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Auf dem Weg oder bereits mittendrin?
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Ukraine-Krieg

Auf dem Weg oder bereits mittendrin?

von Prof. Dr. Heribert Dieter | Zeppelin Universität
07.04.2022
Anstatt sich zu fragen, warum die bisherigen Sanktionen, die nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 verhängt wurden, nicht zu dem erwarteten Ergebnis geführt haben, eskaliert der Westen und wird damit zur Konfliktpartei.

Prof. Dr. Heribert Dieter
Gastprofessur Fachbereich Staats- und Gesellschaftswissenschaften
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Heribert Dieter

    Prof. Dr. Heribert Dieter ist seit 2021 Gastprofessor für internationale politische Ökonomie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee, nachdem er diese Gastprofessur bereits von 2013 bis 2019 bekleidet hatte. Seit 2017 ist er zudem außerplanmäßiger Professor an der Universität Potsdam. Zuvor war er Gastprofessor an der University of Hong Kong. Dieter wurde 1961 geboren und forscht zu internationalen Wirtschaftsbeziehungen an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er studierte von 1983 bis 1989 Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin, wo er 2005 auch seine Habilitation ablegte. Zu seinen aktuellen Forschungsvorhaben zählen die Untersuchung von Reformoptionen für die internationalen Finanzmärkte, die Analyse der Perspektiven der Europäischen Währungsunion und monetärer Kooperation in Asien sowie die Betrachtung der Position Deutschlands in der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts.

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Die Länder der EU haben sich für eine indirekte Beteiligung am Ukraine-Konflikt entschieden. Anstatt Truppen zu entsenden, haben sie Waffen geschickt und einen beispiellosen und umfassenden Wirtschaftskrieg begonnen. Wenn Wladimir Putin seine Truppen jedoch nicht zurückziehen sollte, könnte der Krieg in ein katastrophales Szenario münden – der dauerhaften Beteiligung vieler europäischer Länder am Kampf zwischen Russland und der Ukraine.


Die ersten Reaktionen der EU-Länder auf den Einmarsch Putins in der Ukraine waren heftig, aber gleichzeitig auch ohne eindeutige Strategie. Einige der von Europa ergriffenen wirtschaftlichen und finanziellen Maßnahmen sind hart und beispiellos. Das Einfrieren der Guthaben der russischen Zentralbank hat Moskau den Zugang zu seinen Ersparnissen im Ausland verwehrt. Diese Maßnahme untergräbt natürlich auch das Vertrauen in das Finanzsystem des Westens – China und andere potenzielle Gegner werden in Zukunft vorsichtig sein, wenn sie westliche Banken nutzen. Die Finanzsanktionen werden das verstärken, was der ehemalige US-Finanzminister Henry Paulson den neuen „Eisernen Vorhang“ genannt hat. Ironischerweise gibt es eine historische Parallele: Die junge UdSSR stellte im Februar 1918 die Bedienung der Auslandsschulden des zaristischen Russlands ein. Die Kontroverse um diese Anleihen wurde erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 beigelegt.


Doch was ist das Ziel der heutigen wirtschaftlichen Sanktionen? Erreicht werden soll der Rückzug von Putins Truppen aus der Ukraine. Es gibt jedoch kaum Anzeichen dafür, dass er dazu bereit ist. Bei früheren Konflikten hat er lediglich mit Eskalationen reagiert. Der britische Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky hat die richtige Frage gestellt: Sollen die Sanktionen den Krieg beenden oder sind sie lediglich Ausdruck moralischer Entrüstung? In Anbetracht der Tatsache, dass es den EU-Ländern an einer mittelfristigen Strategie mangelt, könnten sie durchaus das Letztere sein.

Wöchentlich demonstrieren hunderttausende Menschen deutschlandweit für Frieden in der Ukraine. Denn die Folgen des Krieges für die gesamte Welt offenbaren sich anderthalb Monate nach Kriegsbeginn immer drastischer. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) rechnet mit Dutzenden Millionen Menschen mehr in Hunger und Armut. „Je nach Dauer des Krieges könnten zwischen 33 und 47 Millionen Menschen zusätzlich in Hunger und Armut abrutschen“, sagte der Direktor des WFP in Deutschland, Martin Frick. Die Zahl der akut Hungernden habe schon vor Beginn des Krieges mit 276 Millionen Menschen auf einem traurigen Rekordniveau gelegen. Hohe Preise bei Kraftstoff, Grundnahrungsmitteln oder Dünger befeuerten diese Entwicklung. Die Ukraine und Russland sind unter anderem wichtige Getreideexporteure, der Krieg Russlands hat daher starke Auswirkungen auf die internationalen Agrarmärkte.
Wöchentlich demonstrieren hunderttausende Menschen deutschlandweit für Frieden in der Ukraine. Denn die Folgen des Krieges für die gesamte Welt offenbaren sich anderthalb Monate nach Kriegsbeginn immer drastischer. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) rechnet mit Dutzenden Millionen Menschen mehr in Hunger und Armut. „Je nach Dauer des Krieges könnten zwischen 33 und 47 Millionen Menschen zusätzlich in Hunger und Armut abrutschen“, sagte der Direktor des WFP in Deutschland, Martin Frick. Die Zahl der akut Hungernden habe schon vor Beginn des Krieges mit 276 Millionen Menschen auf einem traurigen Rekordniveau gelegen. Hohe Preise bei Kraftstoff, Grundnahrungsmitteln oder Dünger befeuerten diese Entwicklung. Die Ukraine und Russland sind unter anderem wichtige Getreideexporteure, der Krieg Russlands hat daher starke Auswirkungen auf die internationalen Agrarmärkte.

Über die militärischen Ziele Putins wird viel spekuliert. Möglicherweise will er nicht das ganze Land erobern und besetzen, sondern die Ukraine dysfunktional machen – vielleicht hofft Putin auf die Absetzung des Regimes und einen anschließenden schwelenden Krieg. Russland ist offensichtlich nicht bereit, das Ziel der ukrainischen Regierung zu tolerieren, das Land zu einem Mitglied sowohl der NATO als auch der EU zu machen.


Da ein dauerhafter Konflikt möglich erscheint, sollten die Länder der EU einen Plan haben. Was werden sie tun, wenn die Sanktionen nicht greifen und Putin seine Truppen nicht zurückzieht? Anstatt sich zu fragen, warum die bisherigen Sanktionen, die nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 verhängt wurden, nicht zu dem erwarteten Ergebnis geführt haben, eskaliert der Westen und wird damit zur Konfliktpartei. Sanktionen haben weder in Nordkorea noch in Kuba oder im Iran zu einer Änderung der monierten Politik geführt. Die früheren, seit 2014 verhängten Sanktionen gegen Moskau haben dazu geführt, dass Russland seine Beziehungen zum Westen abgebaut hat, wodurch ein neuer Konflikt wahrscheinlicher und nicht unwahrscheinlicher geworden ist. Pinelopi Goldberg, ehemalige Chefökonomin der Weltbank, hat gewarnt, dass die harten Wirtschaftssanktionen und die Blockade des russischen Außenhandels den Konflikt nicht beenden, aber den letzten Nagel in den Sarg der multilateralen Handelsordnung schlagen wird.


Gleichzeitig führt die Beteiligung der EU-Länder und der USA vermutlich zu einer Verlängerung des Krieges. Indem die Waffenlieferungen, die Finanzhilfen und die Wirtschaftssanktionen die Ukraine stärker und Russland schwächer machen, wird ein möglicher russischer militärischer Sieg hinausgezögert. Nach den blutigen Interventionen westlicher Länder auf dem Balkan erinnerte der Militärstratege Edward Luttwak 1999 an die Kosten einer gut gemeinten Beteiligung an Konflikten und schlug vor, dem Krieg manchmal „eine Chance zu geben“. Die Entsendung von Ausrüstung und Geld führe zu mehr, nicht zu weniger Leid, argumentierte Luttwak. Damals wie heute ist es kennzeichnend, dass sich ausländische Länder und Organisationen in Kriegssituationen einmischen, sich aber weigern, direkt in die Kampfhandlungen einzugreifen. Die europäischen Gesellschaften können die schockierenden Bilder der russischen Invasion nicht ertragen, aber es gibt wenig Bereitschaft, eigene Truppen zu entsenden.

Für die Länder der EU gibt es im Grunde zwei Möglichkeiten, die beide radikal sind. Die erste wäre, Russland den Krieg zu erklären. Die zweite wäre, nichts zu tun, außer die ukrainischen Flüchtlinge zu unterstützen. Die erste Option ist natürlich selbstmörderisch. Russland verfügt über genügend Atomwaffen, um den europäischen Kontinent auszulöschen, und wird von einem Politiker geführt, der zur Eskalation bereit ist. Keine verantwortungsvolle Regierung in der Europäischen Union darf dieses Risiko eingehen. Auch die zweite Option ist derzeit unmöglich. Die europäischen Gesellschaften sind über die russische Invasion empört und wollen sowohl ihre Wut als auch ihre Bereitschaft, der russischen Aggression entgegenzutreten, demonstrieren.


In vielen, wenn nicht gar den meisten europäischen Gesellschaften liegt ein Hauch von 1914 in der Luft, verbunden mit einem gewissen McCarthyismus. Obwohl es noch keine Kriegsbegeisterung gibt, zeigen die Europäer eine überraschende Bereitschaft, die Ukraine in vielerlei Hinsicht zu unterstützen. Der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire versprach, der Westen werde „einen totalen wirtschaftlichen und finanziellen Krieg gegen Russland“ führen, eine Äußerung, die er später zurückzog. Anfang März forderten einige deutsche Nachwuchspolitiker eine direkte militärische Unterstützung der Ukraine für den Fall, dass Russland bestimmte rote Linien überschreitet, zu denen auch Angriffe auf Zivilisten gehören. Oppositionsführer Friedrich Merz forderte, dass die NATO eingreifen müsse, wenn Russland weiterhin Atomkraftwerke angreife. Überall auf der Welt müssen die Russen öffentlich erklären, dass sie die Invasion verurteilen – oder sie werden entlassen. Der deutsche Einzelhändler Aldi hat in Russland hergestellten Wodka aus dem Sortiment genommen. Die meisten europäischen Unternehmen haben ihre Geschäfte in Russland eingestellt.


Gleichzeitig gibt es kaum eine Debatte über die Ursachen des Konflikts. Die ukrainische Regierung und ihre Führer werden verehrt. Mögliche politische Fehler des Westens werden nicht in Betracht gezogen. Die Warnungen sowohl des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder als auch von John Mearsheimer, einem amerikanischen Wissenschaftler, der der realistischen Denkschule angehört, werden ignoriert. Beide haben nach der Annexion der Krim gewarnt, dass es Diskussionen über die Sicherheitsarchitektur in Europa geben muss – und diese Gespräche müssten Russland einschließen.

Auf der Flucht: Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sind bisher mehr als 315.000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine von der Bundespolizei in Deutschland erfasst worden; täglich kommen rund 3.000 Schutzsuchende hinzu. Das teilte das Bundesinnenministerium am 7. April auf Twitter mit. Nachdem die Zahl der Neuankömmlinge im März teilweise bei über 15.000 Menschen pro Tag gelegen hatte, kommen inzwischen deutlich weniger Flüchtlinge an. Allerdings können Ukrainer visumsfrei einreisen, sodass die Zahl der Kriegsflüchtlinge, die in Deutschland Schutz gesucht haben, tatsächlich höher liegen dürfte. Auch die Weiterreise in andere EU-Staaten wird, da an den Binnengrenzen keine festen Grenzkontrollen vorgesehen sind, in der Regel nicht dokumentiert.
Auf der Flucht: Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sind bisher mehr als 315.000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine von der Bundespolizei in Deutschland erfasst worden; täglich kommen rund 3.000 Schutzsuchende hinzu. Das teilte das Bundesinnenministerium am 7. April auf Twitter mit. Nachdem die Zahl der Neuankömmlinge im März teilweise bei über 15.000 Menschen pro Tag gelegen hatte, kommen inzwischen deutlich weniger Flüchtlinge an. Allerdings können Ukrainer visumsfrei einreisen, sodass die Zahl der Kriegsflüchtlinge, die in Deutschland Schutz gesucht haben, tatsächlich höher liegen dürfte. Auch die Weiterreise in andere EU-Staaten wird, da an den Binnengrenzen keine festen Grenzkontrollen vorgesehen sind, in der Regel nicht dokumentiert.

Heute fällt es viel einfacher, sich vorzustellen, dass Europa in einen langwierigen Konflikt schlittert, als einen Ausweg aus diesem zu finden. Nach der Entsendung von „Verteidigungswaffen“ ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Bereitstellung von Militärberatern. Ein paar schreckliche Angriffe russischer Truppen könnten den Ruf nach einer aktiven Beteiligung entfachen. Heute haben sich die westlichen Länder erneut für eine Beteiligung an einem Konflikt ohne klare Strategie entschieden. Die Parallelen zu Vietnam sind offensichtlich: Als die Präsidenten Eisenhower und Kennedy in den 50er und frühen 60er Jahren ihre Unterstützung für Südvietnam ausweiteten, hofften sie fraglos, dass das Engagement der USA zeitlich und vom Umfang her begrenzt sein würde.


Die Begeisterung in Deutschland, wo eine massive Ausweitung der Ausgaben für die Streitkräfte von allen Parteien mit Ausnahme der extremen Linken und der extremen Rechten unterstützt wird, ist besonders überraschend. Der Economist spottete, dass die Deutschen ihre Haltung zu internationalen Konflikten wieder einmal geändert haben und nun Pflugscharen zu Schwertern machen wollen. Selbst die Grünen haben ihren Kampf für Klimaneutralität verschoben und sind bereit, ein Wettrüsten zu tolerieren. Sie erwogen für einen Moment sogar die Ausweitung der zivilen Nutzung der Kernenergie. Wenn man bedenkt, dass sowohl Putin als auch seine Gegner im Westen noch nicht die geringste Idee zu haben scheinen, wie der Konflikt gelöst werden könnte, gehen Europa schnell die Optionen aus. Europa schlittert in Richtung einer Beteiligung an einem möglicherweise langwierigen Krieg.


Dieser Artikel ist am 4. April unter dem Titel „Is Europe Sleepwalking Into a Long Conflict?“ im Online-Magazin Australian Outlook des Australian Institute of International Affairs erschienen.

Titelbild: 

| Anastasiia Krutota / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

| Ivan Bandura / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link

| Kevin Bückert / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Heribert Dieter

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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