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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an der Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidet er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Dass ausgerechnet jene Technologie, welche die Relevanz des Raumes für unsere Kommunikation eingeklammert hat (und deren Angestellte problemlos in Entfernungen von vielen Tausend Kilometern zusammenarbeiten können), dass ausgerechnet die elektronische Technologie in ihren verschiedenen Sparten an einen geographischen Ort gebunden bleibt, so, als ob sie von einem Rohstoff abhinge, den es nur in Silicon Valley gibt, gehört zu den wirklich merkwürdigen und zugleich am wenigstens erwähnten Tatsachen unserer Gegenwart. Welche Notwendigkeit zum Beispiel bewegte den schon längst zum Milliardär gewordenen Ostküsten-Nerd Mark Zuckerberg dazu, aus Massachusetts nach Nordkalifornien zu ziehen? Warum lassen russische Oligarchen schwindelerregende Summen springen, um über eine Lobby zwischen San José und San Francisco zu verfügen? Eine erste Antwort mag allzu beeindruckt von ihrer eigenen Tautologie und Paradoxie wirken: Gerade weil sich Silicon Valley an so vielen anderen Orten des Planeten hätte ereignen können, entstand dort eine Dynamik der Affirmation, welche den in der Retrospektive dominierenden Eindruck des Zufalls mittlerweile zu einem irrversiblen Faktum gemacht hat. Anders gesagt: Je beliebiger ein Ort ist, an dem Spezialisten mit komplementären Profilen auf engstem Raum zusammenkommen, desto größer und unvermeidlicher wird dessen Attraktivität für ihre Kollegen und Nachfolger.
Man glaubt in Silicon Valley die Innovationsenergie tatsächlich physisch zu spüren, jene nie aussetzende Überproduktion von ganz neuen Projekten, und auch die Bereitschaft, ihnen finanzielle Unterstützung gerade dann zu gewähren, wenn sie allzu exzentrisch wirken — selbst das sich meist bewährende Augenmaß, exzentrische Ansätze schnell und beinahe schmerzlos zu „terminieren“, wenn íhr ursprüngliches Erfolgsversprechen plötzlich verblasst. So etwa muss der heute entweder neidvoll oder voller Bewunderung beständig heraufbeschworene „Geist von Silicon Valley“ funktionieren, zu dessen Stärke aus europäischer Wohlfahrtsstaat-Perspektive auch anscheinend infantile und sozial verantwortunglose Züge gehören.
Im Blick auf die Herkunft der Protagonisten und ihres Fußvolkes ist diese Region in einem kaum überbietbaren Grad kosmopolitisch, während es sich andererseits kaum vermeiden lässt, für ihren Lebensstil das Wort „suburban“ zu gebrauchen, das jeder auch nur halbwegs gebildete Amerikaner für den Gegenbegriff von gutem Stil hält. Gar nichts ist im Rahmen der übergreifenden Suburbanität spezifisch an den 50.000 bis 100.000 Bewohner-Gemeinden entlang der westlichen Bay von San Francisco, etwa Sunnyvale, Mountain View, Palo Alto oder Redwood City. Der Gebäudekomplex von Google könnte, was Lage und Architektur angeht, auch zu einer kleinen Versicherungsgesellschaft in Connecticut oder einem Altersheim in Illinois gehören. Nur die Mieten sind über das vergangene Jahrzehnt exponentiell gestiegen — und steigen weiter. Derzeit muss man über 5.000 Dollar pro Monat für ein einzelnes Zimmer mit Bad und das Privileg investieren, „nicht weiter als eine Meile von Google entfernt“ zu wohnen. Solche Preise oder gar den Erwerb von Immobilien können sich nur Mitglieder der neuen elektonischen Klasse erlauben – was die Dienstleister aus ihren Wohnungen in Silicon Valley vertreibt und verpflichtet, täglich mehrere Wegstunden zu und von der Arbeit auf sich zu nehmen. Zugleich ist in dieser früheren Welt von McDonalds und sehr elementarer chinesischer Küche nun auch eine Restaurantkultur im Entstehen, deren talentierte Chefs sich schnell den ersten Michelin-Stern erkochen und deren Manager wissen, dass ihre (im harmlos-wörtlichen Sinn) neureiche Kundschaft einen Lebensstil erlernen will, ohne sich belehrt fühlen zu müssen – und vor allem ohne zwischen Appetizer und Dessert mehr als 70 Minuten am selben Tisch zu sitzen. Der Beginn einer post-bürgerlichen Lebensform?
What´s next in Silicon Valley? Antwort auf diese lokal allerwichtigste und nachhaltige Frage ist jene Energie, die aus dem Paradox einer Konvergenz zwischen zwei widersprüchlichen Bewegungen entsteht. Der kollektiv-individuelle Innovationswille schreibt einerseits vor, nie jene Trends zu versäumen, die andere initiiert haben und denen mittlerweile alle Welt folgt, doch andererseits gibt es auch den grenzenlosen Ehrgeiz, die eine, alles Vorherige hinter sich lassende Intuition zu haben. Ganz Silicon Valley ist auf diesen zeitlich engen Rand zwischen Trends und ihrer jeweiligen Aufhebung konzentriert, während man von langfristiger Planung oder gar von Unternehmensentwicklung kaum je hört. An die fast verzweifelte Antwortverweigerung einer Top-Managerin von Google angesichts der Frage, ob sie pro Jahr für Studierende der Stanford University fünf Stellen garantieren könne, kann ich mich noch gut erinnern – nachdem sie gerade Tausende von Talenten erwähnt hatte, die Google angeblich weltweit pro Woche fehlen.
Zu der doppelten Innovationslinie und dieser Absenz langfristiger Visionen passt es, dass Silicon Valley keinesfalls einer ausschließlich linearen Logik der Entwicklung elektronischer Technologie folgt. Wäre dies der Fall, dann gäbe es dort heute allein die Arbeit an „Artficial Intelligence“, an Programmen und Maschinen, die zu Agenten ihrer eigenen fortschreitenden Anpasssung an ganz verschiedene Umwelten und ihrer eigenen Leistungsmaximierung werden. Doch zugleich gibt es ja die Faszination der selbstfahrenden Autos, von denen man in Silicon Valley überall staatlich lizensierte Erlkönige sieht, und die plötzlich Google und auch Apple ebenso intensiv beschäftigt wie schon seit langem Tesla, den großen lokalen Produzenten elektrisch-elektronischer Autos; oder die neuen, im Preis drastisch reduzierten Solarzellen; oder das aus der Science-Fiction-Tradition herausgeschnittene Bild von einer zukünftigen Menschensiedlung auf dem Mars. Keine Idee kann in Silicon Valley nicht zu einem Produkt werden, einschließlich des alle Anforderungen des Veganen erfüllenden „Kunst-Fleisches“, dessen Geruch unwiderstehlich ist — und das meinen Nachbarn schon in den ersten Wochen seiner Kommerzialisierung zum Multimillionär gemacht hat.
Was hält Silicon Valley in Bewegung? Unter Intellektuellen klassisch-westlichen Schlags dominiert eine ebenfalls klassische – genauer: marxistisch-klassische – Meinung zu dieser Frage. Die Fäden ziehen „SIE“, hörte ich neulich, „SIE“, die offenbar gesichtslosen Zyniker und Egozentriker, welche Milliardengewinne dafür einstreichen, dass sie mittels einer gesetzlich nicht eingedämmten Piraterie von riesigen Datenmengen ein wachsendes Potenzial der Kontrolle über „UNS“, die ebenso inkompetenten wie angeblich unschuldigen Opfer ihrer Manipulationen, gewinnen. Doch stehen derartige Verschwörungstheorien nicht im Widerspruch zu dem Gestus der ganz großen Elektronikprotagonisten wie Bill Gates oder eben Mark Zuckerberg, die Beinahe-Totalität ihres Vermögens in philanthropische Projekte zu investieren – etwa in die Entwicklung neuer Formen von Bildung und Ausbildung oder in die intensive Forschung zur Eliminierung tödlicher Kinderkrankheiten? Ich weiß, es sieht naiv aus, beinahe schon wie ein Akt des Verrats an der jahrhundertelang hochgehaltenen Tradition intellektueller Paranoia, an den schlechten (oder zumindest stets auf Steuerersparnis ausgerichteten) Absichten der neuen Oligarchen zu zweifeln. Aber wer könnte denn ohne Weiteres die Vermutung widerlegen, dass eine ihrer Hauptmotivationen in der Freude der Möglichkeit liegt, andere Menschen zu beschenken?
Donald Trump hat bisher nur wenige Einwohner von Silicon Valley begeistert. Das mag mit einer stilistischen Diskrepanz zu tun haben, mit einer Diskrepanz zwischen der schweren Haarmähne des kommenden Präsidenten und der Tendenz von Silicon Valley zum natürlich Jeans- und sogar Hoodies-tragenden Understatement. Trump hat den Staat erobert, um ihm eine radikale Schrumpfkur angedeihen zu lassen. Am weitest denkbaren Zukunftshorizont der Silicon Valley-Welt hingegen steht eher ein Traum von der gänzlichen Aufhebung des Staates (jetzt schon!) durch opulente private Spenden – und eines Tages vielleicht auch durch private Korporationen, welche Staatsfunktionen übernehmen und damit erheblich verdienen sollen. Die aus logischen Gründen fast unvermeidliche Neigung von Silicon Valley im Spektrum der Positionen amerikanischer Politik gehört deshalb dem „Liberitarianism“ als einer, wenn dieses Wort überhaupt noch eine Bedeutung haben kann, soziologisch gesehen „konservativen“ Version der anarchistischen Träume aus dem 19. Jahrhundert vom einem Leben ohne Staat. Aber Donald Trump und Silicon Valley werden sich mit ihren verschiedenen Visionen von der Zukunft des Staates und der Freiheit — aus sachlichen Gründen — wohl kaum in die Quere kommen. Denn könnten die Vereinigten Staaten heute überhaupt weiter existieren, ohne die Wirtschaftskraft und Erfinderenergie von Silicon Valley zu pflegen und zu steigern?
Zwei meiner ehemaligen Studierenden, die im vergangenen Jahr einen Doktortitel erworben haben, nehmen gerade in Stanford an einem Umschulungsprogramm teil, das jung promovierten Geisteswissenschaftlern innerhalb von 18 Monaten zu einem weiteren Master und der Fähigkeit verhelfen soll, elementare Lehrveranstaltungen im Fach „Computer Science“ zu übernehmen. Sie beide berichten von einer kaum zu überbrückenden Praxis- und Kompetenzlücke zwischen den Generationen, genauer: von einer Lücke im Verhältnis zwischen den elektronischen Fähigkeiten meiner ehemaligen Doktoranden und denen der fünf bis zehn Jahre jüngeren Undergraduates. Eine der wöchentlichen „Hausaufgaben“ in den Einführungskursen, höre ich immer wieder, kann je nach Intuitionsqualität des ersten Lösungsansatzes zwischen 6 Minuten und 60 Stunden in Anspruch nehmen. Den älteren Kursteilnehmern ist mittlerweile klar, dass sie in den allermeisten Fällen den entlastenden Weg der Lösungsabkürzung nicht finden – und sie nehmen das mit der Gewissheit hin, nie zu ihren jüngeren Kollegen aufschließen zu können, die in derselben Proportion die schnellen Wege der Bearbeitung beschreiten.
Was diese nächste Generation von „Electronic Natives“ auf der bis heute schon erarbeiteten Matrix von „Artificial Intelligence“ leisten, überbietet wohl den Horiziont unserer und selbst ihrer eigenen Imagination. Es soll beim Schreiben von Codes vor allem darum gehen, die mathematischen Konsequenzen jener ersten Intuition, der man vertraut, so weit als möglich zu verkörpern — oder zumindest: sich von ihr ausgehend einem freien Prozess der Imagination zu überlassen. In diesem Kontext offenbar setzt die jüngste Generation von College-Studierenden auf Philosophie – von der Struktur ihrer Studien her gesehen oft über die Form eines „Minor“, das heißt eines Nebenschwerpunkts. Das Philosophieren hat für sie freilich nicht den Freizeit-artigen Status eines „Hobbys“ oder eines „Ausgleichs“, sondern scheint wegen jener spezifischen Denkkonfiguration zwischen scharfer Konzentration und Gelassenheit wichtig, die sie einüben können, indem sie sich der Komplexität philosophischer Texte aussetzen – und dabei auch deren Inhalte auf immer höhere Ebenen von Komplexität treiben. Eine andere Dimension, welche die „Electronic Natives“ gerne durchdenken, ist die Struktur dessen, was sich zwischen einem elektronischen Instrument (oder einer App) und jenem Segment der Welt ereignet, auf das es sich beziehen soll. In den meisten Fallen handelt es sich um eine wohlfunktionierende Beziehung unter der schon immer gegebenen Voraussetzung von Vertrautheit — die aber, gerade weil sie selbstverständlich scheint, nur sehr schwer ins Bewusstsein zu bringen ist.
Sam ist im zweiten College-Jahr, mit einem Major in Computer Science und einem Minor in Philosophie, und während des vergangenen Sommers hat ihn sein Department (gegen hohes Gehalt) in Stanford gehalten, um von seiner Produktivität beim Schreiben von Codes zu profitieren. Sam hält die Produkte des heutigen Silicon Valley generell für „too corporate“ – und geht bei diesem Urteil natürlich nicht von einer Theorie der Verschwörung der elektronisch Schwerreichen gegen den Rest der Menschheit aus. Vielmehr denkt er, dass derzeit die Potenziale der bereits existierenden Software längst nicht produktiv genug genutzt werden. Von der alten Befürchtung, nach der „Artificial Intelligence“ ihre Leistung so selbststeigern könnte, dass sie notwendig zur Beherrscherin über die Menschen aufsteigt, habe ich ihn noch nie reden hören. Und nie käme ich ohnehin auf den Gedanken, Sam könnte in seiner Einschätzung allzu optimisisch sein.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm