingsdiskurs‘ mit verschiedenen Themen auseinandersetzt: „Hauptthemen war das Kentern der Boote im Mittelmeer, die Charakterisierung der Flüchtlinge und die Rolle der Politik.“ So wurde das Sterben der Flüchtlinge von allen Artikeln als ‚Flüchtlingsdrama‘, ‚Tragödie‘ oder ‚Unglück‘ bezeichnet. „Das drückt zwar die Anteilnahme aus, verschleiert aber auch zugleich, wer die Verantwortung trägt“, sagt Pipos. So stammt der Ausdruck der Tragödie etwa aus dem aristotelischen Drama und drückt aus, dass der Protagonist dem Willen der Götter ausgeliefert ist. Und Götter kann man nicht zur Rechenschaft ziehen.
Doch bei ihrer Analyse gab es auch Aspekte, die konträr dargestellt wurden, wie etwa der Flüchtling an sich. Seine Darstellung oszilliert zwischen Opfer und Täter. „Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass sie als unaufhaltsame Masse oder gefährlicher Flüchtlingsstrom beschrieben werden. Sie werden anonymisiert und verlieren ihren Status als Subjekt.“ Dass so viele Flüchtlinge nach Europa kommen ist ungewöhnlich. Diese Form von Anormalität wird etwa daran deutlich, dass die absoluten und prozentualen Zahlen ständig steigen – sei es im Vergleich zum Vorjahr oder seit Beginn der Bundesrepublik. Diese Anormalität impliziert allerdings gleichzeitig, dass dagegen etwas unternommen werden muss, sei es indem man den ‚Strom eindämmt‘ oder die ‚Grenzen dicht macht‘. Gleichzeitig heißt es etwa, dass die Flüchtlinge unschuldige Opfer sind, um die sich keiner kümmert. Auch die EU-Politik und insbesondere die deutsche Regierung schneidet in den Artikeln nicht besonders gut ab. Politische Akteure wie NGOs oder die deutsche Opposition werfen den Verantwortlichen vor, die Flüchtlinge unwürdig zu behandeln und das Mittelmeer in ein Massengrab zu verwandeln. Die Politik ist überfordert, die Flüchtlingslager sind überfüllt und niemand weiß, was der nächste Schritt ist. Hier ist die Wortwahl des ‚Lagers‘ auffällig und ruft Assoziationen mit den Ghettos oder den Nationalsozialisten hervor. Die zitierten EU-Politiker hingegen stellen sich in einem anderen Licht dar. Sie verabschieden eine Migrationsagenda und treffen sich zu Sondergipfeln. Damit signalisieren sie, dass sie die Situation im Griff haben. „Es fällt auf, dass in den Artikeln kaum Flüchtlinge selbst zu Wort kommen. Es werden fast ausschließlich Politiker oder Experten zitiert“, sagt Pipos. Hieran wird deutlich, wie Macht und Wissen aneinander gekoppelt sind. Nur diejenigen, die bereits Macht (Politiker) oder Wissen (Experten) akkumuliert haben, schaffen es, dominierender Teil des Diskurses zu werden und stärken somit ihre Position.
Worüber kaum ein Wort fällt, ist die Situation der toten Flüchtlinge — wo sie beerdigt werden und wie mit den Leichen umgegangen wird. „Daran könnte deutlich werden, dass auch über die Abwesenheit von Wissen Macht ausgeübt werden kann, indem man etwa Themen verschweigt.“ Genau diese Unsichtbarkeit der Toten zeigt das ZPS nun mit seiner Aktion auf. „Sie holt die Flüchtlinge aus der geographischen und symbolischen Peripherie heraus und bringt sie ins geographische und symbolische Zentrum der Politik.“ Die Aktion betont die Individualität der Flüchtlinge, indem sie einzeln und ihren religiösen Bräuchen entsprechend beerdigt werden. Das ZPS hatte etwa recherchiert, dass tote Flüchtlinge in Italien in Massengräbern verschwinden, mit einer Nummer auf dem Grabstein und ohne dass die religiöse Zugehörigkeit respektiert wird. Während der Beerdigung durch das ZPS wird eine Grabrede von einem Imam gehalten, der auf das Leben der toten Frau eingeht. Er erklärt, dass sie Mutter und Ehefrau war, dass sie zusammen mit ihrer Familie vor dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad geflohen ist und während der Überfahrt ertrank. Auf den Videoaufnahmen ist etwa zu sehen, wie einzelne Personen Blumen ins Grab werfen. Allein die Tatsache, dass sie ein einzelnes Grab erhält und sich die Gemeinschaft von ihr verabschiedet, stellt einen Kontrast zum Umgang mit den Leichen in Italien und Griechenland dar.
Neben dieser neuen Sichtbarkeit des Todes und der Wertschätzung der Individualität hebt sich die Aktion auch durch ihre Radikalität ab. Ihre Diskursposition ist eindeutig: Die deutsche Regierung ist Schuld, insbesondere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im Hinblick auf die Flüchtlingsfrage versagt. Dies wird etwa daran deutlich, dass das ZPS eine ‚Traueranzeige‘ veröffentlicht hat, in der sie über 36 hochrangige Politiker zur ‚Trauerfeier für die Opfer der militärischen Abriegelung Europas‘ einlädt. Während der Beerdigung stellt das ZPS Stühle für die Politiker auf — doch keiner kommt. Das ZPS schreibt sogar der Bundeskanzlerin zwei ‚Totenreden‘, die sie während der Beerdigung hätte verlesen sollen. Die Aussagen: Die deutsche beziehungsweise europäische Politik ist Schuld am Sterben der Flüchtlinge — statt Europas Grenzen zu öffnen, sind sie die Todesursache. „Und in dieser Wahrnehmung liegt ein großer Unterschied zur Darstellung der Medienebene“, sagt Pipos: „Während die Medien die Situation der Flüchtlinge als Problem oder Krise wahrnehmen, ist die Politik für das ZPS das Problem“, sagt sie. Der Flüchtling sei für das ZPS vielmehr ein Geschenk.
Doch die Aktion lässt darüber hinaus neues Wissen in den Flüchtlingsdiskurs einfließen. Der ‚Marsch der Entschlossenen‘ führt neue Akteure ein, deren Stimmen bis zu dem Zeitpunkt in den Medien nicht wiedergegeben wurden: die Meinung der Zivilgesellschaft. Zwar sind die 5.000 Demonstranten nicht repräsentativ, aber darum geht es in Diskursen nicht. Es geht darum, dass plötzlich anderes Wissen in den Diskurs gestreut wird. Bürger und potentielle Wähler heben Gräber auf der Wiese vor dem Reichstag aus und stecken Kreuze in die kleinen Hügel. Die Botschaft ist ganz klar: ‚Die Politik ist Schuld‘ und ‚Wir sind damit nicht einverstanden‘.
„Die Frage, die ich mir gestellt habe, war, ob die Medien das, was ich herausgefunden habe, auch gesehen haben“, sagt Pipos. Bei ihrer Untersuchung der Reaktionen auf die Aktion kam sie zu anderen Ergebnissen. Kaum ein Artikel habe sich kritisch damit auseinandergesetzt, wie über Flüchtlinge berichtet wird. Es wurde kaum auf das Schicksal der beerdigten Frau eingegangen. Die Situation der Flüchtlinge wurde auch weiterhin mit Ausdrücken von Massen und Zahlen beschrieben. Stattdessen wurde darauf eingegangen, dass die Aktion inszeniert gewesen sei und sie die Grenzen der Pietät überschritten habe. „Es ging viel um das Verständnis von Kunst beziehungsweise um das Verhältnis von Politik und Kunst“, sagt Pipos. Die meisten Autoren kamen zu dem Urteil, dass die Aktion ihre Wirkung verfehlt habe. Laut Pipos könnte es darauf hinweisen, dass durch eine solche Ablehnung der Aktion auch die Aussagen der Aktion diskreditiert werden müssten. Auffällig war, dass vor allem die Politiker, die zitiert wurden, sich gegen die Aktion aussprachen. „Hätten sie die Aktion bejaht, hätten sie sich auch eingestehen müssen, dass sie als Politiker versagt haben.“ Das wiederum würde kein Politiker zugeben, schließlich würde dies seine Machtposition unterminieren.
Die Untersuchung der Aktion „Die Toten kommen“ ist allerdings nur einer von vielen Ansatzpunkten im Flüchtlingsdiskurs. So wäre es beispielsweise den Flüchtlingsdiskurs gewisser Leitmedien weiterzuverfolgen. Mittlerweile sei schließlich von Flüchtlingskrise die Rede und nicht mehr von Tragödie. Und spätestens die Silvesternacht in Köln hat gezeigt, wie ambivalent die Figur des Flüchtlings in den deutschen Medien dargestellt wird. Bereits die Wortwahl und das damit verbundene Wissen kann Konsequenzen für das Handeln und Denken haben und sich auf den verschiedensten Ebenen widerspiegeln. Sei es, indem Bürger sich für Flüchtlinge engagieren oder Gesetze zur Obergrenze erlassen werden.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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| Lara Wilde / Zentrum für Politische Schönheit (CC BY-SA 3.0 de)
| Erik Marquardt / sent to jcornelius via mail (CC-BY-SA 4.0)
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm