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Heribert Dieter wurde 1961 geboren und forscht zu internationalen Wirtschaftsbeziehungen an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er lehrt seit dem Fallsemester 2009 an der Zeppelin Universität. Dieter studierte von 1983 bis 1989 Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin, wo er 2005 auch seine Habilitation ablegte. Zu seinen aktuellen Forschungsvorhaben zählen die Untersuchung von Reformoptionen für die internationalen Finanzmärkte, die Analyse der Perspektiven der Europäischen Währungsunion und monetärer Kooperation in Asien sowie die Betrachtung der Position Deutschlands in der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts.
In Deutschland und anderen europäischen Ländern wird das Thema Migration weiterhin intensiv diskutiert. Der französische Präsident hat Migration und deren Regulierung zu einem zentralen Thema seines Europawahlkampfes gemacht. Dabei stehen die Einwanderung, deren Folgen und Regulierung im Mittelpunkt. Allenfalls wird die Auswanderung aus süd- und osteuropäischen Ländern diskutiert. Übersehen wird dabei ein anderes Problem: dass etwa aus dem wirtschaftlich prosperierenden Deutschland viele Hochqualifizierte auswandern. Deutschland ist, wie einst im 19. Jahrhundert, wieder ein Auswanderungsland, ohne dass dieses Phänomen in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert werden würde.
Es sind aber keine deutschen Erntehelfer, sondern Hochqualifizierte, die heute fortgehen, um im Ausland zu arbeiten. Deutsche Ärzte in der Schweiz und Norwegen, aber auch deutsche Ingenieure in Australien gehören zu diesen leisen Auswanderern. Daten über sie sind etwas versteckt, auch weil die Entscheidung für eine (oft temporär geplante) Auswanderung heute weniger schwerwiegend ist als im 19. Jahrhundert. Wohnungen werden auf Zeit untervermietet, und der Kontakt zur alten Heimat bleibt aufrechterhalten. Ökonomisch ist dieser Export von Humankapital ein bemerkenswertes Phänomen. Da es sich nicht um Geringqualifizierte handelt, hat schon eine kleine Zahl von Emigranten nennenswerte Effekte.
Messen kann man die Überweisungen in die Heimat im Ausland arbeitender Staatsbürger. Die Weltbank bezeichnet Menschen, die länger als zwölf Monate im Ausland tätig sind, als Auswanderer und berechnet deren Geldtransfers. 2017 lag Deutschland gemäß Weltbank auf Platz 9, hinter klassischen Auswanderungsländern wie Indien, China oder den Philippinen. Immerhin 16,6 Milliarden Dollar wurden von im Ausland tätigen Deutschen in die Heimat überwiesen. Amerikaner, trotz vierfacher Bevölkerungszahl, überwiesen 2017 lediglich 6 Milliarden Dollar nach Hause.
Wenig überraschend ist, dass die USA die Liste der Länder anführen, aus denen Geld in die Heimat überwiesen wird: 2017 sandten in den USA tätige Bürger anderer Staaten 66,6 Milliarden Dollar nach Hause, vor Saudiarabien mit 37,8 Milliarden Dollar. Auf Platz 3 der Liste steht die Schweiz mit 26,3 Milliarden Dollar, vor Deutschland mit 20,6 Milliarden Dollar.
Deutschland unterscheidet sich damit deutlich von klassischen Einwanderungsländern wie Australien, Kanada oder den USA. Diese weisen kein nennenswertes Volumen von Überweisungen in die Heimat eigener Staatsbürger auf. Dies liegt daran, dass die eigenen Staatsbürger offenbar eine geringe Neigung verspüren, temporär oder dauerhaft das Land zu verlassen und im Ausland eine besser vergütete Beschäftigung zu suchen. Angestammte Einwanderungsländer sind in der Lage, wirtschaftliche Anreizstrukturen für hochqualifizierte Zuwanderer und Einheimische zu schaffen.
Deutschland hingegen verbindet die Auswanderung Hochqualifizierter mit der Einwanderung Geringqualifizierter. Die auf Kosten der deutschen Steuerzahler ausgebildeten Mediziner und Ingenieure maximieren ihren persönlichen Nutzen, was nachvollziehbar und legitim ist. Vergleicht man etwa die Arbeits- und Einkommensverhältnisse von Ärzten im deutschen Gesundheitswesen mit denen in Australien oder der Schweiz, zeigt sich, dass die Einkommen in Deutschland deutlich geringer und die Arbeitsbedingungen häufig schlechter sind. Angestellte Ärzte in leitender Funktion verdienen in Deutschland ein Drittel dessen, was für vergleichbare Positionen in Australien oder den USA gezahlt wird. Dort reichen Jahresgehälter angestellter Ärzte bis zu 450 000 Euro. In Dänemark oder der Schweiz liegen die Gehälter immerhin beim Doppelten des deutschen Wertes.
Gesundheitsminister Jens Spahn ist die Auswanderung von in Deutschland ausgebildeten Ärzten ein Dorn im Auge. Wie er dies verhindern kann, weiß er aber nicht. Schwer vorstellbar erscheint, Sanktionen über im Ausland tätige Ärzte zu verhängen. Seltsam ist, dass die naheliegende Lösung, höhere Gehälter, nicht in Erwägung gezogen wird. Es wird schwierig bleiben, Hochqualifizierte in Deutschland zu halten, solange es im Ausland sehr viel mehr zu verdienen gibt. Die Gehälter etwa von angestellten Ärzten sind in Deutschland bescheiden, zumindest im internationalen Vergleich. Selbst gering medizinisch Qualifizierte kommen in anderen Länder auf einen ähnlichen Lohn: Ein Assistenzarzt an einem deutschen Krankenhaus verdiente 2018 brutto rund 81 000 Euro und damit gerade einmal 4300 Euro mehr als ein Lastwagenfahrer, der in den USA für die Handelskette Walmart arbeitet. Nach Steuern und Sozialabgaben hat der Trucker ein höheres Nettoeinkommen als der deutsche Mediziner.
Für die Einwanderungsländer ist die Einwanderung Hochqualifizierter ein lohnendes Geschäft. Diese Arbeitskräfte erhöhen die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung des Landes und tragen so zu einer Festigung des Lebensstandards der einheimischen Bevölkerung bei. Besonders die Schweiz darf sich zu den Nutznießern des deutschen Ärzte-Exports rechnen. Jeder fünfte Arzt in der Schweiz wurde in Deutschland ausgebildet. Gegenwärtig arbeiten etwa 6500 Mediziner aus Deutschland in der Schweiz, vorwiegend in Spitälern. Die Ausbildung dieser Ärzte hat den deutschen Steuerzahler etwa 250 000 Euro pro Person gekostet. Insgesamt hat die Schweiz damit Humankapital im Wert von rund 1,9 Milliarden Franken importiert. Sie spart damit beachtliche Ausbildungskosten; Deutschland dagegen hat mit seinem «brain drain» das Nachsehen.
Die Lage in Deutschland ist auch noch aus einem anderen Grund ungemütlich: Die große Zahl von Zuwanderern mit geringer Qualifikation senkt zum einen die durchschnittliche Wirtschaftsleistung, zum anderen werden die Sozialsysteme belastet. Gerade bei den in Deutschland lebenden Flüchtlingen zeigt sich diese Problematik deutlich. Im August 2018 bezogen 6,6 Prozent der Gesamtbevölkerung, aber 63,7 Prozent der Flüchtlinge die Grundsicherung Hartz IV. Von den 1,7 Millionen Flüchtlingen, die in Deutschland registriert sind, gehen 361 000 einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach. Da viele Migranten nicht über eine auf dem deutschen Arbeitsmarkt nachgefragte Qualifikation verfügen, bleiben ihnen nur Hilfstätigkeiten: putzen, kellnern, schleppen. Diese schlechtbezahlten Jobs erlauben den Zuwanderern auch keine üppigen Überweisungen in die Heimat.
Übersehen wird bei der Analyse der ökonomischen Effekte von Migration gerne die Umverteilung innerhalb der Sozialsysteme. Viele Beobachter meinen, dass allein die Aufnahme einer Hilfstätigkeit schon dazu führt, dass ein Zuwanderer sich selbst finanziert. Dies ist nicht der Fall. Deutschland gehört nicht nur zu den Ländern mit der höchsten Belastung von Arbeitseinkommen durch Steuern, sondern auch durch Sozialabgaben. Die Krankenversicherungsprämien eines Gutverdienenden belaufen sich in der gesetzlichen Versicherung derzeit auf etwa 830 Euro pro Monat einschließlich des hälftigen Anteils der Arbeitgeber. Der Bundesfinanzminister überweist den Krankenkassen aber lediglich rund 100 Euro pro Person und Monat. Die Besserverdienenden subventionieren die Bezieher von Sozialleistungen einschließlich der Zuwanderer.
Für Deutschland ist die gegenwärtige Migrationspolitik doppelt misslich. Das Land verliert auf Kosten des Steuerzahlers ausgebildete Hochqualifizierte – nicht anders als afrikanische Länder oder Indien. Zugleich wandern weiterhin Geringqualifizierte ein und belasten den Sozialstaat. Steuern und Abgaben bleiben im internationalen Vergleich hoch. Nicht zuletzt deshalb können deutsche Arbeitgeber Hochqualifizierten nicht mehr in gleichem Maß wie früher attraktive Angebote machen.
Mittel- und langfristig steuert Deutschland auf eine strukturelle Krise in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu. Leistungsträger verlassen das Land und schwächen die wirtschaftlichen Perspektiven. Den gleichen Effekt hat die Zuwanderung von Geringqualifizierten. Um diese problematische Entwicklung zu ändern, müsste die deutsche Politik dafür sorgen, dass die Steuer- und Abgabenlast sinkt und zugleich die Gehälter von Hochqualifizierten so stark steigen, dass sie im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig werden. In der heutigen politischen Atmosphäre, die von einer übergroßen Koalition von Umverteilungsbefürwortern im Bundestag geprägt ist, ist diese Forderung nach mehr Ungleichheit und weniger Sozialleistungen indes utopisch. Es fehlt an Einsicht, welche Folgen es für Deutschland hat, dass es seine eigenen Talente nicht mehr im Land halten kann.
Dieser Beitrag ist am 6. April unter dem Titel „Wenn Hochqualifizierte gehen und wenig Gebildete kommen – Deutschlands doppeltes Migrationsproblem“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
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Beitrag (redaktionell unverändert): PD Dr. Heribert Dieter
Redaktionelle Umsetzung: Florian Geh