Am 17. Juni 2015 erschießt der 21-jährige weiße US-Bürger Dylann Roof neun Afroamerikaner während einer Bibelstunde in einer Kirche in Charleston. Geschockt blickt die Welt auf die sinnlosen Morde, während gleichzeitig annonyme Spender innerhalb einer Woche über 4 Millionen US-Dollar für die Verteidung des Attentäters spenden. Nur einen Monat später stirbt eine Afroamerikanerin in einer Gefängniszelle, nachdem sie für's Nicht-Blinken bei einem Spurwechsel in Polizeigewahrsam genommen wurde. Was passiert dort im einstiegen Mekka der Freiheit? Hans Ulrich Gumbrecht über mögliche Reaktionen auf die rassistischen Taten.
In der Tonlage kollektiver Gefühle erinnerten die nationalen Reaktionen auf die Ermordung von neun Afroamerikanern durch einen weißen Rassisten in einer Kirche, die zu den südlichen Gedenkorten der Kämpfe um die Selbstbefreiung der Sklaven und um die Bürgerrechte gehört, an die Zeit des 11. September 2001. Nach der ersten Wut und Sprachlosigkeit in den Situationen des Alltags verbreitete sich, von Charleston, South Carolina ausgehend, eine verschiedene Religionen, soziale Klassen und ethnische Gruppen vereinigende Stimmung der Solidarität im Schmerz. "Die Rassen kommen in ihrer Trauer über die neun Opfer zusammen", titelte die New York Times am 19. Juni, und Präsident Obama fand ungewohnt klare Worte, als er dem Podcast WTF sagte: "Wir sind vom Rassismus nicht geheilt." Und "es geht nicht nur darum, dass es unhöflich ist, in der Öffentlichkeit 'Nigger' zu sagen".
Ob man den Täter nun als "pathologisch verblendet" oder als "hasserfüllt und kaltblütig" klassifizieren will, er wirkt offenbar – auch und gerade in den Vereinigten Staaten – exzentrisch genug, um eine Einheit auszulösen, die bei den Verwandten der Opfer bis zu Impulsen christlicher Vergebung ging. Auf der anderen Seite wurden zum ersten Mal seit Langem wieder Stimmen hörbar, die auf ein bedingungsloses Verbot der Südstaatenflagge aus dem Bürgerkrieg drängen, der Flagge jener Bundesstaaten, welche im 19 Jahrhundert für die Erhaltung der Sklaverei gekämpft hatten und mit der sich der Charleston-Attentäter im Netz gezeigt hat. Noch in dieser verspäteten Unduldsamkeit gegenüber der sichtbaren Konzession an eine rassistische Minderheit manifestiert sich ein von den Morden ausgelöster Wille zu einer entschlossen anderen Zukunft. Die Gemütslage der Nation nach dem Massaker von Charleston steht jedenfalls in drastischem Gegensatz zu der Verzweiflung, aber auch zu der Verwirrung, welche während des vergangenen Jahres die Todesserie junger schwarzer Männer in der Konfrontation mit und im Gewahrsam der Polizei ausgelöst hatte.
Nach dem Tod des Afroamerikaners Michael Brown lagen Krieg und Frieden in den USA eng beeinander: Nach einer ersten Mahnwache kam es zu Krawallen. Tausende überwiegend afroamerikanische Demonstranten hatten sich am Tatort versammelt. Die mit Schlagstöcken bewaffneten Einsatzkräfte der Polizei setzten Tränengas ein und versuchten, die Menge mit Hunden auseinanderzutreiben. Täglich kam es dann abends und nachts zu Unruhen in der Stadt. Nach der Entscheidung der Grand Jury, kein Strafverfahren zu eröffnen, flammten die Unruhen am 24. November wieder auf. Nach der Entscheidung der Grand Jury rief Michael Brown’s Stiefvater Louis Head zur Menge vor dem Police Department „Burn this bitch down!“ Ein Dutzend Gebäude wurde niedergebrannt, auch zwei Fahrzeuge der Polizei und verschiedene andere verbrannten.
Am hilflosesten wirkten die Reaktionen der afroamerikanischen Elite auf den gewaltsamen Tod von Michael Brown in Ferguson und von Freddie Gray in Baltimore – was wohl kein Zufall war. Allen voran sprach Barack Obama, den ich für einen guten Präsidenten halte, von "einer sich langsam entwickelnden Krise" (als ob Naturkräfte am Werk gewesen seien) und von der Notwendigkeit einer "tiefen Gewissenserforschung" der Nation und ihrer Polizei (als ob gute moralische Absichten schon zur Lösung eines sozialen Problems führen könnten, das sich seit Jahrzehnten immer nur verschärft hat). Stephanie Rawlings-Blake, die Bürgermeisterin von Baltimore, entschuldigte sich bei jeder Gelegenheit für ihren Gebrauch des rassistisch konnotierten Worts thug ("Halbstarker", heute ausschließlich auf Afroamerikaner angewandt) im Blick auf die über mehrere Tage sich hinstreckenden, bedrohlichen Protestaktionen in ihrer Stadt und versprach außerdem, dass sie sich nach Kräften bemühen werde, es nun allen recht zu machen. Schließlich berichtete ihr Polizeichef eher lakonisch, dass er sich "in eine ferne gesellschaftliche Vergangenheit zurückversetzt gefühlt" habe, als er vor wenigen Jahren sein Amt in Baltimore übernahm.
Längst existiert in den Vereinigten Staaten eine gehobene Mittelschicht von Afroamerikanern, die beim Ausbrechen solcher Konflikte nicht nur Besitz und Ämter zu verlieren haben, sondern auch die oft stark aufgetragene Sympathie der traditionellen Eliten und das eigene gute Gewissen, mit dem sie gerne von der Solidarität zu ihren schwarzen "Brüdern und Schwestern" reden. Deshalb geht die unter Intellektuellen weltweit beliebte "kritische" Bemerkung, dass "sich nichts verändert" habe seit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jahren, gleich doppelt an den Tatsachen vorbei. Zum einen ist seither jene neue Gesellschaftsschicht als ein motivierender Horizont des sozialen Aufstiegs von Afroamerikanern entstanden, und auf der anderen Seite sehen fast alle Statistiken im Bezug auf die soziale Situation schwarzer Männer heute noch katastrophaler aus als früher. Die Zahlen verdichten sich zu dem berühmt-berüchtigten Befund, dass auf 100 afroamerikanische Frauen nur 87 afroamerikanische Männer kommen; die anderen 13 Prozent von ihnen sterben entweder eines gewaltsamen Todes oder sind in Haft. Aus dieser Lage entstehen alltägliche Reflexe. Man erkundigt sich bei den schwarzen Schulfreunden der eigenen Kinder höflich nach Mutter und Großmüttern – aber bloß selten nach dem Vater.
Der amerikanischen Gesellschaft weiterhin "Rassismus" vorzuwerfen hat also eine gewisse Berechtigung – und wirkt zugleich intern irritierend. Niemand kann die harten Fakten leugnen, denn die sogenannte color line hält sich entlang vielfacher Verwerfungen als eine in ihrer Permanenz nicht leicht zu erklärende Form des Rassismus. Andere Statistiken belegen allerdings, dass die soziale Mobilität in den Vereinigten Staaten bis heute besonders hoch geblieben ist. Derzeit setzt sie sich – nach langem Stocken – mit der Integration der spanischsprachigen Bevölkerungsgruppen fort. Europäische Belehrung im saturierten Ton guten Gewissens braucht Amerika nicht. Doch dass sich auf der anderen Seite die notwendige Unnachgiebigkeit in der Konzentration auf unsere brennenden nationalen Probleme nicht eingestellt hat, zeigt das sanfte Verebben des Schreckens über Ferguson und Baltimore.
Beim Anschlag in Charleston erschoss der 21-jährige weiße US-Bürger Dylann Roof am 17. Juni 2015 neun Afroamerikaner während einer Bibelstunde in einer Kirche in Charleston, South Carolina. Die Ermittlungsbehörden, darunter das Federal Bureau of Investigation (FBI) ermitteln wegen eines rassistisch motivierten Hassverbrechens und möglichem Terrorismus. Den Ermittlern zufolge hatte der Täter vor der Tat rund eine Stunde lang mit den Besuchern der Kirche zusammengesessen und eröffnete im Anschluss das Feuer. In dem Kugelhagel starben sechs Frauen und drei Männer. Unter den Todesopfern befindet sich der Gemeindepastor Clementa Pinckney, der auch einen Sitz im Senat von South Carolina in Columbia hatte.
Bis zum 17. Juni diesen Jahres, dem Datum des rassistischen Massakers von Charleston, berichtete selbst die New York Times beinahe täglich und allzu erleichtert, wie die vom Präsidenten geforderte "Gewissenserforschung" mit vielfachen Reformen zur Überwachung und Ausbildung von Polizisten in Gang gekommen sei. Das Time Magazine hatte seine Titelstory über Baltimore am 11. Mai mit der absurden Volte beschlossen, dass "Gewissenserforschung sich durchaus auch auf positive Erfahrungen beziehen dürfe", zum Beispiel auf zwei Gangs, die der Bürgermeisterin ihre Unterstützung bei der Kontrolle der Proteste angeboten hatten. Doch wo kann jene Analyse einsetzen, die solch übereilten und erfahrungsgemäß zu kurz greifenden Maßnahmen vorauszugehen hat? Warum sind afroamerikanische Männer heute mehr denn je die Opfer einer Gesellschaft, in deren Medien sie zentrale Rollen als Helden und Sympathieträger besetzen – ohne zu afroamerikanischen Frauen wie Beyoncé oder Oprah Winfrey aufzuschließen, die als Embleme einer singulären Gender-Asymmetrie fast unbegrenzten Einfluss und Reichtum erlangt haben? Vielleicht müsste sich eine weiterführende Reflexion auch auf solche Erfolgsgeschichten beziehen – nicht allein auf die Ghettos und die Psychopathologie weißer Rassisten.
Die typischen afroamerikanischen "Helden der Nation" sind seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts Stars der Unterhaltungsindustrie und in mittlerweile allen Sportarten gewesen (der junge Tiger Woods hatte Golf als letzte Bastion weißer Exklusivität erobert). Zu diesem Syndrom gehören auch die dominanten Funktionsstellen im einschlägigen Management. An der Stanford University sind die zwei Angestellten mit den zweifellos höchsten Gehältern der – sehr erfolgreiche – Trainer für American Football und der – eher enttäuschende – Coach der Basketballmannschaft. Beide sind Afroamerikaner, wie auch – auf einer vergleichsweise bescheidenen finanziellen Ebene – ihr Vorgesetzter, der Athletic Director.
Unter den schwarzen Entertainern und Athleten selbst stehen aber nun Rollentypen im Vordergrund, welche gegenüber gesellschaftlicher Normalität besonders exzentrisch erscheinen: die beständig alle Grenzen des Takts verletzenden Texte des Rap zum Beispiel oder American Football als ein Spiel, das Gewalt mit schachartiger Intelligenz verbindet (und dessen ästhetisches Potenzial mich begeistert). Gesten dieser Exzentrik haben afroamerikanische Politiker wie etwa der US-Senator Corey Broker übernommen, der während seiner Collegezeit für Stanford Football spielte, dann in Yale ein Jurastudium absolvierte und als Bürgermeister der Problemstadt Newark mit großem Erfolg ein Robin-Hood-artiges Image pflegte.
Der Todesfall Michael Brown ereignete sich am späten Abend des 9. August 2014 in der Stadt Ferguson im Bundesstaat Missouri in den USA. Dabei wurde der 18-jährige afroamerikanische Schüler Michael Brown nach Tätlichkeiten gegenüber dem Polizisten Darren Wilson von diesem erschossen. In der Folge kam es zu andauernden Unruhen und Demonstrationen gegen rassistische Polizeigewalt, zur Entsendung der Nationalgarde und zur Verhängung nächtlicher Ausgangssperren. Nachdem eine Grand Jury am 24. November entschieden hatte, kein Verfahren gegen Darren Wilson zu eröffnen, kam es am 25. November zum Teil zu gewaltsamen Protesten in mehr als 170 Städten der USA.
Dass der finanzielle wie existenzielle Abstand zwischen solchen Eliten sowie den etablierten Mittelschichten einerseits und anderseits den Unterprivilegierten erschreckend schnell wächst, gehört zu den globalen Entwicklungen unserer Gegenwart, hat jedoch unter amerikanischen Bedingungen zwei spezifisch folgenreiche Konsequenzen. Die Abwesenheit sozialstaatlicher Rettungsnetze macht erstens die Situation amerikanischer Ghettobewohner weit prekärer als etwa die Lage deutscher Hartz-IV-Empfänger. Zweitens lehnen viele amerikanische Ghettobewohner – und unter ihnen wohl vor allem die Afroamerikaner – Interventionen des Staats zu ihren Gunsten ab. Dahinter steht die nationale Tradition eines Mythos von männlicher Individual-Autonomie, die mit Gewalt erobert und geschützt werden soll. Jener "Glaube an Amerika" als Ideologie der gewaltsamen Selbsthilfe lebt in ihm fort, mit dem als historische Referenz das Film-Epos vom Paten einsetzte ("I believe in America") – und der Mythos wird gerade von den afroamerkanischen Helden der Öffentlichkeit weiter verkörpert und bestärkt.
Die Affinität zwischen dieser Situation und der von Obama – in Ansätzen – durchgesetzten Gesundheitsreform liegt auf der Hand. Denn die in sozial ausgeschlossenen Schichten ebenso leidenschaftliche wie groteske Überschätzung individueller Autonomie hatte den Widerstand gegen eine staatliche Krankenversicherung ebenso bestärkt, wie sie bis heute das Recht auf den persönlichen Besitz von Schusswaffen beinahe unantastbar gemacht hat – gerade unter jenen Amerikanern, die statistisch gesehen von Waffengewalt am meisten bedroht sind. Gewaltpotenziale zur Schau zu stellen gehört zum Habitus der Jugendlichen in den Ghettos amerikanischer Städte – vielleicht besonders sichtbar zum Habitus afroamerikanischer Jugendlicher. Daraus ergibt sich keinerlei Entschuldigung für Gewaltübergriffe der Polizei, die keinesfalls eine geschlossen "weiße Institution" ist (von den sechs Polizeibeamten aus Baltimore, die jetzt unter Anklage stehen, Freddie Gray getötet zu haben, sind drei Afroamerikaner und drei Weiße). Eher gehört es zum Habitus der Polizisten und Polizeistrategen, symmetrisch auf Gewaltprovokationen zu reagieren, um so immer mehr Gewalt auszulösen, und diese Tendenz wird durch die Tatsache potenziert, dass der amerikanische Staat sein mögliches Gewaltmonopol nicht nur durch die Gesetze zum Waffenbesitz zersetzt, sondern auch mit der Vergabe von Polizei- und Gefängnis-Funktionen an private Unternehmen.
Strahlendes Lächeln, weiße Zähne, den Zeigefinger erhoben und den Blick geradeaus: US-Präsident Barack Obama so selbstsicher wie man ihn kennt. In seinem letzten Wahlkampf warb er um zusätzliche Zeit, seine politischen Ziele und Versprechen umsetzen zu können. Anderthalb Jahre vor Ende seiner Amtszeit könnte dies nun mehr als schwierig werden. Obama verlor in den midterm elections deutlich an Boden und sieht sich nun in Senat und Kongress republikanischen Mehrheiten gegenüber - auch aktuelle Anschläge und rassistische Taten üben massiven Druck auf den Präsidenten aus. Ob was strahlende Lächeln Bestand hat, bleibt abzuwarten.
Der Zyklus aus dem Traum von individueller Autonomie und aus aktueller Gewalt lässt sich durch die Reform von Polizeiverordnungen gewiss nicht durchbrechen – und noch weniger mit gut gemeinten Vorschlägen zur Entwicklung sozialstaatlicher Institutionen, die einem Großteil der amerikanischen Wähler ohnehin nicht geheuer sind. Doch an einer Aufhebung des Rechts auf individuellen Waffenbesitz zu arbeiten (oder wenigstens an einer Aufhebung des Tabus, welches das Thema umgibt) müsste unbedingt bis zu einer Lösung zu den Prioritäten jedes Präsidenten gehören. Sollte das rassistische Verbrechen von Charleston, dessen Mörder wohl eher außerhalb jenes Zyklus von Autonomie und Gewalt gehandelt hat, das Bewusstsein von dieser Notwendigkeit geschärft haben, dann wäre wenigstens die durchaus reale Gefahr abgewendet, in der Solidarität des Trauerns die brennendsten Probleme unserer Nation aus dem Blick zu verlieren.
Ohne konkrete Initiativen zur Umschreibung der Gesetze über Waffenbesitz werden alle Rufe nach Gewissenserforschung und Gewaltkontrolle banale Gesten bleiben, die durch ihre Wirkungslosigkeit noch zur Eskalation der Situation in den Ghettos beitragen. Zugleich sollten sich die "Philanthropen" der Nation, jene Reichsten der Reichen, Amerikaner, die einen Großteil ihrer Vermögen in gemeinnützige Stiftungen investieren, entschlossener als bisher den schlimmsten Notlagen im eigenen Land zuwenden. Dann brauchte eine Aufhebung des Rechts auf Waffenbesitz nicht zu konvergieren mit dem Beginn einer Entwicklung zum Sozialstaat – die noch nie zu den kollektiven Wünschen Amerikas gehört hat.
Der Beitrag ist ursprünglich in DIE ZEIT Nr. 26 / 2015 erschienen.
Titelbild:Thomas Hawk / flickr.com (CC BY-NC 2.0)
Bilder im Text: „Protesters with signs in Ferguson“ von Jamelle Bouie - Lizenziert unter CC BY 2.0 über Wikimedia Commons.
„110 Calhoun“ von ProfReader - Eigenes Werk.
Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.
"Memorial to Michael Brown" by Jamelle Bouie -
Lizenziert unter CC BY 2.0 über Wikimedia Commons.
Joe Crimmings / flickr.com (CC BY-ND 2.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm & Alina Zimmermann