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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an der Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidet er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Im Rückblick von heute bin ich beeindruckt von der Erinnerung, dass selbst die frühen Spuren des damals neuen Europa in meinem Leben eigentümlich blass geblieben waren. Der Lehrer aus dem ersten Gymnasialjahr (1958/59), an den ich mich am deutlichsten erinnere, gehörte zu der großen Zahl ethnisch und kulturell deutscher „Flüchtlinge” aus Osteuropa in meiner Heimatstadt und war überzeugt, in den christdemokratischen Parteien einen institutionellen und ideologischen Rahmen für seine gut gemeinten Beiträge zur Erneuerung Deutschlands gefunden zu haben. Deshalb gestaltete er die nicht weniger als sechs Lateinstunden pro Woche (Samstag war noch ein Schultag) als eine eigentümliche Mischung aus Sprachunterricht und „Sozialkunde“, deren zentraler Konvergenzpunkt die Römische Republik war. Unter seinen begeisterten Assoziationen zwischen der lateinischen Sprache, dem frühen Rom und den durch diese Stadt inspirierten europäischen Hoffnungen trat wohl manchmal die historische Tatsache zu sehr in den Hintergrund, dass dem Reich Karls des Großen – als schon damals offizieller Matrix der europäischen Gemeinsamkeit – ein antikes Kaisertum vorausgegangen war, auf das sich Karl bei seiner Kaiserkrönung im Jahr 800 selbstverständlich bezogen hatte. Vor allem aber bot das frühmittelalterliche Reich nur wenig Identifikationsprofil für uns Elfjährige, so wie auch sein Herrscher trotz aller zeitgenössischen Beschreibungen und Berichte, die wir ins Deutsche zu übersetzen begannen, eigentümlich gesichtslos blieb.
Das letzte Jahr vor meinem Abitur hingegen wurde zu einer intensiven europäischen Erfahrung ganz ohne abstrakte Begriffe und pädagogische Konzepte. Mein Vater hatte mit einer Familie aus Paris, die er eher zufällig kennengelernt hatte, einen „Austausch“ zwischen den zwei 18-jährigen Söhnen vereinbart – und beiden Schulen war der Plan recht (so einfach war das vor der Emergenz einer europäischen Kulturbürokratie!). So wurden Frankreich und seine Hauptstadt für mich über Nacht zur Verdichtung all dessen, was ich in Deutschland vermisst hatte, ohne es zu wissen. An die Stelle unseres ganz auf die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) konzentrierten (also gar nicht uninteressanten) Religionsunterrichts im Freistaat Bayern traten „Philosophie“ als Schulfach und ein betagter Lehrer aus dem Elsass, der mir (wohl einfach wegen meines elsässischen Familiennamens) zutraute, Meinungen über die gelesen Texte zu haben und sie auf Französisch artikulieren zu können. Unser Geschichts- und Geographielehrer am Lycée Henri IV. wies mit Stolz und beständig darauf hin, Mitglied der Kommunistischen Partei zu sein, und stellte uns eine Welt in unaufhaltsamen Fortschritt zur „klassenlosen Gesellschaft“ vor. Und meine Gasteltern waren kalvinistische Bildungsbürger, die nichts mehr schätzten als Debatten zwischen divergierenden politischen und kulturellen Positionen.
Ich kehrte nach Würzburg zurück und begann bald mein Studium in München mit dem heroischen, aber damals für meine Generation gerade in Mode kommenden Selbstanspruch, ein Fußsoldat (und vielleicht eines Tages sogar ein Offizier) des sozialistischen Fortschritts zu werden. Dies genau war der Grund, warum ich mich für Salamanca entschied, als ein Stipendium für ein Studienjahr die Wahl zwischen der ältesten spanischen Universitätsstadt, Oxford, Paris oder Pavia eröffnete. Spanien musste es sein, weil ich glaubte, das Proletariat dieses Landes bedürfe meiner Unterstützung im Kampf gegen den orthodox-katholischen Militärdiktator Francisco Franco. Doch auch die Zeit in Salamanca entwickelte sich ganz anders als erwartet oder geplant. Gerade wegen ihrer deutlichen christlichen Akzente faszinierte mich schon bald die kastilische Literatur – und ich fühlte mich so wohl in jenem Land ohne demokratisch-politische Freiheiten, dass es mir am Ende wirklich schwer fiel, nach Deutschland zurückzukehren, obwohl die Revolution ausgeblieben war.
Das „Vaterland Europa“ als politisches Projekt (im Singular) schien jedenfalls die Blässe des mit Karl dem Großen verbundenen Europa-Bildes geerbt zu haben – und darüber hinaus hat es wohl auch die Einheitswilligkeit und Einigungsfähigkeit vieler Mitgliedernationen überfordert. Abstraktheit und der aus ihr folgende Mangel an Leidenschaft beschwören wohl bis heute die permanenten Austrittsdrohungen herauf, welche auch dann Europa an die Substanz gehen, wenn es im Einzelfall und am Ende gar nicht zu einer Abspaltung kommt. Vielleicht hat auch die frühe – und so überaus erfolgreiche – Phase Europas als „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) den Einigungswillen allzu ausschließlich auf wirtschaftliche und innenpolitische Konsenspotentiale gelenkt, obwohl gerade diese beiden Dimensionen schon früh ausgereizt gewesen sein mögen. Mangels politischen Widerstandes (und paradoxerweise) ist die europäische Einheit ausgerechnet in jenem institutionellen Rahmen durchgesetzt worden, wo ihre Auswirkungen und der sie ermöglichende Konsens als Vorbedingung für Europa nur abträglich sein konnten. Ich beziehe mich auf die „Bologna-Prozess“ genannte wechselseitige Angleichung von nationalen Bildungs- und Ausbildungssystemen. Sie hat die schwächeren europäischen Universitätslandschaften nicht verbessert, aber den stärkeren durchaus geschadet – vor allem drohen die Folgen von „Bologna“ genau das zu zerstören, was schon immer der Hauptgrund für Europas unheimliche Stärke gewesen ist, nämlich seine spannungsvolle Pluralität von kulturellen und sprachlichen Differenzen auf engstem Raum.
Ist dieses unter nicht wenigen Perspektiven gescheiterte „Vaterland Europa“ noch zu retten? Die üblichen Bescheidenheits- und Banalitätsverpflichtungen von Antworten wie „das müssen Berufenere beurteilen“ oder „die Zukunft wird uns lehren“ möchte ich mit der Bemerkung (oder gar These) einklammern und verschieben, dass die europäischen Politiker sich zu oft geirrt haben bei der Wahl jener Ebenen, auf denen sie die Verwirklichung kontinentaler Einheit anvisierten. Denn wenn auf der einen Seite die wirtschaftlichen und innenpolitischen Konsensmöglichkeiten ausgeschöpft sein sollten, so sind auf der anderen wohl gewisse Einigungspotentiale noch nicht entschieden genug verfolgt worden. Angesichts der gegenwärtigen welt- und kulturpolitischen Lage etwa könnte ein aktives gemeineuropäisches Engagement für den bedingungslosen Schutz von individueller Freiheit und Privatheit – illustriert durch Initiativen des Europäischen Gerichtshofes (etwa zur Einrichtung der Homosexuellen-Ehe als gemeineuropäischer Institution) – der Konvergenz eine neue Dynamik geben. Schon deshalb, wie man mit einer Prise von politischem Zynismus (oder Realismus) anmerken kann, weil es für Politiker fast aller europäischen Nationen heute problematisch wäre, sich Forderungen dieser Art zu entziehen.
Mit einer emphatischen Festlegung auf Individualität und Privatheit würde Europa darüber hinaus auch auf der politischen Landkarte unserer Zeit zwischen dem chinesischen Kapitalismus ohne Öffentlichkeit, den aggressiven bis terrorostischen Formen des Islamismus, dem Populismus von Putins Russland und dem nicht sozialdemokratisch gebremsten Kapitalismus der Vereinigten Staaten endlich eine markante Position einnehmen – statt sich in unendlichen Bemühungen um Fremd-Verstehen und Selbst-Relativierung aufzulösen. Daraus könnte ein außenpolitisches Programm der Europäischen Union entstehen, wie es bisher noch nie existiert hat — obwohl zu diesem aufgrund geteilter Lebensformen vielleicht ein größeres Potential der Einigung gehört als zu den bisher stets betonten wirtschaftlichen und innenpolitischen Bereichen. Als Provokation für die zunehmend pazifistische Stimmung in Europa sollte man allerdings hinzufügen, dass es in der Konsequenz einer solchen Bewegung läge, sich entschlossener als bisher an der Organisation und Finanzierung jener Militärpräsenz zu beteiligen, auf die der Kontinent mehr denn je angesichts verschiedener östlicher Bedrohungen angewiesen ist.
Was schließlich Kultur- und Bildungspolitik angeht, so hat der Fehlschlag von „Bologna“ mit paradoxer Deutlichkeit gezeigt, welcher Typ von Maßnahmen umgekehrt neue Dynamiken der Produktivität auslösen könnte. Statt Nivellierung auf allen Ebenen in Bewegung zu setzen, sollte sich der europäische Geist ausgerechnet an einer Struktur wie der Champions League orientieren. Denn gerade als Wettbewerb ist die Champions League ja zu einer Feier der singulären Stärke des europäischen Fußballs in der Form seiner Differenzierung geworden. Der damit verbundene Leistungsdruck könnte kulturelle Institutionen, einschließlich der Wissenschaft, die sich nicht nur an Nivellierung, sondern auch an Gleichheitsschlüssel bei der Verteilung europäischer Finanzmittel gewöhnt haben, zu neuem Leben erwecken. Erst dann verhielten sich die auch intern allzu konformen nationalen Bildungssysteme Europas wie Spitzen-Universitäten in den Vereinigten Staaten, die permanent miteinander um die international besten Professoren und vor allem Studierende kämpfen — und daraus langfristig ihre Stärke beziehen.
Am Ende einer solchen Argumentation, die sich wohl mit einer langen Reihe weiterer Umdisponierungsvorschläge fortsetzen ließe, muss die Erinnerung stehen, dass es keinen (im wörtlichen Sinn) transzendentalen Grund zur Rettung des „Projekts Europas“ gibt. Mit ihm verbundene Vorteile und Nachteile auf individueller wie kollektiver Ebene sind den Europäern durchaus bewusst. Sollte sich also die Waage in den kommenden Jahren immer weiter zur negativen Seite neigen, dann darf eine Rücknahme gemeineuropäischer Strukturen nicht verboten sein. Denn sie könnten ja der sehr spezifische Traum jener vom Zweiten Weltkrieg und seinem Ausgang geprägten Generation gewesen sein, die sich bald überlebt haben wird. Ein solcher Gedanke hat nicht notwendig mit den politischen Positionen zu tun, die man als „nationalistisch“ und deshalb immer noch als „Rechts“ identifiziert. Einmal abgesehen davon, dass störrisches Festhalten an der Rechts-Links-Unterscheidung längst schon zum Symptom für ermattetes Denken geworden ist.
Titelbild:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm