ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Von Donald Trumps Sieg über Hillary Clinton erfuhr ich auf dem Flug zu einer Podiumsdebatte in Berlin, wo die Entscheidung über die Nachfolge von Präsident Obama diskutiert werden sollte. Die eigenartig ambivalente Reaktion jenes Moments hat sich eingeprägt: Zum Einen empörte Überraschung, dass geschehen war, was, wie ich glaubte, aus moralisch-politischen, aber auch aus prognostisch-empirischen Gründen nicht hätte geschehen dürfen; zum anderen die eher überraschende Intuition, dies eigentlich schon immer geahnt, ja gewusst zu haben. Mittlerweile lässt sich keinesfalls mehr ausschließen, dass uns ähnliche Gefühle in verstärkter Version am nächsten 4. November einholen werden, obwohl ja, zumal in Europa, die Überzeugung seit 2016 nur gewachsen ist, dass dies nicht der Fall sein kann – und darf.
Doch wo steckt die besondere Herausforderung eines Nachdenkens über Trump-Wahlen und die Irritation, die jene Ambivalenzen der Vergangenheit und möglicherweise der Zukunft erklärt? Fest steht, dass der 45. Präsident der Vereinigten Staaten sein Diskontinuitätsversprechen ohne Zögern erfüllt hat. Eine politische Praxis dieses Stils hatte noch niemand gesehen, und nur wenige Beobachter hielten ihre Institutionalisierung über eine ganze Legislaturperiode für möglich. Das hat Trumps Ansehen bei der Mehrheit seiner Anhänger bestärkt und andererseits die Standardbefürchtungen unter Intellektuellen verschärft (nur wenige von ihnen machen irgendwelche Konzessionen).
Vor allem relativiert der Grad von Trumps Abweichung alle Erfahrungswerte aus der Geschichte amerikanischer Politik (zumal in Bezug auf den Erstfall eines Wahlkampfs mit einem solchen Präsidenten als Kandidaten), während noch kaum adäquate neue Begriffe zur Verfügung stehen, um seine Politik zu analysieren und ihre Folgen hochzurechnen. Trump als „Faschisten“ zu verunglimpfen, reicht jedenfalls nicht, weil er eine Rückkehr zu Traditionen des Totalitarismus nicht anvisiert. Selbst die üblichen, sonst innerhalb einer gewissen Marge zuverlässigen Umfragen, nach denen der Herausforderer derzeit wohl führt, sind außer Kraft gesetzt, weil man weiß, dass Trumps Bewunderer mit ihren Gefühlen in Situationen und Gesprächen der Öffentlichkeit hinter dem Berg halten.
Überhaupt leiden europäische Urteile mit Blick auf die amerikanische Politik oft unter Verzerrungen, die sich aus überzogenen Annahmen einer Analogie zu eigenen Situationen ergeben. Dies beginnt mit dem regelmäßig wiederkehrenden und ostentativen Unverständnis gegenüber einem Mechanismus, der seit zweieinhalb Jahrhunderten die Wahl des amerikanischen Präsidenten nicht direkt an die Mehrheit der abgegebenen Stimmen bindet.
Dann hatte schon Karl Marx beobachtet, dass der typische amerikanische Bürger abweichend von Europäern die Funktionen des Staates begrenzt halten will, was unter heutigen Bedingungen auch bedeutet, dass er den Versprechen des Wohlfahrtsstaats keine Priorität gibt. Authentizität hingegen im Sinn einer Persönlichkeit, der ihr Herz auf der Zunge zu liegen scheint, wird selbst unter Evangelikalen als ein Wert geschätzt, der sogar moralische Unbeflecktheit aussticht. Und schließlich gehören zum Marathon des amerikanischen Wahlkampfs plötzlich auftretende Dynamiken, welche die Vernunftübung des politischen Pro und Contra und die auf ihnen begründeten Voraussagen relativieren. Sich kollektiv wie individuell signifikant anders zu verhalten als die meisten Europäer, dies muss ab und an betont werden, spricht nicht schon an sich gegen die Amerikaner.
Im Bewusstsein solcher Problemvoraussetzungen möchte ich eineinhalb Monate vor dem Wahltag meine Eindrücke als Bürger der Vereinigten Staaten und als Trump-Skeptiker in sechs Thesen formulieren. Dabei soll es weniger um eine Prognose gehen als um die Entwicklung von Fragen, Begriffen und möglichen Blickwinkeln, mit deren Hilfe die üblich dumpfe Entrüstung über Donald Trump in ein prägnantes Verstehen der von ihm ausgelösten neuen Gegenwart übergeführt werden kann.
Erste These: Die Entscheidung des 3. November 2020 wird allein von der Unterstützung oder der Ablehnung Donald Trumps durch die Wähler abhängen. Es geht bei allen auf den 3. November gerichteten Debatten gleichsam – in Anspielung auf den ursprünglich deutschen Familiennamen „Trumpf“ – um eine doppelte Trump-Karte, nämlich um die beiden klar entgegengesetzten Reaktionen auf den gegenwärtigen Präsidenten und nicht wie sonst um eine Auseinandersetzung oder einen Wettbewerb zwischen den Kandidaten zweier verschiedener Parteien.
Damit findet eine nationale und internationale Mediensituation ihre Fortsetzung, die inzwischen über mehr als vier Jahre und unabhängig von politischen Positionen ausschließlich auf Trump fixiert war. Die New York Times etwa soll finanzielle Probleme mit erhöhten Verkaufszahlen in ihrem neuen Status als Pflichtlektüre der Trump-Gegner gelöst haben, indem sie alle laufenden Nachrichten über den Präsidenten notiert und in Vorwürfe überführt.
Joe Biden und Kamala Harris die Stimme zu geben, wird vor allem bedeuten, sich gegen die Fortsetzung von Trumps Präsidentschaft zu engagieren. So sind die Programme der beiden Demokraten im Hintergrund geblieben – und gerade dies könnte sich als richtige Strategie erweisen. Gewiss wird Biden auch gut beraten sein, die üblichen Fernsehdebatten zu meiden, in denen er Trumps skrupellose und kaum zu kontrollierende Aggressionen über sich ergehen lassen müsste.
Umgekehrt formuliert: Die Konvergenz aller Gründe und Formen der Trump-Ablehnung als Wahlmotivation könnte den Demokraten zum Sieg reichen, zumal mediale Unsichtbarkeit ja auch das Risiko von Performanzfehlern und überraschenden Kontroversen herabsetzt. Dies gilt sogar für die offenbar vielfach kompetente Kamala Harris mit ihrem Identifikationspotenzial für zwei demografisch starke Minderheiten. Selbst „decency“, der vage Wertbegriff, den Trump-Gegner mit Harris und Biden assoziieren, verweist sofort auf den Narzissmus und das mangelnde Rechtsbewusstsein des Präsidenten.
Zweite These: Donald Trump hat die für seine Anhänger substanziellen Versprechen von 2016 verwirklicht und zunehmend verkörpert. Auch wenn der Bau jener berühmten Mauer an unserer südlichen Grenze nicht über ein paar Meilen hinausgekommen ist, hat der Präsident mit den Verhaltenskonventionen der Politiker von Washington gebrochen. Derart eindeutig folgt er seinen Businessprinzipien, dass ihm Konflikte zwischen dem Amt im Weißen Haus und der Beförderung eigener finanzieller Interessen wohl tatsächlich entgehen. Als entscheidend für die Wahrnehmung seines auf täglich neue Konstellationen reagierenden Verhaltens erweist sich das Ausbleiben von Kohärenz oder Projekten, an denen sich der Präsident messen ließe. Aus solchen Leerstellen entstehen gelegentlich – wie im Fall der frühen Gespräche mit dem nordkoreanischen Machthaber – neue Konstellationen, die er beileibe nicht immer verfolgt.
Neben diesem Ausspielen des Kontrasts zu den Berufspolitikern ist es Trump gelungen, sich weiter als Referenzgestalt des populären weißen Traums von einer vergangenen, vor allem einfachen „Größe Amerikas“ zu inszenieren, einer „Größe“, die Eliten ebenso wie kulturelle Minderheiten auf Distanz hält. In der Wirtschafts- und der Militärpolitik schließlich hat er sich deutlicher als seine Vorgänger an den elementar nationalstaatlichen Grundsatz des „America first“ gehalten, der in seinem Kontrast zur eigenartig altruistischen Rhetorik innerhalb der Europäischen Union dauernd überflüssigen Unmut auslöst. Denn zu „America first“ gehörte auch die Abkehr von einer durch Weltmachtstrategien geprägten Außen- und Militärpolitik, weil sie Staatsausgaben langfristig reduzieren könnte.
Dritte These: Als Präsident hat Donald Trump Formen einer Kommunikation ausgebildet, die sich in inhaltsfreier Resonanz bei seinen Anhängern erfüllen – und vor allem aus dem Eindruck von Authentizität ein Immunsystem gegen Kritiken und Vorwürfe jeder Art gebildet haben. Vor etwa zwei Wochen behauptete die Presseabteilung des Weißen Hauses, dass der Präsident von Anfang an die mit dem Coronavirus verbundenen Gefahren für die amerikanische Bevölkerung erkannt, aber diese bewusst heruntergespielt habe, um Panikausbrüche zu vermeiden.
Aus kritischer Perspektive gefasst (und mit der eher problematischen Unterstellung, jener Kommentar aus dem Weißen Haus entspreche irgendeiner Wahrheit): Der Präsident hat die Bürger seines Landes belogen und dabei Zehntausende von vermeidbaren Todesfällen hingenommen. In der Resonanzbeziehung zu seinen Anhängern ist Trump aber gegen solche Vorwürfe immun geworden, weil sie ihn als ersten – unüberbietbar authentischen – Präsidenten schätzen, „der wenigstens zugibt, uns belogen zu haben“. Nach dieser „Logik“ hat Trump nicht nur Anklagen wegen sexueller Übergriffe oder wegen Steuerhinterziehungen, sondern auch ein offenbar juristisch gut fundiertes Amtsenthebungsverfahren ausgesessen. Nicht zu reden von der ihm gegenüber grotesken Wirkungslosigkeit aller „Fact check“-Bemühungen, die ja auch andere in Wahlkämpfen erfolgreiche Politiker nicht gut aussehen ließen.
Vierte These: Mit seinem Stil der politischen Inkonsistenz hat es Donald Trump geschafft, das Thema der Corona-Krise von der für den 3. November anstehenden Entscheidung zu isolieren. An die Stelle der noch im Frühjahr dominierenden Inkohärenz zwischen verschwörungstheoretischen Vorwürfen, nach denen die Volksrepublik China das Virus als Instrument zur Erlangung der Weltherrschaft eingesetzt haben soll, und der Leugnung aller internen gesundheitlichen Gefahren durch den damals noch strikt maskenverweigernden Donald Trump ist mittlerweile das Medienbild eines Präsidenten getreten, der ab und an Masken trägt (oder auch nicht). Genauso verspricht er einerseits in der Rolle des nationalen Erzengels einen definitiven Impfstoff bis zum Jahresende, und andererseits setzt er vielleicht auf einen Prozess hin zu (begrifflich nicht erfasster) Herdenimmunität.
Solche Diffusität verträgt sich mit einer durch regionale Differenzen gekennzeichneten Corona-Situation im Land und profitiert von der Erfahrungstatsache, dass nur wenige meiner Landsleute je nationale Krisensituationen mit der Verarbeitung ähnlicher Probleme außerhalb der Vereinigten Staaten vergleichen (was ihr gutes Recht ist). Ob sich allerdings langfristig und retrospektiv angesichts aller virologischen, diagnostischen und statistischen Ungewissheiten die von den meisten europäischen Staaten bevorzugten kohärenten (aber deutlich untereinander abweichenden) Strategien als politisch erfolgreicher erweisen werden, bleibt weiterhin offen. Noch ist unklar, welche Politiker am Ende von der Pandemie profitiert haben werden.
Fünfte These: Auf der Trump-fixierten Medienbühne hat der Präsident das Erleben der noch im Frühjahr seine Wiederwahl immer unwahrscheinlicher machenden „Black Lives Matter“-Bewegung umgepolt in das apokalyptische Szenario der Bedrohung aller „guten Amerikaner“ durch ein Chaos, von dem sie angeblich allein Donald Trump als Verkörperung aller „Law and Order“-Hoffnungen erlösen kann. Der von Joe Biden regelmäßig vorgetragene, natürlich zutreffende Einwurf, dass diese oft als „bürgerkriegsähnlich“ heraufbeschworene Situation in „Trumps Amerika“ entstanden ist (und wohl vom Präsidenten bewusst geschürt wird), verfehlt aufgrund der Aufhebung der Kohärenzerwartungen bei seinen Anhängern jede Wirkung – und ist für die Trump-Gegner ohnehin selbstverständlich.
Jedenfalls kann die laufende Debatte über die Verantwortung für das Entstehen gewaltsamer Konfrontationen nicht die Vorwahllogik des „Doppel-Trump“ brechen. Jedenfalls muss es die als Wechselwähler identifizierten Bewohner der „suburbs“ beeindrucken, dass die Unruhen oft in Gewalt umschlagen und sich vor allem in demokratisch regierten Bundesstaaten und Städten ereignen; das könnte sich zum Vorteil des Präsidenten auswirken.
So zeigte die aus dem Weißen Haus übertragene „Nomination Speech“ für den republikanischen Wahlparteitag, bei der sich Trump fast durchgängig an einen vorgegebenen Text hielt, welche Dynamik zugunsten seiner Wiederwahl sich aus dieser Spannung ziehen lässt. Unter Verwandlung des Amtssitzes in ein „Heim“ trat ein von seiner Familie umrahmter Präsident als Vater all jener „guten Amerikaner“ auf, denen er die Rückkehr zu nationaler Größe verspricht. Dass sie davon träumen, mit Trump das Weiße Haus zu bewohnen, führte zur rhetorisch zentralen Antwort auf die Frage nach dem Unterschied zwischen dem Präsidenten und seinen (sonst kaum erwähnten) Herausforderern: „We are here – and they are not.“
Solange die Doppel-Trump-Logik gilt, sollte wohl mitgehört werden, lebt das gute Amerika „in Gesetz und Ordnung“. Um die einfache Harmonie dieser Welt zu erhalten, hat Trump – innerhalb einer außergewöhnlich langen Planungsspanne – für den Fall einer Wahlniederlage das Vertrauen auf die demokratischen Institutionen untergraben. Als Machiavellismus der Machterhaltung in letzter Konsequenz und auch als Überschreitung einer Grenze hin zur Pathologie in Trumps Rhythmus der Diskontinuität haben mich diese Gesten zum ersten Mal sprachlos gemacht. Doch weil der Präsident seine Ziele auch hier kaum verhüllt, fassen seine Anhänger das Verhalten als authentisch auf – mit den sich daraus stets ergebenden Immunwirkungen. Nur bei einer kleinen Gruppe potenzieller Wähler hingegen scheinen Trumps gelegentlich raunende Anspielungen auf „dunkle Antifa-Verschwörer in Uniform“ Glauben zu finden. Aber auch deren Stimmen werden zählen.
Sechste These: Meine Hoffnung auf eine neue Stärke der klassischen Strukturen amerikanischer Politik – jenseits der Doppel-Trump-Logik – setzt auf ein Umschlagen des vagen Decency-Prädikats in eine erneute Wertschätzung konkret demokratischer Werte und Rituale. Als entscheidend muss sich bei den Wahlanalysen nach dem 3. November natürlich die Zahl jener Wechselwähler herausstellen, die wegen seines Mangels an „decency“ gegen Trump gestimmt haben werden.
Bis dahin spricht vieles dafür, dass sich Joe Biden und Kamala Harris weiter damit begnügen, alle Steine möglichen Anstoßes zu vermeiden. Selbst differenzierte Kommentare zu den Spannungen im Zentrum der Städte haben ein Potenzial, mehr Angst an ihrer Peripherie auszulösen. Unabhängig vom Ausgang der Wahl jedoch könnte mittelfristig eine Bewegung einsetzen, wie sie nach zwei Legislaturperioden unter dem oft ungeschickten – aber keinesfalls Diskontinuität verkörpernden – George W. Bush einen Barack Obama ins Weiße Haus brachte. Ich meine die über „decency“ hinausgehende Sehnsucht nach der Ästhetik und der Prägnanz jener institutionellen Formen, dank denen unser Rechtssystem die Flurschäden von Trumps Stil begrenzt gehalten hat. Dann könnte eines Tages die Stunde von Kamala Harris (als Vizepräsidentin oder als Politikerin der Opposition) schlagen – und die Stunde einiger junger Frauen aus dem House of Representatives, unter denen mich besonders die dreißigjährige Juristin Alexandria Ocasio-Cortez begeistert, mehr noch mit kompakter Rhetorik und ihrer energischen Anmut als mit den politischen Inhalten. Bis dahin wird vielen Amerikanern der politische Zustand unserer Nation weiter peinlich bleiben – so oder so.
Titelbild:
| Jon Tyson / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Dalton Caraway / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
| Mike Von / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm