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Vereint, Vorbildlich, Vielfältig?
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Wanderausstellung „VorBilder" an der ZU

Vereint, Vorbildlich, Vielfältig?

von Prof. Dr. Maren Lehmann | Zeppelin Universität
14.04.2016
Die Sinnlosigkeits- und Verlusterfahrung, die die Flucht ausmacht, wird negiert, als wäre sie dadurch geheilt.

Prof. Dr. Maren Lehmann
Lehrstuhl für Soziologische Theorie
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Maren Lehmann

    Sie ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologische Theorie mit dem Schwerpunkt auf Organisationstheorie an der Zeppelin Universität. Professorin Dr. Maren Lehmann studierte Design an der Hochschule für Kunst und Design in Halle, später Erziehungswissenschaften und Soziologie an den Universitäten Halle/Wittenberg und Bielefeld. Nach ihrer Promotion und Habilitation in Soziologie arbeitete sie in Forschung und Lehre an den Universitäten Halle/Wittenberg, Leipzig, der Bauhaus-Universität Weimar, der Wirtschaftsuniversität Wien und der Universität Duisburg-Essen. 

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    Factbox
    Zum Weiterlesen: Die Literatur zum Vortrag

    Beck, Ulrich (1996): Wie aus Nachbarn Juden werden. Zur politischen Konstruktion des Fremden in der reflexiven Moderne, in: Max Miller/Hans-Georg Soeffner (Hg.), Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnosen am Ende des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 318-343.

    Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Stuttgart: Klett-Cotta.

    Goffman, Erving (1963): Behavior in Public Places

    Hohenester, Brigitte/Gerhardt, Uta (2000): Integrität durch Integration. Vertriebene/Flüchtlinge und die Entstehung der deutschen Gesellschaftsgemeinschaft in der ersten Nachkriegszeit, in: Herbert Willms/Alois Hahn (Hg.), Identität und Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 403-432.

    Kursbuch 185: Fremd sein! Hg. von Armin Nassehi und Peter Felixberger. Hamburg: Murmann, 2016.

    Inhetveen, Katharina (2010): Der Flüchtling, in: Stephan Moebius/Markus Schroer (Hg.), Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 148-160.

    Kristeva, Julia (1990): Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

    Macho, Thomas (2011): Vorbilder. München: Fink.

    Reuter, Julia (2010): Der Fremde, in: Stephan Moebius/Markus Schroer (Hg.), Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 161-173.

    Simmel, Georg (1992): Exkurs über den Fremden, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908]. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 764-771.

    Stichweh, Rudolf (2010): Der Fremde. Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

    Wimmer, Michael (1997): Fremde, in: Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/Basel: Beltz, S. 1066-1078.
     

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Vorbild ist Formvorschrift, Muster und Modell, Entwurf und Ideal, „Formfragen replizieren auf vermutete und befürchtete Verluste: auf Ängste vor Formlosigkeit” (Macho 2011: 12), und je größer diese Ängste werden – zum Beispiel durch Modernisierungsprozesse –, desto mehr Formfragen stellen sich und desto mehr Formvorschriften tauchen auf. 


In der Ausstellung, die derzeit hier im Haus gezeigt wird, wird ein dreifaches Vorbild entworfen und behauptet: einerseits das Vorbild der berühmten Persönlichkeiten, andererseits das Vorbild der anerkannten Leistung beziehungsweise des Erfolgs und schließlich das Vorbild des Vereinten, womit wohl Gemeinschaftlichkeit gemeint ist. Letzteres wird als Symbol des Nichtextremistischen, Moderaten, Ausgleichenden verstanden: Gemeinschaftlichkeit und Extremismus schließen sich aus. Das mag richtig sein (obwohl man einen sehr spezifischen Begriff der Gemeinschaft braucht, um unberücksichtigt lassen zu können, wie hochgradig exklusiv und verschlossen Gemeinschaften stets sind). Richtig ist aber auch, dass die Rede vom Vereinten kaum glücklich gewählt ist, weil dieser Ausdruck ein schlagkräftiges, wehrhaftes Kollektiv bezeichnet (eine Kampftruppe): eine Gemeinschaft, die sich zum Zusammenhalt entschließt. Das tun nun bedauerlicherweise gerade die Rechtsextremen, und sie haben bekanntlich ganz eigene Vorbilder dafür. Diese vereinte Gemeinschaft könnte ohne Weiteres einen Faschismus beschreiben, der nun gerade kein Gegenbegriff des Extremismus wäre: Bei Extremismen geht es ja immer um Alles-oder-nichts-Positionen oder um Alles-oder-nichts-Ideologien, um Zuspitzungen und Verschärfungen, die keine Zwischentöne oder Unentschlossenheiten dulden – und einer der Klassiker dieser Ideologien sind eben Kollektivzusammenschlüsse, die ihre Mauern hochziehen und ihre Grenzen abschließen.

„Lauf in die rich­ti­ge Rich­tung!“ – Jan Fit­schen und Nor­bert Lam­mert – Fotografie, Gestaltung und Kozeption der Ausstellung: copyright studio kohlmeier berlin
„Lauf in die rich­ti­ge Rich­tung!“ – Jan Fit­schen und Nor­bert Lam­mert – Fotografie, Gestaltung und Kozeption der Ausstellung: copyright studio kohlmeier berlin

Ideologen der Schließung behaupten immer, niemanden mehr aufnehmen zu können, propagieren aber tatsächlich nur Ausschlüsse derer aus der Gemeinschaft, die zur vereinten Gemeinschaft nicht passen (und sei dies einfach deswegen nicht, weil sie abweichende Auffassungen vertreten und dadurch dem vereinten Gemeinsinn widersprechen). Es fällt dann leicht, Plakate zu malen und in die Kameras zu halten, auf denen die Erhängung der Bundeskanzlerin gefordert wird. Bei geschlossenen Grenzen ist niemand sicher, der diesseits der Mauern ist – niemand, nicht etwa nur der nicht, der „eigentlich“ nicht hineingehört, weil die Schließung der Grenze die Frage, wer denn „eigentlich“ dazugehört, zur Grundfrage jeder Identität macht. 


Wenn das, wie unsere Ausstellung es tut, verknüpft wird mit einer spezifisch modernen Leistungs- und Erfolgsethik, dann könnte leicht der Eindruck entstehen, Zugehörigkeit sei an Leistung und Erfolg geknüpft. Man muss das keine extremistische Position nennen und kann doch sehen, dass hier eine Mauer bereits hochgezogen worden ist. „Vereint“ sind offensichtlich erfolgreiche Leistungsträger, Prominente, und man mag zwar zugestehen, dass grundsätzlich jeder Leistungsbereite in diese Position der Prominenz durch Erfolg kommen kann – aber so recht einleuchten mag diese Annahme nicht, weil das, was wir alle miteinander teilen ja die Erfahrung des Misslingens, des Scheiterns, des Ungenügens ist. Wir sind gewappnet gegen extremistische Ideologien, wenn wir uns gegenseitig unsere Misserfolge und unser Ungenügen verzeihen, ohne uns deswegen (denn das wäre sogleich wieder extremistisch) dafür zu feiern und die Erfolgreichen anzuklagen. Da niemand gern über sein Ungenügen spricht, kommt es offenbar darauf an, den anderen anzuerkennen, ohne zu wissen, ob er erfolgreich und leistungsfähig ist oder nicht. Das heißt jedes Miteinander fußt auf einer Großzügigkeit des Nichtwissens. Im privaten Umgang nennt man es Takt, im politisch-öffentlichen Umgang nennt man es Toleranz (Goffman 1963: 84 spricht von „civil inattention”), in Gesellschaft nennt man es Menschlichkeit.
Damit sind wir bei unserem Thema. Ich werde zunächst über die Figur des Fremden und anschließend über die Figur des Flüchtlings sprechen.

Schon seit Beginn der Registratur von Zugehörigkeit im Zusammenhang mit der frühneuzeitlichen Staats- und Stadtbildung hält man die Tatsache, dass sich in einem definierten Gebiet sehr viel mehr Menschen aufhalten, als legale Plätze vorhanden sind, für einen Fehler, ja für ein Ordnungsversagen – für das allerdings die Überzähligen bezahlen müssen, weil sie nicht nur diskriminiert (also unterschieden), sondern auch diskreditiert (also abgewertet) und dann häufig auch vertrieben oder zwangsintegriert werden (in Gefängnissen, Arbeitshäusern usw.), wenn man nicht sogar in einer schon damals wenig überzeugenden Drohgebärde ihre Erschießung oder Erhängung fordert (vgl. Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 6: 471 für die Grafschaft Lippe 1770). Es ist dem politischen und rechtlichen Sachverstand immer klar, dass hier Toleranz – Duldsamkeit, Gelassenheit – erforderlich ist. 


Mit dem Begriff des Fremden wird deshalb nicht ein völlig unbekannter oder unbegreiflicher oder unvertrauter Mensch bezeichnet, sondern eine völlig unbekannte oder unbegreifliche oder unvertraute Lage – eine Lage, in die jedermann kommen kann. Es ist kein Zufall, dass Josef K. aus Kafkas Prozess eine Art Ideal- oder Prototyp des Fremden, nämlich des ausweglos Ausgelieferten und darüber Verzweifelnden geworden ist, es ist auch kein Zufall, dass diese Fremdheit mit Camus’ Meursault zu einer asozialen Gleichgültigkeit wird, einem tauben Fatalismus. Der Fremde ist ein zugleich Verzweifelter und Gleichgültiger, er ist jemand, der die moderne Welt bewohnt, eigentlich: in ihr haust, ohne ein Zuhause zu haben. (Wir werden noch sehen, dass das Einfluss auf den viel jüngeren Begriff des Flüchtlings hat, weil dieser Flüchtling an eine Heimat gebunden wird, die er verloren hat und die ihm zuerst durch eine zweite Heimat ersetzt und in die er dann aber bald einfach zurückgeschickt wird. Den Fremden kann man nirgendwo hinschicken, auch, weil man sich nicht zuverlässig von ihm unterscheiden kann – man ist es selbst. Den Flüchtling kann man als jemanden sehen, der verlassen hat, worauf man doch Wert legen sollte, das Zuhause, und deswegen kann man ihn schon aus disziplinarischen Gründen heimschicken. Man findet ihn im Grunde arrogant: Er scheint etwas aufs Spiel zu setzen, was man doch verteidigen müsste.

„Rechtsau­ßen die Ro­te Kar­te zei­gen!“ – Joa­chim Löw und Win­fried Kretsch­mann – Fotografie, Gestaltung und Kozeption der Ausstellung: copyright studio kohlmeier berlin
„Rechtsau­ßen die Ro­te Kar­te zei­gen!“ – Joa­chim Löw und Win­fried Kretsch­mann – Fotografie, Gestaltung und Kozeption der Ausstellung: copyright studio kohlmeier berlin

Vielleicht lohnt es sich, ein wenig weiter auszuholen (vgl. grundlegend Stichweh 2010 und zuletzt das Kursbuch 185) und ganz allgemein eine Unterscheidung zu treffen zwischen der Fremdheit und dem Fremden. Die Fremdheit meint etwas Unbestimmtes, vielleicht auch etwas Unbestimmbares, etwas Unvertrautes, nie ganz Verstehbares – also etwa (vgl. Wimmer 1997) das Heilige, das Böse, das Gespenst, das Wilde, das Animalische usw. Auch Vertrautes kann befremden, auch Bekanntes kann unverständlich werden, auch Heimat kann unheimlich werden – das ist wohl eine alltägliche Erfahrung, die jeder immer wieder macht.
Wenn dieses Unvertraute und Unheimliche auf menschliche Gestalten bezogen wird, erscheint der Fremde als einer, der aus der Ferne und von außen – peregrinus – kommt und als einer, der ungebunden – alienatus – bleibt: der Händler (vgl. Simmel 1992/1908 zur Genese von „dem Juden“), der Immigrant, der Ausländer, der Pilger, der Vagant („der Zigeuner“) usw. Gesellschaften, die keinen Begriff ihrer selbst haben, die keine Grenzen kennen beziehungsweise sich selbst mit der Welt identifizieren (die also selbst auch nie ihre Welt verlassen, nirgendwo hingehen, keine Erfahrung mit einem Außensein machen), haben deshalb auch keine Möglichkeit, sich Fremdheit vorzustellen oder Fremde als mögliche Formen der Anwesenheit ihrer Umwelt anzuerkennen. 


Wenn solche Vorstellungen und Weltbilder nicht mehr aufrecht erhalten werden können, tauchen Fremde und Fremdheitserfahrungen zwar auf, werden aber – ich habe es bereits erwähnt – in den verschiedensten Reinigungsprozeduren unterdrückt und beseitigt.

„Oh­ne Angst an­ders sein...“ – Ma­ti­an­ne Bug­gen­ha­gen und Wolf­gang Thier­se – Fotografie, Gestaltung und Kozeption der Ausstellung: copyright studio kohlmeier berlin
„Oh­ne Angst an­ders sein...“ – Ma­ti­an­ne Bug­gen­ha­gen und Wolf­gang Thier­se – Fotografie, Gestaltung und Kozeption der Ausstellung: copyright studio kohlmeier berlin

Hinzu kommen Gesellschaften, die eine Vielzahl an Positionen auszufüllen haben, für die ihre eigenen Ressourcen nicht ausreichen. Diese Gesellschaften öffnen sich dann für Fremde, die sie in sich tolerieren, solange sie eben die bezeichneten Positionen und Aufgaben ausfüllen und den Rahmen dieser Positionen und Aufgaben nicht verlassen (häufig siedelt man sie zwar diesseits der Grenzen, aber doch in Ghettos an). Man kann die Fremden dann mit diesen Positionen identifizieren und sie auf diese Weise immer noch sehr präzise von Einheimischen unterscheiden, die auch dann zugehörig bleiben, wenn sie keine Positionen innehaben. Zwischen den Einheimischen ohne Positionen und den Fremden in Positionen ist daher auch außerordentlich wenig Solidarität zu erwarten: viel geringere Solidarität als zwischen Einheimischen in Positionen und Fremden in Positionen, weil in diesem Fall die Positionalität selbst einen – wenn auch formalen – Zusammenhang stiftet. Fehlt sie, zeigt sich: Den Einheimischen verzeiht man in solchen Gesellschaften Müßiggang, Bettelei, Kriminalität. Man straft sie zwar, aber man straft in erzieherischer, integrierender Absicht. Den Fremden aber verzeiht man nichts. 


Zu den Positionen beziehungsweise Aufgaben, die Fremden übertragen werden, gehören bevorzugt solche, die Grenzübertritte erfordern, vor allem im Handel und auch im Kriegsdienst. Wer Grenzen übertritt, dessen Zugehörigkeit wird – weil er nun zugleich innen und außen ist – ambivalent, ungewiss, zweifelhaft, unheimlich, so dass zum Fremden wird, wer solche Aufgaben übernimmt: Der Fremde ist daher jemand, der nicht einfach „heute kommt und morgen geht”, sondern jemand, der „heute kommt und morgen bleibt” (Simmel 1992: 764). Das Misstrauen, das diese Lage auf sich zieht (Joachim Fischer hat mit Plessner von „exzentrischer Positionalität” gesprochen, Ulrich Beck 1996: 327 von „Ambivalenz als Existenz”), findet sich sehr genau in der Distanz, mit der bis heute zum Beispiel „Karrieristen“ begegnet wird. Diesem Misstrauen entgeht im Grunde niemand, der sich dem öffentlichen Erwerbsleben aussetzt. Je differenzierter eine solche Gesellschaft dann in ökonomischer, politischer, rechtlicher Hinsicht ist, je berufsorientierter die personalen Selbstverständnisse werden, desto komplexer wird das Problem der Fremdheit – es gibt dann keine Position mehr, die als solche zugleich „die Gesellschaft“ zugänglich hielte oder das Ganze eines Sozialzusammenhangs repräsentieren würde. Sämtliche Positionen sind Grenzsituationen, Zwischenräume; sämtliche Individuen werden zu Pendlern, zu „Grenzgestalten”, zu „Transmigranten” (Pries zit. Reuter 2010: 170). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist klar, dass jeder Berufstätige in einer derart spezialisierten Position ist, dass er als Person (in der Fülle seiner Individualität) in seiner eigenen Welt zu laufenden Grenzübertritten gezwungen ist – schon die private Umgebung ist so völlig anders als die berufliche, dass man im Grunde nicht mitteilen kann, was sich „auf der Arbeit“ abgespielt hat (weswegen wahrscheinlich auch jeder, der die Unmöglichkeit erfahren hat, sich mit den Unerträglichkeiten des Arbeitsalltags beziehungsweise umgekehrt des Familienalltags oder des Schulalltags am Abendbrottisch verständlich zu machen, weiß, was Fremdheit bedeutet). Man geht, wie Ferdinand Tönnies schrieb, „in die Gesellschaft wie in die Fremde”, man ist in seiner eigenen Welt überall fremd. Das heißt auch: „Fremde sind Hiesige”, sie sind „Nachbarn”, wir sind es selbst (Beck 1996: 326; vgl. Kristeva 1990).

„Ge­mein­sam den Ab­sprung schaf­fen“ – Tho­mas de Mai­ziè­re und Ca­ri­na Vogt – Fotografie, Gestaltung und Kozeption der Ausstellung: copyright studio kohlmeier berlin
„Ge­mein­sam den Ab­sprung schaf­fen“ – Tho­mas de Mai­ziè­re und Ca­ri­na Vogt – Fotografie, Gestaltung und Kozeption der Ausstellung: copyright studio kohlmeier berlin

In Gesellschaften, die sich nationalstaatlich organisieren, wird dieses Problem der Unterscheidung von Zugehörigkeit und Fremdheit nochmals radikalisiert. Zugehörigkeit wird faktisch zu einem Mitgliedschaftsrecht, auf das Fremde keinen Anspruch erheben, auf das sie sich allenfalls „bewerben“ können (wie der befremdliche Ausdruck „Asylbewerber“ zeigt) – Staatsbürger gebärden sich dann wie Personalmanager in betont sachorientierten, nämlich immer noch auf Positionalität und Aufgabendefinition fokussierten Auswahlverfahren. Da findet dann auch eine womöglich willkommene Externalisierung des doch längst alltäglichen Fremdseins statt auf jene, die man – weil sie kein Staatsbürgerrecht haben – zu Sündenböcken des eigenen Unbehagens machen kann. Ulrich Beck (der übrigens den Ausdruck „Asylant“ einen „neudeutschen Haßbegriff” nennt) hat dies schon vor 20 Jahren als „Distanzierung von Nahen durch Nahestehende” bezeichnet (Beck 1996: hier 335 und 320) und daran erinnert, dass dem nur zu begegnen ist durch ein „Europa der Individuen” (a.a.O.: 341), nicht ein Europa der Nationen. Denn als Individuen ist „uns allen“ das Problem der Fremdheit vertraut. „Wir müssen”, sagt Ulrich Beck mit Niklas Luhmann, „diesen Frosch küssen, auch wenn wir nicht wissen, ob er sich dadurch in einen Prinz verwandeln wird” (a.a.O.: 342, zit. Luhmann).

Worin liegt nun, wenn man all dies bedenkt, die besondere Situation des Flüchtlings? Er ist ja, wenn man so will, derjenige, von dem jeder weiß, dass er ein Frosch und kein Prinz ist und auch keiner werden wird, und den deshalb niemand will beziehungsweise den jedermann in seinen Brunnen zurückwerfen will. Er befremdet nicht nur, er erschreckt auch, weil er – und das ist meine These für diesen Vortrag – nichts vergegenwärtigt als Verlorenheit und Bedrohung – und in einer Gesellschaft der einander Fremden (also unserer Gesellschaft, ich habe das darzustellen versucht) vergegenwärtigt er die schiere Verlustangst. Ihm ist widerfahren, was uns noch nicht widerfahren ist, und man möchte ihm ausweichen, wie man (auch das eine Erfahrung, die wohl jeder teilt) Trauernden ausweicht. Man möchte sie nicht sehen, diese Angst, man möchte sie nicht im Haus haben – und dies umso weniger, als ja mehr oder weniger klar ist, dass niemand – auch wir nicht – durch die Erfahrungen, die der Flüchtling gemacht hat und die uns bevorstehen könnten, zu einem vertrauensvollen, zugewandten, integrationsbereiten Menschen wird. Verlust macht nicht nett (auch Trauernde ja nicht: Sie leiden, aber sie sind keine Schafe). Existenzangst, nackte Prekarität macht wild. Was wir unter uns als Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit sehen, als häufig ja sehr gutbürgerliche Wut, als hochgebildeten und wohlanständigen Hass (wer hätte gedacht, welche Richtung die Empörung nehmen würde, zu der Stéphane Hessels Indignez-vouz-Aufruf die bürgerliche Welt aufgefordert hatte, ein Aufruf, der doch eine „Résistance gegen rechts“ im Sinn hatte?), ist genau diese wilde, prekäre Aggressivität von Leuten, die sich vor einer Lage fürchten, in der sie nichts zu verlieren haben würden: der Lage des Flüchtlings. Diese Aggressivität will ihn beseitigen, als sei er nicht das Sinnbild des Verlusts, sondern die Ursache des Verlusts.

„Viel­falt be­rei­chert.“ – Ge­rald Asa­moah und Her­mann Ot­to Solms – Fotografie, Gestaltung und Kozeption der Ausstellung: copyright studio kohlmeier berlin
„Viel­falt be­rei­chert.“ – Ge­rald Asa­moah und Her­mann Ot­to Solms – Fotografie, Gestaltung und Kozeption der Ausstellung: copyright studio kohlmeier berlin

Wer also ist der Flüchtling? Es muss um eine besondere Form der Fremdheit gehen, und sei dies nur deshalb, weil der Ausdruck Flüchtling nicht nur einen seltsamen Diminutiv bezeichnet, eine Verkleinerung, die ihn irgendwie auf Unselbständigkeit und Bedürftigkeit festlegt (dadurch wird ganz deutlich die Bedrohlichkeit, die er ausstrahlt, gebändigt), sondern auch eine merkwürdige Gerichtetheit, die sich von der ambivalenten Existenz, dem prekären Dasein des Fremden und dessen Gegenwärtigkeit unterscheidet. Ein Flüchtling befindet sich immer zwischen Vergangenheit und Zukunft, aber er verfügt weder über die Vergangenheit – denn aus dieser flieht er – noch über die Zukunft – denn diese kennt er nicht und kann er nicht kennen, weil er sie dazu von der Vergangenheit unterscheiden müsste, die ihm ja aber gerade entzogen ist. Der Flüchtling ist die Sozialfigur des Verlustes und der Sinnlosigkeit, während der Fremde sich mit der Ambivalenz seiner Existenz irgendwie abfinden und sich in ihr sogar (wie jeder moderne Mensch) ganz gut einrichten kann, ist das dem Flüchtling unmöglich. Er befindet sich in einem Niemandsland, einer „Nicht-Identität” (Beck 1996: 341), in schierer Negativität.


Was die Erfahrung des Verlustes und der Sinnlosigkeit angeht, die der Flüchtling verkörpert, muss man sich den wesentlichen Punkt klarmachen, der ihn vom Fremden trennt. Der Fremde – ich habe es zu zeigen versucht – ist modernes Individuum. Er hat eine Position, und er hat sie zwar nicht sicher – aber nicht sicher heißt: er kann sie wechseln, ohne dadurch vollkommen seine Sozialität einzubüßen. Die Indifferenz der Herkunft, die die moderne Gesellschaft konstituiert, heißt ja nicht, dass der Einzelne keine Herkunft hat, und sie heißt auch nicht, dass er seine Herkunft ganz aufgeben oder verbergen muss, sondern sie heißt, dass er über diese Herkunft disponieren kann, ja sogar, dass von ihm erwartet wird, dass er das tut. Man kann vom Tellerwäscher zum Millionär werden, man kann als Bauernsohn Studienrat werden, man kann aus einer Ingenieursfamilie kommen und als freier Künstler leben, man kann ein Mädchen sein und nicht heiraten. Schon wer dieses Disponieren über die eigene Herkunft – denn genau das ist der Leistungswille, von dem ich eingangs gesprochen habe – vermeidet, steht sozial unter Verdacht (und vermeiden ist ja bereits eine Fluchtmetapher). Aber wer seine Herkunft verliert, kann nicht disponieren, selbst dann nicht, wenn er dazu bereit wäre. Er konnte es, solange er kein Flüchtiger war – denn solange er dies nicht war, war er ein moderner Mensch, ein modernes Individuum. Jetzt kann er es nicht mehr. Er verliert mit dem Zuhause seine Biographie, er verliert mit der Heimat seine Kultur, er verliert seinen Sinn. Er ist kein Individuum mehr, er ist ein Nichts.

„An­pfiff für To­le­ranz“ – Ste­phan Weil und Bi­bia­na Stein­haus – Fotografie, Gestaltung und Kozeption der Ausstellung: copyright studio kohlmeier berlin
„An­pfiff für To­le­ranz“ – Ste­phan Weil und Bi­bia­na Stein­haus – Fotografie, Gestaltung und Kozeption der Ausstellung: copyright studio kohlmeier berlin

In Deutschland war dieses Problem lange Zeit verknüpft mit der Erfahrung der Vertreibung, und den vertriebenen Flüchtlingen konnte lange Zeit eine Schuldlosigkeit zugestanden werden, die es erleichtert hat, mit ihnen zu leben (dennoch ist die Integration der Vertriebenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu 20 Prozent der Bevölkerung ausgemacht haben, keineswegs sogleich und keineswegs ohne Feindseligkeit gelungen wie erst neuere Forschungen endlich deutlich machen – vgl. nur Hohenester/Gerhardt 2000). Das Vertriebenengesetz von 1952 unterscheidet Vertriebene, die aus dem Gebiet jenseits von Oder und Neiße kamen, von Flüchtlingen, die aus dem Gebiet zwischen Elbe und Oder/Neiße kamen. Flüchtlinge waren dann Friedensopfer, während Vertriebene Kriegsopfer waren (auf Menschen außerhalb des deutschsprachigen Raumes ist diese Unterscheidung von Anfang an nicht angewandt worden, die Bereitschaft, Vertriebene oder politische Flüchtlinge aus anderen, etwa südlichen Regionen Europas und der Welt aufzunehmen, war stets sehr viel geringer, ja verschwindend gering). Für beide deutschen Gruppen – aber vor allem für Vertriebene – galt, dass sie ihre Integration, soweit sie gelang, mit einem sozialen Abstieg bezahlt haben. Für beide galt aber auch, dass ihre Integration insofern als notwendig angesehen wurde, als sie keine Heimat mehr hatten beziehungsweise nicht zurückgehen konnten. Sie würden bleiben, sie waren also Fremde, aber nicht mehr Flüchtlinge. Beide konnten als Angehörige der einheimischen Kultur gesehen werden, aber weil der Status- und Wohlstandsverlust der Vertriebenen unter den gegebenen Bedingungen allgemeiner Knappheit, also allgemeiner Rivalität für zumutbar gehalten wurde (sie waren eben Opfer), konnte und musste ihre Integration über eine kulturelle Identifikation laufen, während die Flüchtlinge bereits als Fremde gesehen wurden, deren Integration nur über Statuszuweisung laufen konnte (sie sollten Tüchtige sein, ja sogar – weil sie zu Agenten des Kalten Krieges wurden – Helden, die dem Sozialismus die Stirn geboten und sich ihm nicht geopfert hatten). Vertriebene wurden also eher als arme Verwandte aufgenommen, Flüchtlinge – solange sie Leistungserwartungen erfüllten – eher als erwerbstätige Fremde integriert.

„Nicht ab­tau­chen!“ – Kirs­ten Bruhn und Tors­ten Al­big – Fotografie, Gestaltung und Kozeption der Ausstellung: copyright studio kohlmeier berlin
„Nicht ab­tau­chen!“ – Kirs­ten Bruhn und Tors­ten Al­big – Fotografie, Gestaltung und Kozeption der Ausstellung: copyright studio kohlmeier berlin

Man kann sich fragen, welche Integrationsmuster heute zur Verfügung stehen, wenn angesichts konfessioneller und sprachlicher Differenzen weder die Kulturintegration noch angesichts von Bildungsdifferenzen die Statusintegration möglich scheint. Man muss nicht soweit gehen, auf einem Gelände wie dem hiesigen Containerdorf die Kleinkinder zwischen Mülltonnen auf bloßer Erde spielen zu lassen und zugleich beim Wein im Wintergarten einen Schauder bei den Bildern aus Idomeni zu verspüren. Für Kinder dürfte die Alternative von Kultur- und/oder Statusintegration nicht zwingend sein. Aber für die Übrigen?


Tatsächlich hat es die europäische Kultur bisher nicht vermocht, hier Antworten zu finden, die über einige wenige hinausgehen: entweder die Flüchtlinge zu verniedlichen und ihr Elend zu betonen, sie also auf ihr Elend zu verpflichten, um ihnen – unter dieser Bedingung – helfen zu können, am besten durch bloße Zahlungen an Organisationen, die mittels Bildern von „madonnengleichen Müttern mit kleinen Kindern” (vgl. Inhetveen 2010: 152) akquirieren, oder die Flüchtlinge zu dramatisieren und zu kriminalisieren und als gerissene, betrügerische junge Männer (also eigentlich Halbstarke) darzustellen, die sich Zigarettengeld und Liebschaften erschleichen, eigentlich aber zu Hause sein, arbeiten und sich um ihre Familie sorgen sollten, und schließlich die schiere Masse namenloser Menschen, die als bloße Körper wie Sachen in Haufen irgendwo gelagert werden müssen und als Infektionsherde begriffen werden, die es aus hygienischen Gründen zu isolieren gilt. Die Hilfe erstreckt sich europaweit auf Versuche, dieser unerträglichen Lage zumindest die Mütter und die Tüchtigen zu entreißen. Aber alle Flüchtlinge, gleich in welcher Gestalt, werden jetzt „mit einer konstitutiven Heimatverbundenheit ausgestattet” (a.a.O.: 157), es gilt „als die Natur des Flüchtlings, dass er nach Hause zurückkehren will” (ebd.). In den 1950er-Jahren wusste man, wie gesagt, noch, dass das eine unmögliche Unterstellung ist, weil es diese Herkunft, dieses wartende Zuhause, nicht mehr gibt. Die verlorene Heimat wird als zumutbare Adresse ausgegeben, an die die Flüchtigen zurückzuschicken sind, man schickt sie hinter die Grenze und stellt sie dort an den Rand einer Wüste mit der märchenhaften Auskunft: Von hier aus findest du allein weiter. Die Sinnlosigkeits- und Verlusterfahrung, die die Flucht ausmacht, wird negiert, als wäre sie dadurch geheilt. Vielleicht kann sie tatsächlich nie geheilt werden. Aber möglich ist es doch, mit Menschen zu leben, die heute kommen und morgen vielleicht gehen, vielleicht bleiben. Wie wir alle.

Zum Weiterlesen: Die Literatur zum Vortrag


Titelbild: 
| Justiz-online / Justizportal Nordrhein-Westfalen (Pressebilder


Bilder im Text (jeweils): 

| Fotografie, Gestaltung und Kozeption der Ausstellung: copyright studio kohlmeier berlin


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Maren Lehmann

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm 

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