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Markus M. Müller hat seit 2009 die Honorarprofessur für Politik- und Verwaltungswissenschaften inne. In seinen Forschungsschwerpunkten befasst sich Markus Müller vor allem mit Fragen des Regierens sowie dem deutschen Förderalismus. In einer praxisorientierten Ausbildung in den Politik- und Verwaltungswissenschaften geht es für Müller vor allem darum, wichtige Fragen aus Politik, Staat und Gesellschaft sowie relevante Aufgaben aus dem Spektrum politischer und politisch-administrativer Handlungszusammenhänge zu identifizieren und auf der Basis historisch und methodisch informierten Wissens einer Beantwortung bzw. Bearbeitung zuzuführen.
Für manchen feuilletonistischen Beobachter vollzieht sich in den USA seit der Amtsübernahme durch Donald Trump eine Entwicklung, wie sie schon länger in Russland, davor zeitweise im Italien Silvio Berlusconis und zuletzt in der Türkei zu beobachten war. Ein mehr oder weniger schleichender Ruin guter demokratischer Praxis, um das Mindeste zu sagen, einhergehend mit einem Verfassungswandel, der sich – jedenfalls zum Teil in den genannten Beispielen – auch in einer formalen Anpassung des Verfassungstextes an das autokratische Verhalten des jeweiligen Staats- oder Regierungschefs niedergeschlagen hat.
Letzter Anlass für diese Diagnose waren Äußerungen und Handlungen des amerikanischen Präsidenten im Anschluss an die brutale Behandlung von George Floyd durch die örtliche Polizei in Minneapolis, in deren Folge er zu Tode kam. Die Staatsanwaltschaft sprach mittlerweile von „Mord zweiten Grades“, ein Straftatbestand, der zwischen Mord und Totschlag nach deutschem Recht angesiedelt sein dürfte. Dieser, leider keineswegs beispiellose Akt von Polizeigewalt auf rassistischem Hintergrund hat sowohl friedliche Proteste als auch gewaltsame Unruhen ausgelöst. Der Präsident scheint sich vorrangig auf die Letztgenannten zu fokussieren (wobei angesichts Gestus und Sprache nicht so klar ist, ob und inwieweit die politischen friedlichen Proteste vom Präsidenten als legitim angesehen werden) und hatte – unter anderem – mit dem einseitigen militärischen Eingreifen in Einzelstaaten (und im District of Columbia) gedroht. Inländische und ausländische Beobachter kritisieren diese Haltung, halten Äußerungen und Handlungen des Präsidenten in diesem Zusammenhang für eine verfassungs- beziehungsweise rechtswidrige Überschreitung seiner Kompetenzen. Baut Präsident Trump das politische System um, ignoriert er die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive ebenso wie zwischen Bund und Einzelstaaten?
Ungeachtet der politischen und rechtlichen Bewertung seiner Handlungen ist jedenfalls eines klar: Die amerikanische Verfassung ist und bleibt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als solche die gleiche wie vor Präsident Trump – anders als etwa in der Türkei unter Präsident Erdogan oder nach den Plänen von Präsident Putin in Russland. Aber eine verfassungsmäßig angeordnete oder zumindest gebotene Balance von Macht und Zuständigkeiten kann natürlich auch durch reine Praxis, durch eine gelebte Verfassungswirklichkeit verändert werden. Hat Präsident Trump hier eine solchermaßen evolutive Verfassungsveränderung herbeigeführt?
In der Politikwissenschaft gab es seit den 1990er-Jahren eine Debatte um „defekte Demokratien“. Gemeint war der Befund, wonach namentlich in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion formale Demokratien von autokratischen Politikern gewissermaßen korrumpiert wurden: der Form nach immer noch Demokratie, aber nicht in der Praxis. Namentlich die große Machtfülle des Präsidentenamtes in den Präsidialverfassungen der meisten Transformationsstaaten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 war das Einfallstor für eine faktische Umdeutung des politischen Systems. Angesichts einer oft schwach ausgeprägten politischen Kultur – aufgrund schwacher, junger demokratischer Parteien und einer gleichfalls schwachen Zivilgesellschaft – hatten es Autokraten leicht, im Gewand des gewählten Präsidenten eine andere Form von Staatlichkeit zu installieren. An die damaligen Debatten erinnert es, wenn man Präsident Trump als Autokraten beschreibt.
Um für die USA keine vorschnellen Antworten zu geben, müssen wir uns die Konstruktion der amerikanischen Verfassung vergegenwärtigen. Ein erster instruktiver Blick fällt dabei naturgemäß auf „The Federalist“ oder die Federalist Papers.
Wer die Federalist Papers, eine der wichtigsten zeitgenössischen Quellen für das Verständnis wesentlicher Verfassungsväter der amerikanischen Verfassung von 1789, anführt, bezieht sich zu Recht meistens auf die gleichermaßen kluge wie neuartige Intention dieser Männer, einen (Bundes-)Staat zu erschaffen, in dem Tyrannei und Despotie eines Einzelnen ebenso gebannt sein sollen wie die Gefahr einer „Mehrheitsdiktatur“, die Minderheitenrechte übergeht. Doch dieser – wie gesagt in der Sache völlig zutreffende – Fokus übersieht, was die Autoren an den Anfang ihrer Artikelsammlung gestellt haben: die Suche und Rechtfertigung einer neuen Bündnisstruktur für und mit den bestehenden (13) Einzelstaaten, die sie gegenüber den äußeren, aber auch inneren Bedrohungen von Sicherheit und Ordnung schützt. Den Bund der Einzelstaaten zu stärken im Sinne einer erhöhten Stabilität der Einzelstaaten, das war der Anlass für Überlegungen, die bestehenden Articles of Confederation nicht einfach weiter bestehen zu lassen. Doch wie schützt man sich nach außen und nach innen überhaupt?
Die Beteiligten waren sich einig: einen hobbesschen „Leviathan“ – jedenfalls im vordergründigen Sinne – darf es nicht geben. Aber ohne Instanz zur Durchsetzung von Recht und Ordnung, also eine Exekutive, kann es auch nicht gehen. Kein Staat kann ohne Exekutive bestehen, auch und gerade keiner wie die neuen USA, dessen Wesen in der Trinität von Republik, rule of law (also Rechtsstaatlichkeit) und demokratischer Herrschaftskontrolle liegt. Wie es in einer oft zitierten Sentenz von Hamilton (Nr. 70) im Hinblick auf die Rolle der Exekutive (das heißt des Präsidenten) hierzu heißt: „A feeble Executie implies a feeble execution of the government. A feeble execution is but another phrase for a bad execution; and a government ill executed, whatever it may be in theory, must be, in practice, a bad government.“
Nun ist die amerikanische (Bundes-)Verfassung nicht einfach ein Kondensat der Überlegungen, wie sie in den Federalist Papers ihren Niederschlag gefunden haben. Namentlich die Vorstellungen von Alexander Hamilton haben sich nicht vollständig verwirklicht. Wesentlich ist nämlich, dass aus der oben skizzierten „doppelten Bedrohung“ durch Tyrannei und Mehrheitsdiktatur eine bis heute wirkende und von vielen kontinental-europäischen Beobachtern leicht unterschätzte Gewaltenverschränkung eingerichtet wurde, deren Hauptwirkung etwas ist, das der Verfassungstheoretiker Louis Fisher einmal als separate institutions sharing powers übersetzt hat. Nicht die Gewaltenteilung (die trennscharfe Aufteilung von Kompetenzen auf die Gewalten) ist das eigentliche Merkmal dieser Ordnung, sondern die Teilhabe verschiedener Gewalten an Schnittmengen von Kompetenzen.
Überspitzt ausgedrückt: Keine der drei Gewalten soll ohne mindestens eine weitere rechtsändernd wirken können. Die Republik, in der das Gesetz gilt – und nicht das Wort des Herrschers – muss geschützt werden. Genau wie Hannah Arendt einmal sehr scharfsinnig beobachtet hat: Die USA sind als Republik vor allem ein Staat, in dem die Herrschaft des Gesetzes gilt – für dessen Einführung und Fortentwicklung Verfahren eingerichtet wurden, die nach demokratischer Logik funktionieren. Und im Hinblick auf diese Verfahren verfolgten die Gründungsväter restriktive Lösungen. Deswegen hat der Präsident ein (suspensives) Vetorecht in der Gesetzgebung und der Supreme Court überprüft die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen – eine Ungeheuerlichkeit im 18. Jahrhundert.
In diesem fein gewobenen Geflecht von Teilhabe- und Verhinderungsmöglichkeiten der drei Gewalten fällt unter anderem eines auf: Die Präsidentschaft, die Exekutive, ist in Wahrheit viel schwächer, als es allgemein gesehen wird – vor allem dann, wenn wir eine Situation von divided government vorfinden. Also eine Situation, in der das Weiße Haus auf der einen Seite und der Kongress (beziehungsweise eine seiner Kammern) auf der anderen Seite in der Hand unterschiedlicher Parteien sind. Die Auswahl hochrangiger Regierungsmitarbeiter der Exekutivbehörden oder der (Bundes-)Richter, der längerfristige Einsatz der Truppen, die er oder sie als Oberbefehlshaber kommandiert, ja selbst die Haushaltsführung oder die Administration wichtiger Politikfelder (durch die Independent Regulatory Agencies beziehungsweise Commissions) sind nicht alleine exekutivische Zuständigkeit der Präsidentschaft – der Kongress hat in verschiedener Weise und Intensität Mitspracherechte. Blockaden des Regierungshandelns, zumeist bezeichnet als gridlock, sind dann eine oft beklagte Nebenwirkung – doch sie sind eben systemimmanent in der Gewaltenverschränkung.
Das Amt des Präsidenten ist also weit weniger in seinen Möglichkeiten durch formale Vollmachten fixiert, als es dem kontinentalen Freund kodifizierten Rechts gefallen kann. Die Macht des Präsidentin kommt maßgeblich von etwas, das man im Amerikanischen „Leadership“ nennt, einer in der Wahrnehmung der Amerikaner und des Kongresses ausgeprägten Fähigkeit, dem Land eine Zielrichtung vorzugeben, als Führungsfigur wahr- und ernstgenommen zu werden, Anspruchsgruppen wahlweise klug zu bedienen oder aber auch als Papiertiger zu entlarven und zu ignorieren. Ob durch Kungelei in Hinterzimmern oder durch das souveräne Beherrschen der Klaviatur der öffentlichen Meinung über Medien – Präsidenten leben davon, ihr Amt fundamental verstanden zu haben: als eine Position, in der sie Macht nur haben, wenn sie sich diese in den Augen von Öffentlichkeit und Kongress verdienen. Meistens impliziert das auch, den ernsthaften und glaubwürdigen Versuch zu unternehmen, eine einende Rolle zu suchen.
Nun könnte man die Hypothese aufstellen, der jüngste präsidiale Versuch eines „Durchgriffs“ auf die (Sicherheit in den) Einzelstaaten unter Berufung auf den sogenannten Insurrection Act stelle zumindest einen Versuch dar, das Verfassungsgleichgewicht zu ändern, die Gouverneure – und auch die friedlichen Demonstranten – einzuschüchtern und eine Machtkonzentration zu erwirken, die die Verfassung – und auch die Autoren des Federalist – gerade auszuschließen suchten.
Wie Danielle Crockett nach der Debatte um eine Ausweitung der Kompetenzen des Präsidenten unter dem Insurrection Act infolge des Hurrikan Katrina 2006 aufgezeigt hat, stehen dessen heutige Instrumente, namentlich die Entsendung von Bundestruppen in die Einzelstaaten, gegebenenfalls eben auch ohne Zustimmung beziehungsweise Anforderung seitens der Gouverneure oder Legislative, in einer langen Tradition. Eisenhower und Kennedy nutzten das Instrumentarium in den 1950er- und 1960er-Jahren gegenüber den Südstaaten. Damals allerdings, um den Bürgerrechten von Afroamerikanern nach den wegweisenden Entscheidungen des Supreme Courts zur Beseitigung der separate-but-equal-Doktrin Geltung zu verschaffen – auch gegen die örtlichen Ordnungskräfte. Grundsätzlich ist es allerdings selbstverständlich, dass der Präsident auf Wunsch und damit unter Zustimmung des oder der betroffenen Gouverneure Einheiten entsendet.
Die Frage, wie weitgehend die Befugnisse des Präsidentenamtes sind, „to execute the laws“, wird gerade bei uns oft verkürzt auf den Aspekt der Machtausweitung der Präsidentschaft – und daher mit Blick auf das sogenannte Posse-Comitatus-Gesetz diskutiert, das, sehr verkürzt, den Einsatz der Streitkräfte im Innern beschränkt. Tatsächlich geht es bei den Kompetenzen unter dem Insurrection Act allerdings in erster Linie um das Verhältnis von Bund und Einzelstaaten, also einen föderalen Kompetenzkonflikt. Und hier sind wir wieder beim Federalist: Die Verfassungsväter hätten – (missbräuchliches) Unterlassen der Einzelstaaten einmal ausgenommen – den einseitigen (!) Einsatz von Militär auch zur Beendigung von Unruhen grundsätzlich kritisch gesehen. Das Gesetz gibt die Kompetenz her, insofern sind vorschnelle Zuschreibungen des Rechtsbruchs fehl am Platz. Aber eine ganz andere Frage ist es, ob es klug und ein Ausweis von Leadership ist, Kompetenzen zu nutzen oder gar mit ihnen zu prahlen, die eher als eine Art „letztes Mittel“ für Ausnahmesituationen geschaffen wurden, nicht für presidential activism.
Wie uns die Geschichte lehrt, wollen auch Ausnahmesituationen richtig eingeschätzt werden, denn am Ende des Tages ist jede Staatsmacht hohl und wirkungslos, wenn ihr eigenes Staatsvolk nicht mehr gehorcht. Man mag über die Parteien in den USA denken, was man will, auf eines kann man sich verlassen: eine aufmerksame und funktionierende Zivilgesellschaft. Sie lässt sich in kein Prokrustes-Bett pressen, sie wählt George Bush jun. und Donald Trump, aber (dazwischen) auch Barack Obama. Amerika ist gespalten, schon lange, und diese Spaltung hat größere Ursachen als Präsident Trump. Diese Spaltung, geschweige denn die Gesellschaft, sind aber weder statisch noch mit ein paar populistischen Zaubertricks in den Griff zu bekommen. Selbstreferenzielles Regieren, wie es Autokraten typischerweise praktizieren, funktioniert in Amerika nicht. Wer es versucht, fordert den Beleg seiner eigenen Ohnmacht heraus. Es auf diesen Test ankommen zu lassen, würde von keinem guten politischen Judiz zeugen. Aber als Politiker hat sich Trump auch nie gesehen.
In diesem Punkt würde ich Masha Gessen in ihrem Interview mit der taz vom 13. Juni Recht geben: Es ist erschreckend, dass das Modell des Anti-Politikers schon so lange Erfolg zu haben scheint. Doch anders als Gessen sehe ich nicht, dass sich damit auch ein Systemwandel vollzieht, gar eine Autokratie entsteht. Die amerikanische Geschichte wird Präsident Trump seinen Platz in der Reihe mehr oder weniger erfolgreicher Präsidenten zuweisen – und das war es dann.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Markus M. Müller
Redaktionelle Umsetzung und Bildunterschriften: Florian Gehm (fg)