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Dr. Martin R. Herbers ist seit September 2012 am Lehrstuhl für Allgemeine Medien- und Kommunikationswissenschaft als Akademischer Mitarbeiter beschäftigt. Zu seinen Arbeits- und Interessensgebieten zählen Phänomene der politischen Öffentlichkeit, politische Unterhaltungskommunikation und visuelle Kommunikation. 2013 schloss er erfolgreich sein Promotionsprojekt zur Produktion politischer Unterhaltungssendungen im deutschen Fernsehen ab.
In den Jahren 2008 bis August 2012 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster auf verschiedenen Positionen und Projekten tätig.
Von 2003 bis 2007 studierte er an der Westfälischen Wilhelms-Universität Kommunikationswissenschaft mit den Nebenfächern Psychologie und Deutsche Philologie.
Allgemeine Kennzeichen des seriellen Erzählens sind die Wiederholung und die Unterbrechung. Dies erhöht die Spannung der Erzählung: Rezipienten werden immer dann besonders von einer Narration in Beschlag genommen, wenn der Ausgang des Erzählten ungewiss ist. Das serielle Erzählen prolongiert das Ungewisse: Dadurch, dass eine komplette Geschichte in mehrere Episoden zerlegt und regelmäßig bewusst unterbrochen wird, wird der Rezipient immer wieder aufs Neue motiviert, sich der Erzählung zuzuwenden und die Spannung, die sich aus der Ungewissheit ergibt, aufzulösen. Damit in der Zeit zwischen zwei Episoden nichts vergessen wird, bedarf es Elemente der Wiederholung: Eine feste Figurenkonstellation, zusammenfassende Erzählungen oder spezielle Segmente innerhalb der Episoden unterstützen die Gedächtnisleistung des Publikums.
Das serielle Erzählen, das auf einem Wieder-holen von Inhalten basiert und den Zuschauer nach Unterbrechung erneut an den Fernseher bindet, verändert sich durch die digitale Distribution. Im klassischen Fernsehen muss ein entsprechender zeitlicher Abstand, meistens eine Woche, zwischen den Episoden erduldet werden. Zwischen einzelnen Staffeln liegen oftmals etwa halbjährige Pausen, welche sich aus dem Fernsehproduktionszeitraum ergeben. Auf Plattformen wie Netflix hingegen werden dem Rezipienten komplette Serien Verfügung gestellt. Die Möglichkeit für den Zuschauer besteht also, sich in einem Prozess des sog. binge-watching sämtliche Episoden einer Jahresstaffel gebündelt an einem verregneten Nachmittag auszusetzen. Der zeitliche Abstand zwischen Episoden und Staffeln reduziert sich dabei auf die Zeit, die benötigt wird, um den Mausklick auszuführen, der die nächste Episode startet. Das unterbrochene Erzählen, das dem Seriellen eigen ist, wandelt sich zu einem kontinuierlichen Erzählen, ohne nennenswerte Pausen.
Diese medienkulturellen Veränderungen im seriellen Erzählen schlagen sich auch in neuen Nutzungspraktiken nieder. Im klassischen Fall der Fernsehserie bindet ein senderseitig vorgegebener Ablauf den Nutzer in zeitlicher wie räumlicher Hinsicht. Durch fixe Sendeplätze wird eine zeitliche Vorgabe der Rezeption getätigt, die nahezu imperativisch ist: Schau die aktuelle Folge einer Serie immer mittwochs um 18:00 Uhr! Räumlich war und ist die klassische Rezeption an ein spezielles Empfangsgerät, den Fernseher gebunden. Physische Präsenz des Geräts und die physische Präsenz des Nutzers vor dem Fernseher schaffen eigene Raumkonstellationen. Wohnzimmerarrangement etwa waren vor dem flächendecken Einzug des Fernsehgeräts eher kreisförmig um einen Tisch herum angeordnet, um Gespräche zu ermöglichen; das Fernsehgerät verändert dieses Arrangement zu einer halbkreisförmigen Arena, welche freie Sicht auf den Bildschirm ermöglicht. Spezielle Fernsehmöbel unterstützen diese Anordnung.
Das Wohnzimmer als primärer Ort der Fernsehrezeption und dessen interne Ordnung verlieren spätestens vor dem Hintergrund postmoderner Entwicklungen an Relevanz. Die gesellschaftlichen Metaprozesse der Individualisierung und Mobilisierung können hier als Begründung angeführt werden. Klassische, erwerbsbiographische Prozesse nehmen ab: Als Sohn eines Tischlers geboren wurde man selbst Tischler und arbeitete in der Firma, in der auch schon der Vater arbeitete. Lebensmittelpunkt blieb häufig der Geburtsort, was die Etablierung klassischer häuslicher Lebenswelten mit oben beschriebenen Wohnzimmerarrangements förderte.
Gegenwärtige Lebensläufe und Erwerbsbiographien, die hochgradig auf sozialer Mobilität beruhen, schaffen eine Lebenswelt, die ihrerseits flüchtig ist: Der Geburtsort ist nicht mehr zwangsläufig Ausbildungs-, Studien-, oder gar Arbeitsort. Physische Mittelpunkte, wie etwa ein Wohnzimmer, entfallen, auch vor dem Hintergrund kleinerer Wohnräume. Flexible Arbeitszeiten lassen es oft nicht zu, sich vor einem Fernseher zu einer vorbestimmten Zeit niederzulassen. Netflix kann als Ausdruck dieser Mobilität verstanden werden: Dadurch, dass es kaum physische Konstellationen benötigt, wird eine mobile Rezeption möglich, die jederzeit an jedem Ort stattfinden kann. Der Berufspendler kann sich im Zug einen Film ansehen und der Patient verfolgt im Wartezimmer eine Arztserie. Raymond Williams bezeichnet dieses Phänomen als „Mobile Privatisierung“: Das eigentliche Privatissimum, der heimische Fernsehempfang, abgeschottet von der Außenwelt, findet nun genau in der Außenwelt statt. Augenscheinlich individuell, abgeschottet etwa durch Kopfhörer, ist die Rezeption nun öffentlich: Der Sitznachbar im Zug kann mehr oder minder verstohlen mitschauen.
Digitale Plattformen wie Netflix verändern auch eine oftmals übersehene Praktik der Mediennutzung: Das Sammeln und Ausstellen. Die ist insbesondere im Bereich Film der Fall. Filmrezeption wurde spätestens mit dem Aufkommen der VHS-Videokassette in Privathaushalten möglich und stellt in Kombination mit entsprechendem Audio- und Videoequipment in ernsthafter Konkurrenz zum Kino dar. Die Trägermedien, seien es VHS-Kassetten, DVDs, oder Blu-ray Discs, können gesammelt werden und vor allem im heimischen Kontext ausgestellt werden. Das gut gefüllte DVD-Regel zeichnet die Filmfreundin erst als solche aus und dient ihr – ganz im Sinne Pierre Bourdieus – als soziales Distinktionsmerkmal. Das DVD-Regal kommuniziert nicht nur: Seht, was ich alles gesehen habe, sondern ist auch sichtbarer Teil der eigenen Identitätsbildung. Man gibt sich als Western-Fan, Bewunderer französischer Dokumentarfilme, oder gar im besten Sinne als Eklektiker, der das rezipiert, worauf er gerade Lust hat. Mit dem Sammeln geht somit auch das Zeigen einher.
Netflix und andere Plattformen ermöglichen zwar auch einen Sammelprozess, in dem das Gesehene auf der Plattform selbst archiviert wird, dieser ist aber wiederum digital. Die virtuelle Watchlist kann nicht ins Wohnzimmer gestellt werden – also muss die Sammlung auf anderem Wege sichtbar gemacht werden. Verknüpfungen mit sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter ermöglichen es, auf neuem Wege die eigene Rezeption anzuzeigen. Die Verlagerung der Sammlung aus dem häuslichen Kontext heraus in die virtuelle Öffentlichkeit stößt ihrerseits wiederum Distinktionsprozesse an, ändert aber die Zugänglichkeiten. Führt der DVD-Sammler dem Hausbesucher das Regal vor und lässt die physische Präsenz auf den überwältigten Betrachter wirken, so kann die aktuelle Filmauswahl etwa auf Facebook direkt von Freunden kommentiert werden.
Angebote wie Netflix können also als Ausdruck einer sich ändernden Welt angesehen werden, in der klassische Medienkonstellationen und deren theoretische Reflexion neu gedacht werden müssen. Offen bleiben aber noch weitere Fragen, die über die hier beschriebenen Phänomene hinausgehen: Löst das Vorhandensein von Netflix seinerseits neue Wandelprozesse aus? Verändert sich etwa das serielle Erzählen weiter, in dem Fernsehproduzenten etwa für Netflix produzieren – wie es bereits getan wird – und gestalten sie die Inhalte so, dass sie der Form genügen? Politische und ökonomische Konsequenzen müssen ebenfalls berücksichtigt werden: Plattformen wie Netflix stoßen Debatten um Netzneutralität und Rundfunkfinanzierung neu an und zeigen damit, dass sie weitaus mehr sind, als lediglich digitale Distributionsplattformen für Unterhaltungsangebote. Stay tuned for the next episode.
Titelbild: StudioTempura / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Bilder im Text: Netflix / PR Media Center, wdecora / flickr.com (CC BY-NC 2.0), N Stjerna / flickr.com (CC BY 2.0), Great Beyond / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Martin R. Herbers
Umsetzung: Florian Gehm und Alina Zimmermann