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Europa in der Zerreißprobe
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Eurokrise

Europa in der Zerreißprobe

von Prof. Dr. Marcell Tyrell | Zeppelin Universität
08.07.2015
Die Politik muss deshalb die Vorteile eines vereinten Europas nicht nur verbal in den Vordergrund rücken, sondern auch die Politikmaßnahmen danach ausrichten. Auf Dauer kann dies jedoch nur gelingen, wenn nationalstaatliche Egoismen zurückgedrängt werden und das europäische Gesamtprojekt politisch, ökonomisch und kulturell wieder mit Leben gefüllt wird.

Prof. Dr. Marcel Tyrell
Lehrstuhl für Unternehmer- und Finanzwissenschaften
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Marcel Tyrell

    Seit 2009 leitet Prof. Dr. Marcell Tyrell das Buchanan Institut für Unternehmer- und Finanzwissenschaften der Zeppelin Universität. Vorher lehrte er unter anderem an Universität Frankfurt, der University of Pennsylvania und der European Business School. Schwerpunktmäßig forscht er an Veränderungen von Finanzsystemstrukturen, mikro- und makroökonomischen Auswirkungen von Finanzkrisen und der Verschuldungsdynamik von Volkswirtschaften. 

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Die Griechen haben sich entschieden. Das Referendum vom vergangenen Sonntag enthält eine klare Botschaft: Weitere Sparanstrengungen sind großen Teilen der griechischen Bevölkerung kaum vermittelbar. Überraschend für Nicht-Griechen war die Eindeutigkeit des Referendums. Kaum jemand außerhalb Griechenland hatte damit gerechnet, dass trotz eines in der Folge drohenden Grexit das Wahlergebnis so klar sein würde. Jetzt beginnt jedoch der Verhandlungsmarathon von Neuen. Alexis Tsipras scheint dabei nun auch die demokratischen Oppositionsparteien hinter sich versammelt zu haben und kann gestärkt mit einem neuen Finanzminister die Verhandlungsrunden in Brüssel eröffnen. Es wird sich zeigen, mit welchen Angeboten die griechische Regierung anreisen und wie die Eurogruppe reagieren wird. Fest steht jedoch, es wird nicht einfach werden, und die Schmerzgrenzen aller Verhandlungsteilnehmer werden sicherlich strapaziert. Ein Ergebnis des Verhandlungsprozesses ist in dieser komplizierten Gemengelage kaum prognostizierbar. Zu viele unterschiedliche Interessen sind berührt, und egal, was auch immer herauskommt, das europäische Projekt wird einer fundamentalen Zerreißprobe ausgesetzt sein.

BILD I

Dass sich die Europäische Union in einer tiefen Krise befindet, hat jedoch nicht nur seine Ursachen in der aktuellen Griechenlandkrise. Der Umgang der EU mit der Flüchtlingsproblematik wird zu Recht von vielen Beobachtern als beschämend bezeichnet. Eine gemeinsame Politik, die auch den Flüchtlingen gerecht wird, wird gar nicht mehr angestrebt. Solidarität scheint zum Fremdwort zu werden, und einzelne Staaten überlegen sogar, wieder Zäune zu errichten, um sich vor Flüchtlingszugang zu schützen. Hinzu kommt vereinzelt aufbrechender Fremdenhass in fast allen Ländern der Europäischen Union und eine zunehmende EU-Müdigkeit in weiten Bevölkerungsschichten. Dies zeigt sich nicht nur im Aufkommen europakritischer Parteien, sondern auch daran, dass ein britischer Premierminister sich genötigt sieht, ein Referendum zur EU-Zugehörigkeit abzuhalten.

Hinzu zählen muss man auch, dass beispielsweise in Ungarn ein zunehmend autokratischer Regierungsstil an den Tag gelegt wird, der mit einer freiheitlich demokratischen Verfassung kaum mehr in Einklang zu bringen ist. Zwar hat Kommissionschef Juncker scherzhaft den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán vor kurzem mit „Hallo Diktator“ begrüßt, dahinter steht jedoch die ernsthafte Sorge, dass in Ungarn die Bürgerrechte massiv eingeschränkt werden beziehungsweise es schon sind. Wie hält es die EU eigentlich mit demokratisch gewählten Regierungen in Mitgliedsstaaten, die immer antidemokratischer agieren und dabei Verfassungsgrundsätze und Bürgerrechte grundlegend verändern?

BILD II

Auch hierauf ist es schwierig, eine Antwort zu geben. Die Europäische Union und auch die Währungsunion sind im Grundsatz so angelegt, dass Beitrittsentscheidungen möglichst „irreversibel“ sind. Das heißt, man möchte die jeweilige Union möglichst unumkehrbar gestalten. Es ist beispielsweise in den Lissaboner Verträgen erstmalig geregelt, wie ein Land freiwillig aus der EU austreten kann, aber der Rauswurf ist, vielleicht aus guten Gründen, dort nicht geregelt. Gleiches gilt für das unfreiwillige Verlassen der Euro-Zone wie der Fall Griechenland zeigt. Dies bedeutet jedoch, dass in der Konsequenz die Fliehkräfte sowohl innerhalb der EU als auch innerhalb der Währungsunion immer weiter zunehmen können. Und genau dies beobachten wir heutzutage.

Die Politik muss deshalb die Vorteile eines vereinten Europas nicht nur verbal in den Vordergrund rücken, sondern auch die Politikmaßnahmen danach ausrichten. Auf Dauer kann dies jedoch nur gelingen, wenn nationalstaatliche Egoismen zurückgedrängt werden und das europäische Gesamtprojekt politisch, ökonomisch und kulturell wieder mit Leben gefüllt wird. Dies erfordert sowohl eine Neujustierung des Verhältnisses von Nationalstaaten und EU in Bezug auf Entscheidungs- und Legitimationsgrundsätzen als auch eine institutionelle Verfassung der EU, die das vorhandene Demokratiedefizit verringert. Es müssen also dringend dicke Bretter gebohrt werden. Ansonsten ist die europäische Integration akut gefährdet.

Titelbild: fotogake / flickr.com (CC BY-NC 2.0)

Bilder im Text: Bernard Forand / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)

Lorenzo Gaudenzi / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Marcel Tyrell

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm und Alina Zimmermann

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