Drei Fragen sind es, die sich nach der Europawahl und der öffentlichen Diskussion der Ergebnisse aufdrängen: Wie muss man die Zunahme europakritischer Parteien interpretieren? Wie ist das Abschneiden der AfD in Deutschland zu beurteilen? Und: Wie dumm darf man als Chefredakteur einer führenden politischen Zeitung eigentlich sein? Tatsächlich gibt es einen gemeinsamen Nenner, auf den sich alle drei Fragen bringen lassen, nämlich den der Hybris.
Di Lorenzos dreistes und zugleich naiv-freimütiges Bekenntnis zu einem Wahlbetrug („Ich habe zwei Pässe, ich darf das.“) ist insofern symptomatisch für die gesamte Debatte um Europa und die Wahlen, weil es auf paradigmatische Weise die unglückselige Verknüpfung von Ignoranz und arroganter Besserwisserei verkörperte, die inzwischen nicht ganz untypisch für den Journalismus ist, wie er vornehmlich im Fernsehen auftritt. Wann haben Journalisten eigentlich angefangen, ihre Rolle nicht mehr in der des Berichterstatters und Kommentators, sondern der des Welterklärers zu sehen? Wenn Jörges zusammen mit einem Ökonomen in einer Talkshow sitzt, dann kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass er ihm erklärt, wie die Wirtschaft funktioniert. Wo sind die Experten, die zum Beispiel in Jauchs Sendung nicht nur etwas über das Wahlrecht hätten aussagen können, sondern auch den anschließend gepflegten Austausch von Vorurteilen über Vorurteile um einige Informationen hätten anreichern können?
ZEIT-Chef Giovanni di Lorenzo gab in der ARD-Talkshow "Günther Jauch" am Wahlabend - für Joachim Behnke "dreist" und "naiv-freimütig" einen Wahlbetrag zu. Er hatte zwei mal abgestimmt und damit eine Debatte um das gesamte EU-Wahlsystem losgetreten.
Hybris, zweite Beobachtung: Eine weitere Merkwürdigkeit der Debatte besteht darin, dass es von Politikern und Journalisten als Selbstverständlichkeit betrachtet wird, dass man als vernünftiger und vor allem anständiger Mensch für Europa und den Euro zu sein habe. Wer dagegen ist, gehört zu den politischen Schmuddelkindern, mit denen man sich nicht einmal mehr – wie von Volker Kauder angekündigt – in Talkshows auseinandersetzen möchte, was für deren Qualität allerdings einen eher verschmerzbaren Verlust darstellen würde. Es ist aber per se keineswegs unredlich oder moralisch verwerflich, gegen Europa zu sein. Und wer gegen den Euro ist, spricht sich nicht gerade für die Wiedereinführung der Sklaverei aus. Diese Ansichten sind ganz und gar zulässig. Eine Meinung für zulässig zu halten, heißt allerdings noch lange nicht, dass man sie teilen und befürworten muss. Dies ist der Grundgedanke des demokratischen Liberalismus, von dessen Geist Europa leben soll, den wir aber bei dem Umgang mit Europakritikern als erstes über Bord werfen.
In der Tat gibt es in der Realität bestimmte Korrelationen zwischen euro- und europakritischen Meinungen und fremdenfeindlichen Einstellungen, die von manchen Parteien auch bewusst bedient werden. Aber es gibt auch einen Kern euro- und europakritischer Gedanken, der nicht nur auf einen rückständigen Nationalismus zurückzuführen ist. Wer niemals auch nur den geringsten Zweifel verspürt hat, ob die gemeinsame Währung und vor allem die Form ihrer Umsetzung tatsächlich der richtige Weg waren, der ist keineswegs ein guter Europäer, sondern seinerseits ein verblendeter Ideologe. Das heißt nun umgekehrt keineswegs, dass sich die durch den Euro entstandenen Risiken mit der Abschaffung des Euro wieder abschaffen ließen. Das „schmutzige Geheimnis“ der Politik lautet vermutlich ganz einfach, dass keiner sich mehr hundertprozentig sicher sein kann, was der richtige Weg ist.
Ende Mai 2014 war halb Europa auf den Beinen, um ein neues Parlament zu wählen - Aber eben nur halb Europa, denn trotz gemeinsamer Spitzenkandidaten und dem Versuch einer gemeinsamen Europäischen Öffentlichkeit gelang es noch immer nicht, das volle Wählerpotenzial der EU zu mobilisieren.
Dies betrifft aber vor allem die materiellen Auswirkungen von Europa und nicht die ideellen. In diesem Zusammenhang aber sind die Befürworter stärker zu kritisieren als die Gegner, denn während letztere ihre Überzeugungen offen verkündigt haben, kann man bei den Befürwortern nur eine feige Verzagtheit konstatieren. Eine Idee, die sogenannte „Vision von Europa“ oder „das europäische Projekt“, die immer irgendwann von ihren angeblich so glühenden Anhängern unweigerlich letztendlich damit gerechtfertigt wird, dass wir alle von ihr profitierten, kann als Idee nicht sonderlich viel wert sein.
Wer seine Ehe oder Lebenspartnerschaft damit begründen würde, dass sie sich langfristig in punkto Sex, den steuerlichen Vorteilen gemeinsamer Erwerbsarbeit und einer gegenseitigen Unterstützung im Alter lohnen und „rechnen“ würde, hat womöglich das eine oder andere nicht ganz unwesentliche Element wohl vergessen oder es scheint ihm so unbedeutend, dass uns bei seiner Schilderung mit Recht ein kalter Schauer über den Rücken läuft. Kein „Projekt“ ist in Hinsicht auf die Kapitalrendite dümmer und unprofitabler als das, eigene Kinder in die Welt zu setzen und großzuziehen.
Was zeichnet die Idee von "Europa" heute noch aus? Hat sich der Staatenbund die Hörner abgestoßen und ist zum Schmarotzer geworden. Irgendwas läuft jedenfalls falsch mit Europa, urteilt ZU-Prof. Joachim Behnke.
Wenn wir von Projekten oder Ideen sprechen, dann sollten wir eben nicht Geschäftsideen damit meinen, sondern Lebensentwürfe, Modelle davon, wie wir uns unser Zusammenleben vorstellen und gestalten wollen. Der Maßstab von Vorteilen ist nicht der Maßstab, nach dem wir unsere Ehe oder Kinder, also die Dinge, die wirklich wichtig sind, betrachten. Wer aber Europa vor allem damit verteidigt, dass es angeblich für uns alle ein gutes Geschäft sein soll, darf sich nicht darüber beschweren, wenn die Bürger anfangen nachzurechnen und in dem einen oder anderen Fall eben zu einem anderen Ergebnis kommen.
Der Film „Alexis Sorbas“ war in den 60er Jahren ein Welthit. Zugegeben, die Wirkungsgeschichte des Films hat ihre unheilvollen und dunklen Seiten. Wahrscheinlich gab es keine Betriebsfeier in den 70ern, in denen nicht der vom inneren Freiheitsdrang beseelte Buchhalter der Firma seinen Kollegen beibringen wollte, Sirtaki zu tanzen. Dennoch: Was ist eigentlich passiert, dass aus dem sympathisches Alternativmodell zum verkopften westlichen Lebensmodell das Zerrbild eines ineffizienten, verantwortungslosen Schmarotzers werden konnte? Wenn die sicherlich naive Überhöhung durch eine ebenso naive, weil unaufgeklärte Verunglimpfung abgelöst wird, dann läuft irgendetwas falsch: in der Politik, in den Medien, warum wundern wir uns dann, wenn dies auch in Europa der Fall ist?
Titelbild: Peter Kurdulija (flickr.com)
Bilder im Text: Moritz Kosinsky (wikipedia.org) / Christopher Cotrell / Rock Cohen (jeweils flickr.com)