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Der Flüchtling - Ein Feigling?
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Flüchtlingsdrama

Ein Flüchtling - ein Feigling?

von Dr. Joachim Landkammer | Zeppelin Universität
07.08.2015
Wird den Flüchtlingen nicht insgeheim vorgeworfen, sie fliehen nicht aus einer menschenunwürdigen aussichtslosen Lage, sondern vor all dem, was uns hier ach so heilig ist: vor Arbeit, Verantwortung, Pflicht, Kampf, Herausforderung?

Dr. Joachim Landkammer
Lehrstuhl für Kunsttheorie und Inszenatorische Praxis
 
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    Zur Person
    Dr. Joachim Landkammer

    Dr. Joachim Landkammer
    Dr. Joachim Landkammer wurde 1962 geboren und studierte in Genua und Turin. Nach seinem dortigen Philosophiestudium, abgeschlossen mit einer Arbeit über
    den frühen Georg Simmel und einer ebenfalls in Italien durchgeführten Promotion über den Historikerstreit, hat Joachim Landkammer als Assistent und Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Dr. W. Ch. Zimmerli an den Universitäten Bamberg, Marburg und Witten/Herdecke gearbeitet. Seit 2004 ist er Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zeppelin Universität und Verantwortlicher des artsprograms der ZU für den Bereich Musik.

    Joachim Landkammer arbeitet neben seiner Lehrtätigkeit und einer gewissen
    journalistischen Textproduktion an verschiedenen interdisziplinären Themen in
    den Anwendungs- und Grenzbereichen der Philosophie, der Ästhetik und der
    Kulturtheorie. Ein dezidiertes Interesse gilt dem Dilettantismus und der Kunst- und Musikkritik 

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Wenn heute angesichts der täglichen Nachrichten von überall in Europa gestrandeten, festhängenden, wartenden (wenn nicht vorher umgekommenen) Flüchtlinge wieder verstärkt nach den Motiven gefragt werden muß, die für die Ablehnung und Feindschaft verantwortlich ist, der sie sich in ihren meist ungastlichen „Gastländern“ ausgesetzt sehen, werden meist kritiklos verschiedene Varianten des simplen „Das Boot ist voll“-Argumenttyps übernommen: Ressourcenknappheit, Überlastung der Aufnahme-Kapazitäten, Angst vor „Überfremdung“ und Kriminalität. Auch von nicht direkt fremdenfeindlichen Primitiv-Nationalisten werden Schwellenwerte des Tolerablen und Leistbaren angesetzt, oberhalb derer man sich die Präsenz von Fremden und Flüchtlingen nicht leisten könne, weil sonst das hypothetische nun gemeinsam (?) zu bewohnende Boot zu kentern drohe. Gerade das tägliche Unglück im Mittelmeer zeigt ja zynischerweise die auf dem europäischen Festland weiter gültige Wahrheit der Metapher für all die, die der Real-Katastrophe gerade noch entronnen sind.
Sie brennen. Flüchtlings- und Asylunterkünfte, oft noch nicht bezogen. 202 Mal wurden sie angegriffen, davon 173 Mal mit rechtsextremem Hintergrund. Schon jetzt sind es mehr als im vergangenen Jahr. Und sie häufen sich immer mehr. Die Unterkünfte überhaupt ausfindig zu machen, wurde vor Kurzem sogar vereinfacht: So kursierte eine Karte bei Google Maps, die sämtliche Orte markierte. Mittlerweile ist sie zum Glück nicht mehr abrufbar.
Sie brennen. Flüchtlings- und Asylunterkünfte, oft noch nicht bezogen. 202 Mal wurden sie angegriffen, davon 173 Mal mit rechtsextremem Hintergrund. Schon jetzt sind es mehr als im vergangenen Jahr. Und sie häufen sich immer mehr. Die Unterkünfte überhaupt ausfindig zu machen, wurde vor Kurzem sogar vereinfacht: So kursierte eine Karte bei Google Maps, die sämtliche Orte markierte. Mittlerweile ist sie zum Glück nicht mehr abrufbar.
Weil aber der begründete Verdacht besteht, daß solche angeblichen Belastungs- und Toleranzgrenzen nichts als ein sehr dehn- und interpretierbares soziales Konstrukt sind, darf gefragt werden, ob nicht vielleicht ganz andere Vorbehalte die heute vielfach eingeforderte „Willkommenskultur“ verhindern. Es sollte einmal der Vermutung nachgegangen werden, daß es der Flüchtling und der Emigrant als solcher, als Sozialtyp, ist, der unserer Weltanschauung fremd ist und daher unausgesprochenes Mißtrauen und innere Ablehnung erregt. In der Tat könnte es sein, daß „westliche“, europäische Lebenseinstellungen dazu tendieren, prinzipiell das „Hierbleiben“ und „Sich-Durchkämpfen“ vor allen anderen Problemlösungsstrategien, die das Weggehen, das Ausweichen, eben: das „Fliehen“ wählen, zu priviliegieren. Auch ein rationaler und säkularisierter Europäer ist heute noch überzeugt, von „Gott“ oder dem Schicksal oder einer sonstigen höheren Instanz ziemlich genau an den Ort in der Welt gestellt worden zu sein, wo er zu wirken und seine Aufgabe zu meistern hat. Schon jede auf Verbesserung der örtlichen Verhältnisse abzielende Kritik wird oft als unmännliches Klagen, Jammern und Nörgeln verunglimpft. Von klein auf werden uns dagegen heroische Durchhalteparolen eingetrichtert: sich „durchbeißen“, Herausforderungen annehmen, seinen Mann stehen, Widerstand leisten, es „den andern“ (und sich selbst) „zeigen“, usw. Man nimmt bei uns eher eine charakterliche Verhärtung und am Ende den Burnout in Kauf, anstatt endlich guten Gewissens „die Flinte ins Korn“ zu werfen und schlicht – zu gehen. Wer geht, hat immer Unrecht. Er zeigt sich den Problemen „nicht gewachsen“; die Exit-Option ist nur etwas für Schwächlinge, für Gescheiterte, die „in den Sack gehauen“ und „den Lafontaine gemacht haben“.

Man wird diese spätheroische Grundhaltung an verschiedenen historischen und zeitgenössischen Phänomenen nachweisen können: von dem ambivalenten Umgang mit Deserteuren in den Weltkriegen über die Vorbehalte auch von DDR-kritischen Ostdeutschen gegenüber allen, die damals „‘rübergemacht“ haben, bis hin zu der moralisierenden Kritik des Selbstmordes und der Suizidhilfe: „Hiergeblieben!“ rufen allerorts strenge Moralprediger auch den nur noch unerträgliche Schmerzen erlebenden Kranken zu. Die „innere Emigration“, der pietistische Rückzug in eine apolitische Privatheit des Leidens und Aushaltens, wird immer noch als die moralisch hochwertigere Alternative angesehen als die Flucht, das Abbrechen aller Brücken, der versuchte radikale Neuanfang woanders. Darum ist die heute wieder zu hörende Aufforderung, uns doch gefälligst an unsere Vergangenheit als Emigranten zu erinnern, solange nichts wert, wie nicht auch daran erinnert wird, mit welchen moralischen Zweifeln und Bedenken alle die zu kämpfen hatten, die es gewagt hatten, sich als zu schwach für die hierzulande herrschenden Überlebensbedingungen zu erklären und ihr „Glück“ (wie man das dann euphemistisch nannte) anderswo zu suchen; daß Amerika als das Land der vergangenheits- und kulturlosen „Ausreisser“ gilt, die nur gewissenlos und egoistisch-utilitaristisch-hedonistisch in den Tag hineinleben, hängt vermutlich immer noch mit dem Emigrantenstatus seiner Bewohner zusammen. Nur im Märchen, und nur in grotesker Verfremdung, dürfen Todgeweihte ihren Posten verlassen und sich aufmachen auf eine gemeinsame Reise, die sie aber auch nur dank eines günstigen Mißverständnisses überstehen; den Namen des ungastlichen Ortes, aus dem sie herkommen, und der sie töten wollte, müssen die Bremer Stadtmusikanten aber weiter tragen.

Freital. Kaum ein anderer Ort steht zurzeit so für Fremdenhass und Flüchtlingsverweigerung.  Das Auto eines Linken-Politikers geht in die Luft, ein Rentner zeigt den Hitlergruß. Doch es geht auch anders. Demonstrationen für Flüchtlinge ziehen durch den Ort; ein Künstler hängt Anti-Nazi-Plakate nachts im ganzen Ort auf. Auch wenn das Umdenken noch nicht überall angekommen scheint, hat es immerhin bei einigen begonnen.
Freital. Kaum ein anderer Ort steht zurzeit so für Fremdenhass und Flüchtlingsverweigerung. Das Auto eines Linken-Politikers geht in die Luft, ein Rentner zeigt den Hitlergruß. Doch es geht auch anders. Demonstrationen für Flüchtlinge ziehen durch den Ort; ein Künstler hängt Anti-Nazi-Plakate nachts im ganzen Ort auf. Auch wenn das Umdenken noch nicht überall angekommen scheint, hat es immerhin bei einigen begonnen.
Vor diesem Hintergrund darf man noch einmal fragen, was es denn ist, was wirklich den Abscheu, die Angst vor und die Hetze gegen die „Flüchtlinge“ auch und gerade aus den „sicheren Drittländern“ hervorruft: ist es nicht der stille Vorwurf, daß es die – wie dann immer wieder scheinheilig betont wird – doch so „tüchtigen“, „kräftigen“, „gebildeten“, jungen Menschen nicht geschafft haben, heldenhaft an ihrer angestammten, gottgegebenen Wirkungsstätte zu bleiben und dort ihre „verdammte Pflicht des Tages“ (Max Weber) zu erledigen? Wird den Flüchtlingen nicht insgeheim vorgeworfen, sie fliehen nicht aus einer menschenunwürdigen aussichtslosen Lage, sondern vor all dem, was uns hier ach so heilig ist: vor Arbeit, Verantwortung, Pflicht, Kampf, Herausforderung? Und: projizieren wir nicht unsere eigenen, verdrängten Sehnsüchte, endlich auch einmal ausbrechen zu dürfen aus dem „eisernen Gehäuse“ (derselbe) unserer protestantischen, innerweltlichen Durchhalte-Moral, auf die zu uns Geflohenen und unterstellen ihnen, daß sie das zu sein genießen, was wir verklemmt festsitzenden Orts-Ansässigen auch gern mal wären: arbeitslos, ortlos, verantwortungslos, bindungslos?

TitelbildMontecruz Foto / flickr.com (CC BY-SA 2.0)

Bilder im TextWiesbaden112.de / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)

Caruso Pinguin / flickr.com (CC BY-NC 2.0)


Beitrag (redaktionell unbearbeitet): Dr. Joachim Landkammer

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm und Alina Zimmermann

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