ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Prof. Dr. Heribert Dieter ist seit 2021 Gastprofessor für internationale politische Ökonomie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee, nachdem er diese Gastprofessur bereits von 2013 bis 2019 bekleidet hatte. Seit 2017 ist er zudem außerplanmäßiger Professor an der Universität Potsdam. Zuvor war er Gastprofessor an der University of Hong Kong. Dieter wurde 1961 geboren und forscht zu internationalen Wirtschaftsbeziehungen an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er studierte von 1983 bis 1989 Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin, wo er 2005 auch seine Habilitation ablegte. Zu seinen aktuellen Forschungsvorhaben zählen die Untersuchung von Reformoptionen für die internationalen Finanzmärkte, die Analyse der Perspektiven der Europäischen Währungsunion und monetärer Kooperation in Asien sowie die Betrachtung der Position Deutschlands in der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts.
Zwanzig Jahre nach der offiziellen Einführung des Euro blicken viele Beobachter auf die Entwicklungen und Aussichten der gemeinsamen Währung zurück. Dabei haben sich viele Beobachter insbesondere auf die Bilanz der Europäischen Zentralbank (EZB) bei der Inflationskontrolle konzentriert. Die Auswirkungen der EZB-Politik auf den Rest der Welt wurden jedoch weitgehend ignoriert. Das ist überraschend, denn seit etwa 2010 verfolgen die Länder der Europäischen Währungsunion (EWU) eine Strategie der Unterbewertung, eine merkantilistische Geldpolitik.
Durch die Anwendung des niedrigsten Zinssatzes aller großen Zentralbanken hat die EZB den Euro zu einer schwachen Währung gemacht. Die Auswirkungen dieser Politik sind in erster Linie in Entwicklungsländern und weniger in anderen OECD-Ländern zu spüren. Die Politik der EZB hat dazu geführt, dass die Exporte des Euroraums gestiegen sind – auf Kosten der ärmeren Volkswirtschaften.
Die ultralockere Geldpolitik der EZB hat sich auf den Wechselkurs des Euro ausgewirkt. Er ist gegenüber den Währungen der OECD-Länder – insbesondere gegenüber dem Dollar – schwach. Das Ergebnis der EZB-Politik ist eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen aus der Währungsunion auf außereuropäischen Märkten. Zwischen 2010 und 2020 ist der Handelsbilanzüberschuss der Währungsunion von 29,4 Milliarden Euro auf 340,7 Milliarden Euro gestiegen. Aber warum kritisiert niemand diese Auswirkungen? Die Antwort ist ganz einfach: Washington ist nicht mehr an der Sache interessiert und die anderen Opfer der egoistischen Politik der EZB haben keine Stimme.
Das Desinteresse Washingtons an einer Kritik an den Europäern ist leicht zu erklären. Im Gegensatz zu Donald Trump hat Joe Biden den Kampf gegen die eigennützige Geldpolitik der europäischen Volkswirtschaften nicht in den Vordergrund gestellt. Viel wichtiger ist jedoch, dass die US-Wirtschaft floriert. Es gibt keinen Mangel an Arbeitsplätzen: Die Arbeitslosenquote ist im Januar auf dem niedrigen Niveau von vier Prozent geblieben und mehr als zehn Millionen Stellen sind unbesetzt. Joe Biden muss sich einfach keine Sorgen machen, dass der unterbewertete Euro-Kurs zu massiver Arbeitslosigkeit in den USA führt. Zugleich führt ein starker Dollar zu einer höheren Kaufkraft der US-Bürger sowohl im Inland – Importe sind billig – als auch im Ausland. Damit erleichtert die starke Währung die Inflationskontrolle, weil Importpreise aufgrund des starken Dollar weniger stark steigen.
Für die europäischen Bürger hat die Politik der EZB natürlich ganz andere Auswirkungen. Ein schwacher Euro schmälert ihre Kaufkraft – sowohl im Inland als auch im Ausland. Wer aber profitiert von der Strategie der EZB, den Euro zu schwächen? Das verarbeitende Gewerbe in der Eurozone. Die Aktionäre der Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes sowie die dort Beschäftigten wurden durch die erhebliche Unterbewertung der gemeinsamen Währung unterstützt. Innerhalb der Währungsunion erleben vor allem deutsche Unternehmen seit Jahren eine Phase anhaltend hoher Exporte.
Die Geldpolitik der EZB trägt zum Handelsbilanzüberschuss der Währungsunion bei. Während Brüssel immer wieder betont, dass es daran interessiert ist, ärmere Volkswirtschaften in Asien und Afrika zu unterstützen, hat der schwache Euro den gegenteiligen Effekt. Anstatt einen exportgetriebenen Wirtschaftsaufschwung in Europas südlicher Nachbarschaft zu fördern, trägt die Schwäche der Währung zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen in den EWU-Volkswirtschaften bei. Das ist natürlich ein willkommenes Ergebnis für die Europäer, aber es fördert so die Migration, weil Arbeitsplätze in den Volkswirtschaften der Währungsunion und nicht in Entwicklungsländern geschaffen werden. Eine ihrer Verantwortung und ihren eigenen langfristigen Interessen gerecht werdende Europäische Union sollte einen viel geringeren Handelsüberschuss haben oder mehr importieren als exportieren.
Wird sich die Situation ändern, wenn die Federal Reserve und andere Zentralbanken die Zinssätze anheben? Auch wenn eine Straffung der europäischen Geldpolitik jetzt notwendig erscheint, um eine weitere Erosion des Euro-Wechselkurses zu verhindern, wird sie doch zu spät kommen. Die europäischen Zentralbanker haben im Januar und Februar signalisiert, dass sie eine Abkehr von der ultralockeren Geldpolitik des vergangenen Jahrzehnts in Erwägung ziehen, aber Europa wird immer noch hinter den USA und anderen Volkswirtschaften zurückbleiben. Der Wechselkurs wird gegenüber dem Dollar auch deshalb nicht stark steigen, weil die Zinssätze in Europa – mit der bemerkenswerten Ausnahme Japans – bis auf Weiteres niedriger sein werden als anderswo.
Die EZB hat ein Szenario geschaffen, aus dem es keinen einfachen Ausweg gibt. Gelingt es ihr nicht, die Geldpolitik zu straffen, könnte sie mit einer Inflation konfrontiert werden, die eher dem Niveau in Italien vor der Währungsunion als dem damaligen deutschen Niveau entspricht. Da die Mitgliedsländer der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) die von der EZB geschaffene Atempause nicht genutzt haben, um ihre Haushalte nachhaltiger zu gestalten, könnte eine rasche Straffung einige Volkswirtschaften an den Rand des Abgrunds oder sogar darüber hinaus bringen.
Die oft zitierte Aussage von Mario Draghi – „Die EZB wird alles tun, was nötig ist, um den Euro zu erhalten.“ – signalisierte, dass die EZB bereit war, ihr Mandat zu erweitern. Heute müsste EZB-Präsidentin Christine Lagarde einen Schlussstrich ziehen und zu einem enger definierten Verständnis von Geldpolitik zurückkehren. Angesichts der hohen Staatsverschuldung in vielen WWU-Mitgliedsländern wird ein solcher Schritt Mut erfordern. In Anbetracht der Bilanz von Christine Lagarde beim Internationalen Währungsfonds (IWF), wo sie die verhängnisvollen Kredite an die argentinische Regierung von Mauricio Macri bewilligte, scheint es unwahrscheinlich, dass sie in absehbarer Zeit zu einer deutlichen Straffung der Geldpolitik bereit sein wird. Die EZB wird vermutlich bis auf Weiteres eine merkantilistische Geldpolitik betreiben.
Natürlich birgt dieser Ansatz erhebliche Risiken. Die Europäer werden sich zwar nicht gegen die Unterbewertung des Euro gegenüber anderen Währungen auflehnen, aber eine erhebliche Inflation wird politisch gefährlich sein. Insbesondere in Deutschland haben sich die beiden Hyperinflationen des 20. Jahrhunderts, die die Ersparnisse der meisten Bürger vernichtet haben, in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Obwohl die europäische Integration in Deutschland eine breite politische Unterstützung genießt, könnte eine anhaltende Inflation diese Unterstützung untergraben.
Dennoch wird sich die EZB in nächster Zeit nicht mit den Auswirkungen des unterbewerteten Euro befassen, weil es einfach keinen politischen Druck gibt, dies zu tun – zumindest noch nicht. Die europäischen Entscheidungsträger ziehen es vor, die negativen Auswirkungen der Geldpolitik ihrer Zentralbank auf den Rest der Welt zu ignorieren. Gleichzeitig ist Washington so sehr mit dem geopolitischen Konflikt mit der Volksrepublik China beschäftigt, dass es seine europäischen Verbündeten nicht verprellen möchte.
Dieser Artikel ist am 23. Februar unter dem Titel „Europe’s Selfish Monetary Policy“ im Online-Magazin Australian Outlook des Australian Institute of International Affairs erschienen.
Titelbild:
| Jannik Selz / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bild im Text:
| Mika Baumeister / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Heribert Dieter
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm