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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Der mit seinem spezifischen Inhalt nur in der deutschen Sprache gebrauchte Begriff der „Völkerwanderung“ soll die Jahrhunderte zwischen der Spätantike (Auflösung des Weströmischen Reiches) und dem frühesten Mittelalter (erste Strukturen des Feudalsystems) umfassen, manchmal auch chronologisch genauer die Zeit zwischen der Invasion der Hunnen nach Osteuropa um 375 und dem Überfall der Langobarden auf Norditalien im Jahr 568, und er hat trotz seiner erstaunlich anhaltenden Beliebtheit ein zurecht schlechtes Ansehen unter den Gelehrten und historisch Gebildeten. Die Probleme können auf verschiedenen Ebenen unterschieden und dargelegt werden, doch sie konvergieren unter dem nur selten erwähnten Vorzeichen, dass „Völkerwanderung“ einen geschichtlichen Zeitraum in Bildern heraufbeschwört, die – aus vielfachen Gründen – durchaus vage und ungewiss bleiben. So ist zunächst umstritten, ob man die Zeit seit dem Ende des 4. nachchristlichen Jahrhunderts als Auflösung oder als Transformation des Weströmischen Reiches (hin zu einer neuern Form der Herrschaft in meist germanischen Händen) ansehen will, während auf der anderen Seite der Begriff des Mittelalters durch die Ausdehnung auf eine chronologisch so frühe Zeit seine Konturen verliert.
Zugleich haben die beiden Teile des Kompositums, die Wörter „Völker“ und „Wanderung“, wie man der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts und einschlägigen literarischen Darstellungen (etwa Felix Dahns „Kampf um Rom“) entnehmen kann, unsere Vorstellungen von jener „dunklen“ Übergangszeit in wohl allzu starken Farben und Konturen geprägt. „Völker“ im Sinne ethnisch homogener Gruppen oder organischer Gesellschaften waren jene sich anscheinend rastlos durch Europa bewegenden Gruppen kaum, sondern eher improvisierte Kriegereinheiten unter wechselnden Anführen, gemeinsam mit jenen Funktionsträgern, die man pauschal „Tross“ nennt (hier stiften epische Namen wie die Name der „Goten“ oder der „Langobarden“ also eher Verwirrung als Klarheit). Zweitens verführt uns der Begriff des „Volkes“, ihre Größe zu überschätzen, welche Historiker heute mit maximal 20.000 Mitgliedern ansetzen. Drittens und vor allem können nüchterne Analysen in diesen „Wanderungen“ eigentlich nie geschlossene Bewegungen mit deutlichen Anfangs- und Endpunkten oder gar mit langfristig strategischen Zielen entdecken.
Was sich prinzipiell für alle (historischen) Begriffe sagen lässt, trifft deshalb auf die „Völkerwanderungen“ in besonderem Maße zu: Die mit ihnen verbundenen Inhalte und Visionen sind das Produkt bestimmter retrospektiver Interessen, in diesem Fall das Produkt von nationalen und nationalistischen Ideologien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, welche im Bedürfnis der nationalsozialistischen „neuen Mythen“ nach emblematischen Vorläufern der eigenen rassistischen Ambitionen ihren scheußlichen Höhepunkt fanden. Wer Deutschland um 1930 als ein „Volk ohne Raum“ interpretierte, der konnte nicht umhin, an den angeblichen Expansionsbewegungen der Goten (bis hin zur iberischen Halbinsel) kriegerischen Gefallen zu finden.
Sobald wir aber all jene ideologischen Schichten und Krusten vom Begriff der „Völkerwanderung“ abgetragen haben, tritt ein Bedeutungskern mit beträchtlich innovativem Deutungspotential für die gegenwärtigen „Migrationsbewegungen“ hervor. Dieser Bedeutungskern zeigt den Impuls einer langanhaltenden kollektiven Bewegung im Raum – sozusagen unter Abzug aller Selbst- und Fremddeutungen hinsichtlich möglicher Funktionen und Absichten. Auf der Grundlage einer ähnlichen Reflexion hatte schon Friedrich Schiller in einer Jenenser Vorlesung des Jahres 1792 die Zeit der Völkerwanderungen mit der Epoche der Kreuzzüge verglichen. Gewiss, in der Deutung und im Bewusstsein ihrer Teilnehmer galten die Kreuzzüge dem Ziel, das „Heilige Land“ der Christen von Muslimen zu „befreien“ und in christliche Hände zu bringen. Doch andererseits wissen wir, dass etwa die Gruppe von offenbar auffällig jungen Migranten, die den sogenannten „Kinderkreuzzug“ von 1215 ausmachten, unbewaffnet war, also kein Eroberungsziel verfolgt haben kann – und folglich auch nicht weiter als bis zu den östliche Küsten Italiens gelangte.
Das mich am stärksten faszinierende Phänomen dieser Art heißt „Coluna Prestes“ („Prestes Bataillon“) und bestand aus einer Gruppe von etwa 1.500 Menschen, die, ausgehend von schnell niedergeschlagenen Putschversuchen in Sao Paulo und im südlichen Brasilien, zwischen 1925 und 1927 unter Führung des Offiziers Luis Carlos Prestes nicht weniger als 25.000 Kilometer im brasilianischen Festland zu Fuß zurücklegten, um sich Anfang Februar 1927, nach Überquerung der brasilianisch-bolivianischen Grenze, ohne evidente Gründe aufzulösen. Ihrem expliziten Selbstverständnis nach wollte die Bewegung (im wörtlichsten Sinne) der „Coluna“ den Geist der Revolution und Rebellion in der Bevölkerung verschiedener Regionen erwecken, war jedoch seit den ersten Wochen ihres Marsches anscheinend vor allem mit der Logistik des eigenen Überlebens beschäftigt. Und gewiss kann man auch hinter dem seit seiner historischen Emergenz gegen Ende des 19. Jahrhunderts exponentiell gewachsenen Phänomen des Tourismus einen solchen (vorerst auf Dauer gestellten) Bewegungsimpuls vermuten.
Von der Beobachtung solcher Kollektiv-Dynamiken, deren Selbst- oder Fremd-Plausibilitäten bestenfalls fragil wirken, können dann nur Spekulationen im Stil der „philosophischen Anthropologie“ (oder „Kultur-Anthropologie“), wie sie vor allem unter Denkern des frühen 20. Jahrhunderts beliebt war, in eine bisher erstaunlich selten thematisierte Dimension prä- oder subkultureller Bewegungsimpulse weiterführen. Derart viele zoologische Gattungen existieren in Formen regelmäßiger Migration, dass sich die Frage aufdrängt, ob wir sie nicht als Normalfall des Lebens auf unserem Planeten ansehen sollten. Zweitens wäre zu überlegen, ob die – in diesem Fall notwendig externen – Standardbeschreibungen oder Erklärungen solcher Migration im Hinblick auf Ernährung und Paarungsverhalten, nicht den Stellenwert der Bewegung / Dynamik an sich durch Hypothesen über angebliche Funktionen unterschätzen. Und schließlich ist dieselbe Beobachtungsperspektive natürlich auch im Hinblick auf menschliche Formen nomadischen Lebens anzuwenden. Noch deutlicher sogar tritt Bewegung im Raum als gleichsam unwiderstehliche, durch keine Institution zu unterwerfende und daher gleichsam intransitive Energie im Leben der Zigeuner auf („Zigeuner“ statt „Sinti und Roma“ schreibe ich hier, weil eine Welle von kritischen Reaktionen anlässlich eines Blogs über ihre Kultur mich auf ihre Wortwahl verpflichtet hat).
All diese Verweise auf Beobachtungen aus der Kulturanthropologie und Verhaltensforschung sollten natürlich zu der (in meiner Sicht eher rhetorischen, also schon immer positiv beantworteten) Frage führen, ob es nicht intellektuell und sogar politisch produktiv sein könnte, hinter den sogenannten „Migrationsbewegungen“ unserer Gegenwart solche intransitiven Impulse und Energien zu vermuten. Was müsste oder könnte sich dann hinsichtlich politischer, gesetzlicher, aber auch kultureller Reaktionen ändern? Vor allem würde eine solche Sicht die (oft monokausale) Verbindung von „Migrationsbewegungen“ und lokalen politischen „Krisenherden“ (etwa Syrien) vielleicht nicht gänzlich eliminieren, aber doch tendenziell einklammern. Migrationsimpulse sind, wie uns etwa das Wissen über die „Völkerwanderung“ lehrt, zwar grundsätzlich nicht auf Dauer gestellt, aber wir haben keinerlei Möglichkeit, ihren Beginn oder ihr Ende zu prognostizieren – solange wir uns nicht auf jene politischen und wirtschaftlichen Gründe verlassen wollen, deren Erklärungspotential sich immer wieder als erstaunlich gering erwiesen hat.
Darin liegt eine Herausforderung, die gängigen Kategorien von Migrationsmotivationen oder Migrationsgründen zu problematisieren. Es wird deutlich, wie etwa Gesetze und Verordnungen zur Vorzugsbehandlung von „politisch Verfolgten“ die Versuchung unter Migranten etablieren, ihr eigenes Leben und ihre Erinnerung in durchaus opportunistischer Weise zu stilisieren (ich behaupte nicht, dass „Migranten grundsätzlich lügen“, sondern kritisiere nur eine Festlegung auf bestimmte Formen in der Verarbeitung ihrer Erlebnisse). Vor allem aber wird die Zurückweisung von Migranten generell dann problematisch und tendenziell sogar moralisch illegitim, wenn man ihre Bewegungen als einen Normalfall – und nicht als eine Ausnahmesituation – der menschlichen Existenz ansieht. Auf der anderen Seite bleibt verständlich, warum unsere seit dem 19. Jahrhundert dominante, mit den sich längst überlebten Nationalstaaten weiterhin verzahnte Form von Regierung eine Tendenz entwickelt, Migrantenströme zu regulieren —vor allem wenn ihnen die Verpflichtung zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen auferlegt ist, sodass ein Ansteigen der Bevölkerungszahl vor allem ein Ansteigen der Versorgungskosten auslöst.
Wie kann man auf dieses Dilemma reagieren, das natürlich vorerst hypothetisch ist, weil es sich ja aus einer eher marginalen Deutung der Migrationsphänomene ergibt? Zum einen, das soll noch einmal betont werden, durch die Aufhebung aller Unterscheidungen zwischen legitimen und nicht-legitimen Migrationsmotivationen. Und des Weiteren – vielleicht allzu langfristig und utopisch gesehen – durch die Entwicklung einer rechtlichen und politischen Unterscheidung zwischen zwei gleich legitimen Formen der Existenz, zwischen einer sedentären Form und einer migratorischen Form. Die migratorische Form ließe sich in Anlehnung an den offiziellen Status der „Staatenlosigkeit“ organisieren, wie er vor knapp 100 Jahren schon einmal in Reaktion auf den Ersten Weltkrieg vom Völkerbund sehr erfolgreich eingeführt, durch einen sogenannten „Nansen-Pass“ (nach dem norwegischen Polarforscher Fridtjof Nansen) dokumentiert und damals von mehr als 50 Staaten anerkannt worden war, wo „Staatenlose“ leben und arbeiten durften.
Vielleicht fehlen unserer Gegenwart einfach die Kraft der Imagination und das nötige Selbstvertrauen für solche Projekte und Institutionen.
Titelbild:
| langll / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Sansculotte / Deutsche Wikipedia (CC BY-SA 3.0) | Link
| Stephan Dinges / Flickr.com (CC BY-NC 2.0) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: CvD