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Der unsichtbare Rassismus
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Zum Tod von George Floyd

Kampf gegen den systemischen Rassismus

von Hans Ulrich Gumbrecht | Zeppelin Universität
07.06.2020
Uns weißen Amerikanern den eigenen Rassismus vor Augen zu halten, wie es viele europäische Medien dieser Tage mit Herablassung empfehlen und praktizieren, wird Lösungen des brennenden Problems nicht beschleunigen.

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessur für Literaturwissenschaften
 
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    Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.  

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Wer sich auf die Bilder jener achteinhalb Minuten einlässt, in denen der weiße ehemalige Polizist Derek Chauvin am 25. Mai seinen afroamerikanischen Mitbürger George Floyd mit dem Knie auf dessen Hals zu Boden hielt und zu Tode brachte, kann den Eindruck kaum vermeiden, dass es sich um Mord handelte. Denn keine objektive Bedrohung für Chauvin ging von Floyd aus; Floyds letzte Worte sagten, dass er nicht mehr atmen konnte; und mindestens einer von den drei weiteren an Floyds Verhaftung wegen eines Bagatellvergehens beteiligten Polizisten hatte Chauvin auf die mögliche Folge seines Gewaltakts hingewiesen. Zu welchem Rechtsspruch die Justiz des Staates Minnesota auch gelangen mag und welche psychischen Hintergründe ihr Verfahren offenlegen wird: der 44-Jährige Chauvin wollte den Tod des zwei Jahre älteren Floyd herbeiführen, der ihm wahrscheinlich von der Arbeit beider als „Rausschmeißer“ („bouncers“) bei einem Latino-Nachtclub bekannt war.


Die sich seither national, aber auch weltweit ausbreitenden Manifestationen haben in den Vereinigten Staaten zu Tausenden von Verhaftungen geführt und eine Anzahl weiterer Leben auf Seiten der Polizei wie der Protestierenden gekostet. Unter den Resonanzbedingungen der Corona-Gegenwart lassen sie Vorstellungen eines Bürgerkriegs aufflackern und markieren den bisherigen Höhepunkt der Bewegung „Black Lives Matter“, welche seit 2012 den Verbrechen solcher Strukturen mittels elektronischer Technologien, aber auch durch Gesten von öffentlichen Protagonisten, vor allem Sportlern, intensivere Aufmerksamkeit denn je gegeben hat. Unabhängig von ihrer politischen Orientierung verurteilt heute eine deutliche Mehrheit der amerikanischen Bürger Taten wie die von Derek Chauvin, drängt auf harte Bestrafung und sehnt sich nach Maßnahmen des Staats zu ihrer Unterbindung.

Am 25. Mai 2020 kommt der Afroamerikaner George Floyd bei einem Polizeieinsatz ums Leben. Der 46-Jährige starb, nachdem ein Polizist während einer Festnahme 8 Minuten und 46 Sekunden auf Floyds Genick kniete, bis jener erstickte. Der Gewaltakt in der Stadt Minneapolis führte in den gesamten USA und weltweit zu umfangreichen Protesten und teils gewaltsamen Ausschreitungen. Nach dem Tod Floyds wurden die insgesamt vier beteiligten Polizisten entlassen und wegen Verdachts auf ein Tötungsdelikt inhaftiert. Der Todesfall entfachte eine weltweite Diskussion um Rassismus.
Am 25. Mai 2020 kommt der Afroamerikaner George Floyd bei einem Polizeieinsatz ums Leben. Der 46-Jährige starb, nachdem ein Polizist während einer Festnahme 8 Minuten und 46 Sekunden auf Floyds Genick kniete, bis jener erstickte. Der Gewaltakt in der Stadt Minneapolis führte in den gesamten USA und weltweit zu umfangreichen Protesten und teils gewaltsamen Ausschreitungen. Nach dem Tod Floyds wurden die insgesamt vier beteiligten Polizisten entlassen und wegen Verdachts auf ein Tötungsdelikt inhaftiert. Der Todesfall entfachte eine weltweite Diskussion um Rassismus.

Uns weißen Amerikanern den eigenen Rassismus vor Augen zu halten, wie es viele europäische Medien dieser Tage mit Herablassung empfehlen und praktizieren, wird Lösungen des brennenden Problems nicht beschleunigen. Statt uns selbst und der Welt wieder einmal mit zur Inflation werdenden Solidaritätsadressen die besten Absichten unter Beweis zu stellen, müssen wir schärfere Fragen als bisher formulieren und ohne Furcht vor Tabus aus deprimierenden Antworten Forderungen für endlich wirksame Strategien unserer Institutionen ableiten. Vier Probleme stehen im Vordergrund. Wie lässt sich die Kontinuität von Gewaltverbrechen staatlicher Organe gegen Mitglieder der afroamerikanischen Minderheit erklären, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung solche Akte ablehnt? Dies ist die Frage nach dem wirklichen, „systemisch“ zu nennenden Rassismus, wie er sich gegen den Protest einer Mehrheit von Amerikanern durchsetzt. Warum treffen zweitens Aggressionen die schwarze Minderheit so viel härter als die lange nach ihr zu einem Teil der amerikanischen Gesellschaft gewordenen asiatischen und Latino-Gruppen? Warum haben drittens die anti-rassistischen Programme unserer Erziehungsinstitutionen seit der „Civil Rights“-Bewegung der 60er-Jahre nicht einmal zu Ansätzen von Erfolg geführt? Und kann man schließlich sagen, dass die gegenwärtige Regierung konstruktiv an einer Verbesserung der Situation arbeitet – oder sind Donald Trumps einschlägige Maßnahmen tatsächlich als rassistisch zu verurteilen?


Der systemische Rassismus setzte ein mit der Abschaffung von Sklaverei als deutlichster Manifestation des expliziten Rassismus am Ende des amerikanischen Bürgerkriegs. Wie eine nüchterne Netflix-Dokumentation unter dem Titel „Thirteenth“ beweist, kondensierte der 1865 eingeführte dreizehnte Zusatz („Amendment“) zu unserer Verfassung dieses Paradox. Denn er schaffte – im zweifellos gut gemeinten Wortlaut – „Sklaverei oder unfreiwillige Knechtschaft ab“, um sie „als Strafe für Verbrechen“ wieder einzuführen. Tatsächlich ging bald schon von einer Wirtschaft, die Millionen unbezahlter Arbeitskräfte verloren hatte, der Druck aus, möglichst viele ehemalige Sklaven durch harte Urteile für minimale Übertretungen zu unbezahlten Arbeitern ohne politische Rechte zu machen. „Convict Leasing“ war der Begriff, unter dem sich die amerikanischen Gefängnisse zum ersten Mal mit schwarzen Männern füllten.

Die auf diesen Beginn zurückweisenden Statistiken unserer Gegenwart sind drastisch. Etwa fünf Prozent der Weltbevölkerung lebt in den Vereinigten Staaten, wo mit über zwei Millionen Menschen ein Viertel aller Häftlinge weltweit in Gefängnissen gehalten wird. Gute 40 Prozent von ihnen sind afroamerikanische Männer, deren Anteil an der nationalen Bevölkerung unter sieben Prozent liegt. In der langen Zeit seit Ende des Bürgerkriegs hat sich jene Ausgangssituation durch zwei Bewegungen erhalten – und verschärft. Neben dem „Convict Leasing“ führten die besiegten Südstaaten vielfach lokale Gesetze („Jim Crow Laws“) ein, welche die Segregation und brutale Hierarchie der scheinbar überwundenen alten Gesellschaft erneuerten.


Auf ihre Aufhebung richtete sich seit den 1960er-Jahren unter der Führung des Obersten Bundesgerichts in Washington die „Civil Rights“-Bewegung. So wie die gesetzlichen Konsequenzen der „Civil Rights“ dem Sieg der Nordstaaten im Bürgerkrieg entsprachen, wurde ihre soziale Wirkung – erneut, wie schon nach 1865 – durch die von allen Präsidenten seit Richard Nixon betriebene Law and Order-Maschine eines staatlichen „Kriegs gegen Drogen“ neutralisiert. In seinem Verlauf hat sich die Zahl der amerikanischen Häftlinge zwischen 1970 und 2010 versechsfacht. Doch es geht um mehr als eine fatale historische Wiederholung.


Denn die Ausbeutung der Häftlinge und die Zerstörung ihrer je individuellen Zukunft ist in das ungeahnte Maß von heute erst umgeschlagen aufgrund einer Privatisierung („Outsourcing“) der „Gefängnisindustrie“, der viele Bundesstaaten mittlerweile bestimmte Quoten von unbezahlten Arbeitskräften pro Jahr „schulden“. Hier zeichnet sich nun eine zweite Antwort auf die erste Frage, die Frage nach den schwer sichtbaren Strukturen des systemischen Rassismus ab. In der Tradition der Vereinigten Staaten hat sich – parallel zu einer bemerkenswerten Stärke der Judikative auf bundesstaatlicher Ebene – eine profunde Schwäche der Exekutive ausgebreitet. An ihrem Beginn stand ein Affekt gegen den britischen Kolonialstaat auf der Seite von Revolutionären, die dann auch dem neuen eigenen Staat nicht zu viel Raum lassen wollten. Heute setzt sich dieser Affekt gegen einen starken Staat nicht nur in einer endlosen Privatisierungseuphorie fort und in einer flagranten Schwäche staatlicher Bildungssysteme. Verantwortungslosigkeit im Blick auf den Staat manifestiert sich auch – wenn wir an den Tod von George Floyd denken – in der skandalösen Doppelprämisse, nach der die Bouncer-Tätigkeit bei einem Nachtclub einerseits zur positiven Voraussetzung für die Karriere eines weißen Polizeibeamten wird, während sie andererseits einen schwarzen Delinquenten als besonders Gewalt-affin erscheinen lässt.

Auch solche Bilder gehören zu den Protesten nach dem Tod des US-Amerikaners George Floyd. Bei Protesten kam es vielerorts zu Krawallen und Plünderungen. Seit Tagen kommt es in Washington, New York und anderen Metropolen zu Demonstrationen gegen Polizeigewalt, Rassismus und soziale Ungerechtigkeit. Am Wochenende haben sich weltweit Hunderttausende Menschen den Protesten angeschlossen. Auch in Deutschland gingen Menschen in zahlreichen Städten auf die Straße, besonders viele waren es in München mit rund 25.000 Teilnehmern. Kritik gab es an den deutschen Demos, weil der wegen der Corona-Pandemie geltende Mindestabstand nicht überall eingehalten wurde. Die Demonstrationen in Deutschland verliefen weitgehend friedlich, einige Vorfälle gab es aber: In Hamburg etwa kam es im Anschluss an die Proteste zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. In Berlin wurden aus einer größeren Gruppe heraus laut Polizei Steine und Flaschen auf Polizisten und Passanten geworfen. Auch in Stuttgart gab es mehrere Zwischenfälle.
Auch solche Bilder gehören zu den Protesten nach dem Tod des US-Amerikaners George Floyd. Bei Protesten kam es vielerorts zu Krawallen und Plünderungen. Seit Tagen kommt es in Washington, New York und anderen Metropolen zu Demonstrationen gegen Polizeigewalt, Rassismus und soziale Ungerechtigkeit. Am Wochenende haben sich weltweit Hunderttausende Menschen den Protesten angeschlossen. Auch in Deutschland gingen Menschen in zahlreichen Städten auf die Straße, besonders viele waren es in München mit rund 25.000 Teilnehmern. Kritik gab es an den deutschen Demos, weil der wegen der Corona-Pandemie geltende Mindestabstand nicht überall eingehalten wurde. Die Demonstrationen in Deutschland verliefen weitgehend friedlich, einige Vorfälle gab es aber: In Hamburg etwa kam es im Anschluss an die Proteste zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. In Berlin wurden aus einer größeren Gruppe heraus laut Polizei Steine und Flaschen auf Polizisten und Passanten geworfen. Auch in Stuttgart gab es mehrere Zwischenfälle.

Doch warum hat der staatliche Krieg gegen Drogen, die doch vor allem aus Mittel- und Südamerika kommen, die zentrale Energie des Rassismus nicht auf die Latinos verschoben? Hier wirkt ein auf die Sklaverei zurückgehendes Stereotyp in seiner vollen Komplexität nach. Arbeiter aus Afrika und ihre Familien galten als „animalisch“ – was erklärt, warum bis heute global vorausgesetzt wird, dass schwarze Athleten besonders leistungsfähig und Frauen schwarzer Hautfarbe besonders empfänglich für erotische Impulse sind (Vergewaltigungen afroamerikanischer Frauen durch weiße Männer haben eine unerträglich hohe Wahrscheinlichkeit). Als Produkt aus der Verfugung dieses Syndroms im sozialen Wissen mit der Struktur der Strafinstitutionen schafft der systemische Rassismus objektive Fakten. Die Gefahr, dass die Konfrontation mit einem afroamerikanischen Mann in Gewalt umschlägt, ist tatsächlich hoch, und seine Chance, als Vorbestrafter zu einem Leben ohne Konflikte zurückzukehren, neigt sich gegen Null.


Dies gilt, obwohl die besten – und reichsten – privaten Schulen wie Universitäten den Afroamerikanern längst vielfältige Qualifikationsmöglichkeiten eröffnet haben, die vor allem junge Frauen mit national sichtbaren Folgen nutzen. Inhaltlich jedoch beruht diese Umkehr auf der höchst akademischen Voraussetzung, dass soziale Gruppen „Konstruktionen von Wirklichkeit“ sind. Sie ermutigt aufs immer Neue die mittlerweile zu einem leeren Ritual gewordene „Dekonstruktion“ des Bildes vom afrikanischen Sklaven, die laute Klage über „Identitäten“, denen nicht hinreichend symbolische Gerechtigkeit zuteilwird, und auch die Anklage von allerhand politisch inkorrekten Wortgebräuchen als „verbale Gewalt“. Zugleich werden diese Rituale des guten Willens zu einer Mauer, hinter der die strukturelle Gewalt des systemischen Rassismus ebenso in Vergessenheit gerät wie der Unterschied zwischen physischer Gewalt und verbaler Unhöflichkeit.


Donald Trump hat auf die vom Mord an George Floyd ausgelösten Unruhen mit dem Rekurs auf die ihm unterstellte Law and Order-Exekutive reagiert. Vor allem droht er die „gnadenlos höchsten Gefängnisstrafen“ für Akte protestierender Gewalt an – und aktiviert damit das zentrale Instrument des systemischen Rassismus. Dabei würde sich unser Präsident gewiss auch – falls nötig – für eine harte Bestrafung von Derek Chauvin einsetzen. Inzwischen hat die Eskalation einen neuen Höhepunkt erreicht: Zum ersten Mal wurden nächtliche Ausgangssperren selbst über sonst konfliktfreie Gemeinden an der Westküste verhängt. Anlass zur Hoffnung geben vorerst nur einige private Unternehmen. „Nordstrom“, die exklusive Warenhausgruppe, deren Geschäfte in mehreren Städten geplündert wurden, verzichtet auf Schadenersatzansprüche mit der öffentlich vollzogenen Einsicht, dass „Gewalt die einzige verbleibende Sprache ist, mit der afroamerikanische Mitbürger auf ihre gerechten Forderungen aufmerksam machen können“. Es gibt keinen Grund zum Zweifel an dieser Einsicht – und dringenden Anlass für uns Amerikaner, sie ernst zu nehmen.

Dieser Artikel ist am 05. Juni unter dem Titel „Wie kann es immer wieder zu Gewalt gegen Afroamerikaner kommen – wenn doch eine Mehrheit solche Akte ablehnt?“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.


Titelbild: 

| Gayatri Malhotra / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

| munshots / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link

| Donovan Valdivia / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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