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Culture-Clash im Corona-Chaos
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Leben mit dem Virus

Culture-Clash im Corona-Chaos

von Hans Ulrich Gumbrecht | Zeppelin Universität
04.08.2021
Neben all den logistisch anspruchsvollen und nervösen Augenblicken hat mir das Reisen im entschleunigten Alltagsrhythmus der Spät-Covid-Zone auch einige schon verloren geglaubte Formen des Erlebens zurückgegeben.

Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessur für Literaturwissenschaften
 
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    Zur Person
    Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund. 

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Unsere Pandemie beginnt, eine Geschichte zu haben. Als ich Mitte März 2020 mit einem „vorerst letzten“ Flug von Europa nach Kalifornien gekommen war, rechneten wir wöchentlich mit einer „Rückkehr zur Normalität“. Jener Status ist längst zum – viel belachten – ersten Kapitel der Pandemie-Geschichte geworden.

Es folgten apokalyptisch gestimmte Projektionen aus wachsender Ungewissheit, die sich für „schonungslos realistisch“ hielten. Die Weltwirtschaft, seit dem Kollaps von 1929 ohnehin ein Gegenstand wilder und beständig von neuen Wirklichkeiten widerlegter Spekulationen, steuere kurzfristig auf eine Implosion und auf tödliche Versorgungsengpässe zu, von den kollektiv-psychischen Folgen stillgelegten Auslaufs im Raum gar nicht zu reden.

An die Stelle solcher heute ziemlich hysterisch wirkenden Prognosen und auch realen Ängste traten dann im vergangenen Sommer nüchterne Voraussagen, die sich weitgehend und zunächst überregional bewahrheiten sollten. Die Entwicklung medizinisch zuverlässiger Impfstoffe werde bis Ende des Jahres in Anspruch nehmen. Für ihre Erprobung und Legalisierung sei mit weiteren Monaten zu rechnen, bevor schließlich im Frühjahr 2021 nationale Impfaktionen der Pandemie ein Ende setzen würden.

Zugleich etablierten sich – wenigstens in Europa und Nordamerika – Horizonte überraschend positiver persönlicher Erfahrungen mit der neuen Situation. Die Wirtschaft überlebte nicht nur, sie verhalf gewissen Branchen und geschickten Investoren zu sensationellen Gewinnspannen. Und im Blick auf das private Leben wurde es bald zur Konvention, den verlangsamten Rhythmus des Alltags als Vorgabe für neue Formen der Beschaulichkeit hochleben zu lassen. Eines nicht sehr fernen Tages, hörte man immer häufiger, würden wir die langen Abende zu Hause, die Ruhe zu ausführlichen Gesprächen oder Lektüren und vor allem das Arbeiten aus dem Homeoffice schmerzlich vermissen.

Diese scheinbar auf ein Ende der Pandemie zulaufende Gesamtkonstellation hat sich zwischen den Sommern von 2020 und 2021 zum Zustand einer neuen Gegenwart verhärtet – und intern an Komplexität zugenommen. Weltweit halten die öffentlichen Diskurse der Medien und der Politiker zwar an der Annahme fest, dass die berühmte Rückkehr zur Normalität grundsätzlich in Aussicht stehe, wenn auch aufgrund nicht vorhergesehener Komplikationen – neuer Virusvarianten etwa oder schwer zu überwindender Impfmüdigkeiten – die ursprünglichen Voraussagen über ihren Zeitpunkt nicht ganz einzuhalten seien. In dem Maß, wie sich nichts mehr bewegt, ist aus der Post-Covid-Prognose ein Spät-Covid-Dauerzustand geworden.

Die Fallzahlen steigen, die Impfbereitschaft sinkt: Die Coronavirus-Pandemie ist in den USA, der Heimat von ZU-Gastprofessor Hans Ulrich Gumbrecht, noch lange nicht überwunden. Knapp 60 Prozent der gesamten Bevölkerung in den USA sind einmal geimpft, knapp die Hälfte hat den vollständigen Impfschutz. Zu wenig, sagen Experten, und schlagen Alarm. Nach dem die Impfkamapgne rasant angelaufen war und im April mehr als drei Millionen Menschen täglich geimpft wurden, ist die Zahl nun auf 600.000 Personen Mitte Juli zurückgegangen. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Neuinfektionen seit dem vergangenen Monat wieder stark zu: 118.000 neue Fälle wurden zuletzt binnen 24 Stunden registriert. Das waren so viele wie seit Februar nicht mehr. Die hochansteckende Delta-Variante des Virus breitet sich derzeit auch in den USA rasend schnell aus. Sie sorgte dafür, dass die Zahl der Todesfälle in den vergangenen Wochen um 89 Prozent gestiegen ist und zunehmend Kinder und junge Menschen schwer erkranken.
Die Fallzahlen steigen, die Impfbereitschaft sinkt: Die Coronavirus-Pandemie ist in den USA, der Heimat von ZU-Gastprofessor Hans Ulrich Gumbrecht, noch lange nicht überwunden. Knapp 60 Prozent der gesamten Bevölkerung in den USA sind einmal geimpft, knapp die Hälfte hat den vollständigen Impfschutz. Zu wenig, sagen Experten, und schlagen Alarm. Nach dem die Impfkamapgne rasant angelaufen war und im April mehr als drei Millionen Menschen täglich geimpft wurden, ist die Zahl nun auf 600.000 Personen Mitte Juli zurückgegangen. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Neuinfektionen seit dem vergangenen Monat wieder stark zu: 118.000 neue Fälle wurden zuletzt binnen 24 Stunden registriert. Das waren so viele wie seit Februar nicht mehr. Die hochansteckende Delta-Variante des Virus breitet sich derzeit auch in den USA rasend schnell aus. Sie sorgte dafür, dass die Zahl der Todesfälle in den vergangenen Wochen um 89 Prozent gestiegen ist und zunehmend Kinder und junge Menschen schwer erkranken.

Unter dem vage beibehaltenen Konsensus hat sich mittlerweile jedoch ein scharfer Kontrast der Mentalitäten und der politischen Maßnahmen durchgesetzt. Während die Institutionen und wohl auch die sozialen Mehrheiten in den Ländern der Europäischen Union ihre Zukunftshoffnungen weiterhin an kontinuierliche Reaktionen auf den jeweils letzten Stand der allmächtigen Inzidenz-Statistiken binden, sehen es die meisten Amerikaner implizit und die britische Regierung explizit als Erfolg versprechender an, kontrafaktisch von einer Post-Covid-Lage auszugehen. Für die langfristige Zukunft, so unterstellt man eher stillschweigend, seien die Konsequenzen fortgesetzter sozialer Lähmung schwerwiegender als eine erhöhte Quote von Covid-Opfern. Maskenpflicht und soziale Distanz sind aufgehoben – trotz steigender Inzidenzzahlen.

Eine transkontinentale Reise, wie ich sie als Post-Covid-Amerikaner in den letzten Juni- und ersten Julitagen unternommen habe, wird so zum drastischen Erlebnis von Pandemie-Welten im Kontrast. Als einzige verbleibende Konvergenzzone sind mir Veränderungen in der Geschäftspraxis der Luftlinien aufgefallen, weil sie auf Kunden aus beiden Kontinenten bauen müssen und die Covid-Stimmung natürlich zur Plausibilisierung von Sparmaßnahmen nutzen.

American Airlines und Lufthansa etwa sind sich einig über eine zwölfstündige Maskenpflicht von San Francisco bis Frankfurt, ein auf die Frugalität bloßen Überlebens herabgestuftes Erfrischungsangebot in ihren Lounges und in Langstreckenmahlzeiten, denen es im Namen der Covid-Moral und im Nebeneffekt der Profitmaximierung gelingt, das horrende Niveau der alten Normalität zu unterbieten. Welche Hygienevorteile sollten weniger Kontakte mit der früher Snacks servierenden Besatzung schon bringen, wenn Passagiere in der Economy Class weiterhin in ihre engen Sitze auf Zentimeterabstand zueinander eingepfercht werden?

Meine Ankunft in der bayerischen Universitätsstadt kurz vor Geschäftsschluss an einem Samstag wurde zum verwirrenden Eintritt in eine bisher unbekannte Wirklichkeit. „Sie können hier nicht ohne FFP2-Maske eintreten“, schallte es mir im Ton authentischer Panik am Eingang eines Nordsee-Ladens entgegen, wo ich nun schon wirklich hungrig – und nostalgisch – ein Brötchen mit knallrotem Lachs kaufen wollte.

Zehn Minuten später hatte ich nicht nur den geforderten Mund- und Nasenschutz in einer Drogerie erstanden, sondern war auch in das Versprechen seines wissenschaftlichen Namens eingeweiht, was mir akzeptabel vorkam, bis eine Ansage im Intercity am nächsten Tag ankündigte, dass FFP2 beim Aussteigen in Gießen durch die hessische Vorzugsmaske zu ersetzen sei. Denn auch im Namen verschiedener Bundesstaaten konkurrierende Wissenschaftsansprüche müssen ihre Autorität wechselseitig unterlaufen.

Tatsächlich verunsichert fühlte ich mich also nach den ersten vierundzwanzig Stunden in der Europäischen Covid-Union. Sollten die Plastikhandschuhe am Frühstücksbuffet eine Gelegenheit bieten, mich als Mustergast zu erweisen, oder stand ich bei Nichtbenutzung unter Androhung einer ernsthaften Strafe? Die Strenge in der Verkörperung all dieser Regeln wirkte engagiert und stand umso mehr in (offenbar unbemerktem) Widerspruch zu individuellen Ausnahmen, die man sich allenthalben gestattete.

In einem Auditorium für etwa tausend Personen sollte ich vor sechzig Hörern auf Gesundheitsabstand reden, deren Reaktionen unter ihren Masken verborgen blieben. Im letzten Moment ließ sich die zuständige Stadtverwaltung dann darauf ein, ohne Ankündigung gut zweihundert weitere Interessenten einzulassen.

Die ständig wachsende Verwirrung steigerte sich mit jedem europäischen Grenzübergang. Nach einem Tag in Luxemburg, der nur aufgrund einer schriftlich dokumentierten Arbeitsverpflichtung zustande gekommen war, sollte die Weiterreise nach Spanien ohne spezifische Anforderungen verlaufen – bis ich am Flughafen erfuhr, dass seit vierundzwanzig Stunden die inzidenzabhängige und mit Verweis auf die Deltavariante begründete Auflage bestand, einen hochdetaillierten (und unzulänglich formulierten) Fragebogen für „Spain Travel Health“ elektronisch zu beantworten und bei Einreise ausgedruckt vorzulegen. Ohne den Entschluss einer Lufthansa-Angestellten, mir gegen die strikte Anweisung ihres Arbeitgebers zu diesem Ausweis zu verhelfen, wäre ich beim Umsteigen in Paris stecken geblieben.

Doch selbst diesen heiklen Schwellenmoment überbot der Morgen des transatlantischen Rückflugs in die Vereinigten Staaten. Einchecken war plötzlich aufgrund einer soeben aktivierten Vorschrift unmöglich geworden, auch doppelt geimpfte amerikanische Bürger nur unter Nachweis eines frisch vollzogenen Covid-Tests mit negativem Resultat ins Flugzeug zu lassen. Diesmal stellte mir der zuständige Vertreter einer Teststation im Terminal die geforderte Bestätigung ohne Test (aber nach Zahlung) aus und erklärte seine freundliche Entscheidung mit der trockenen Bemerkung, dass er die neue Maßnahme für unsinnig halte.

Zwischenbilanz: Einerseits hat unter fließender Inzidenzabhängigkeit jede offizielle Auskunft einen prekären, weil immer nur vorläufigen Status, und Passagiere stellen sich darauf mit voluminösen Mappen ein, in denen sie „für den Fall eines Falles“ jede denkbar relevante Bescheinigung parat halten. Andererseits hat sich offenbar angesichts dieser Überforderung von Individuen und Institutionen eine Bereitschaft breit gemacht, in Härtefällen großzügige Ausnahmen zu machen, die zur sympathischen Regel werden.

In Deutschland indes sind die Corona-Zahlen auf deutlich niedrigerem Niveau, doch auch hierzulande wird hart um den stockenden Fortschritt der Impfkampagne gerungen. Gleichzeitig mehren sich die Stimmen, nicht zurück in einen harten Lockdown zu verfallen. Die bundesweite Inzidenz stieg am 9. August auf 23,1. Als Reaktion haben sich die Gesundheitsminister der Länder dafür ausgesprochen, dass der Bundestag die vorerst bis 11. September bestehende epidemische Lage von nationaler Tragweite verlängert. Hintergrund sei, dass eine Fortführung von Infektionsschutzmaßnahmen auch danach absehbar sei, heißt es in einem Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz. Der Bundestag hatte zuletzt am 11. Juni festgestellt, dass die Sonderlage wegen der Corona-Pandemie fortbesteht. Die festgestellte Lage gibt dem Bund das Recht, direkt ohne Zustimmung des Bundesrates Verordnungen zu erlassen, etwa zu Tests, Impfungen, zum Arbeitsschutz oder zur Einreise. Zudem beziehen sich konkrete Maßnahmen wie Maskenpflicht oder Kontaktbeschränkungen, die die Länder festlegen können, laut Infektionsschutzgesetz auf die Feststellung dieser Lage.
In Deutschland indes sind die Corona-Zahlen auf deutlich niedrigerem Niveau, doch auch hierzulande wird hart um den stockenden Fortschritt der Impfkampagne gerungen. Gleichzeitig mehren sich die Stimmen, nicht zurück in einen harten Lockdown zu verfallen. Die bundesweite Inzidenz stieg am 9. August auf 23,1. Als Reaktion haben sich die Gesundheitsminister der Länder dafür ausgesprochen, dass der Bundestag die vorerst bis 11. September bestehende epidemische Lage von nationaler Tragweite verlängert. Hintergrund sei, dass eine Fortführung von Infektionsschutzmaßnahmen auch danach absehbar sei, heißt es in einem Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz. Der Bundestag hatte zuletzt am 11. Juni festgestellt, dass die Sonderlage wegen der Corona-Pandemie fortbesteht. Die festgestellte Lage gibt dem Bund das Recht, direkt ohne Zustimmung des Bundesrates Verordnungen zu erlassen, etwa zu Tests, Impfungen, zum Arbeitsschutz oder zur Einreise. Zudem beziehen sich konkrete Maßnahmen wie Maskenpflicht oder Kontaktbeschränkungen, die die Länder festlegen können, laut Infektionsschutzgesetz auf die Feststellung dieser Lage.

Auf der Hand liegt, dass dieser Stand der Praxis die europäischen Hoffnungen auf einen Post-Covid-Zustand herabsetzt, ja eigentlich fahren lässt. Trotzdem neigt eine Mehrheit der Kontinentaleuropäer weiter zur Beibehaltung aller Vorsichtsregeln, wie etwa die breite Empörung angesichts der vollen englischen Stadien bei der Europameisterschaft der Fußballnationalmannschaften bewies.

So wird die Spät-Covid-Situation zu einer unbeweglichen Gegenwart, mit der sich niemand anfreunden will. Gibt es Möglichkeiten, diese im wörtlichen Sinn verfahrene Situation in Bewegung zu bringen oder gar umzukehren?

Anders als der italienische Denker Giorgio Agamben sehe ich die Lage keinesfalls als Ergebnis einer politischen Manipulation mit dem Ziel fortschreitender Unterwerfung der Bürger an. Doch die widersprüchliche Gleichzeitigkeit zwischen der expliziten Hoffnung auf ein Covid-Ende und der Blindheit gegenüber jenen Einstellungen, welche gerade dieses Ende aufheben, müsste zu der Frage führen, ob sich nicht viele Europäer – anders als die meisten Briten und Amerikaner – vor- oder unterbewusst nach der Fortsetzung von bestimmten Dimensionen der späten Covid-Situationen sehnen. Welcher Impuls könnte hinter einer solchen Sehnsucht stecken?

Neben all den logistisch anspruchsvollen und nervösen Augenblicken hat mir das Reisen im entschleunigten Alltagsrhythmus der Spät-Covid-Zone auch einige schon verloren geglaubte Formen des Erlebens zurückgegeben. Ein Freund, der viel im Homeoffice arbeitet, bot mir statt der hektischen ICE-Reise ein mehrstündiges Gespräch bei einer Autofahrt zu weit über die Landstraße an.

Ich sah – seit Jahrzehnten zum ersten Mal – die beiden mittlerweile baufälligen Häuser wieder, in denen ich meine eher ungern erinnerte Kindheit verbrachte. Meine Tochter hatte Zeit für lange Spaziergänge durch den Pinienwald am Mittelmeer von Valencia. Und auf dem Rückflug war ich dann im Frankfurter Airport-Sheraton eine Nacht allein mit der sonst leicht aufzuschiebenden Frage, was aus der verbleibenden Zeit meines Lebens werden könnte.

Verbirgt sich hinter dem Spät-Covid-Widerspruch zwischen dem Festhalten an inzidenzbasierten Vorschriften und den permanenten Ausnahmen ein europäischer Mehrheitswunsch, am neuen Alltagsrhythmus der Spät-Covid-Welt festzuhalten? Natürlich behaupte ich nicht, mit der von dieser Frage heraufbeschworenen These richtigzuliegen. Eher geht es darum, dass man als exzentrischer Post-Covid-Reisender im Spät-Covid-Europa eine Spannung antrifft (und sogar von ihr profitiert), die vorerst die dortige Gegenwart lähmt.


Eben dieser Sachverhalt – der ständige Widerspruch zwischen Regeln und Ausnahmen – sollte zum Gegenstand öffentlicher Debatten und zum Bezugspunkt politischer Entscheidungen aufsteigen. Ein kontrafaktischer Post-Covid-Entschluss – wie in Großbritannien und den Vereinigten Staaten – zeichnet sich unter den Bürgern der Europäischen Union nicht ab. Doch vielleicht leben sie im vorbewussten Wunsch nach einer anderen Form der Existenz, einer Form der Existenz, deren Verwirklichung sie sich nicht zutrauen.

Dieser Artikel ist am 19. Juli unter dem Titel „Die Verwirrung steigert sich mit jedem neuen Grenzübergang“ in DIE WELT erschienen. 

Titelbild: 

| Ashim D'Silva / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

Rigel / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link

Roman Kraft / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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